
Kapitel 34 - Forderungen
Kapitel 34 - Forderungen
– Julie –
La Push, Juni 2010
Mit großen Augen starrte ich Paul an.
Es fühlte sich an wie damals, als ich mit ihm auf der Lichtung bei Sams Hütte gesessen hatten, damit er mir all die unglaublichen Dinge über unseren Stamm und sich selbst erzählen konnte.
Wieder war ich sprachlos, wieder hatte ich mir verboten irgendetwas zu hinterfragen und hatte bloß resigniert zugehört.
Als Paul allerdings endlich all seine Erzählungen und mehr oder weniger unterschwelligen Warnungen beendet hatte, gab es kein Halten mehr.
„Sie will Bella töten?", entfuhr es mir überraschend schrill, doch es auszusprechen machte diese Tatsache bloß noch schrecklicher.
Gefasst nickte Paul.
„Und da sitzt du so ruhig hier rum?", platzte es sofort weiter aus mir heraus. „Solltet ihr nicht –"
„Der Kampf ist in zwei Tagen, Julie", versuchte Paul wieder ruhig auf mich einzureden. „Und ich will dich in dieser Zeit wirklich nicht hier wissen. Es ist gefährlich."
Es war gefährlich - wie gefährlich wurde mir jedoch erst jetzt bewusst.
Ich hatte inzwischen begriffen, dass es Gestaltwandler und Vampire gab, doch dass es sich bei diesen Wesen nicht nur um irgendwelche unliebsamen Cliquen handelte und es in diesen nur um Prägungen ging, hatte ich bislang nicht sehen wollen.
„Bring mich zu Bella", hörte ich mich stur sagen und überging Pauls Worte damit vollkommen. „Ich will zu ihr."
Vielleicht fehlte mir die Fähigkeit, die Lage einzuschätzen und vielleicht war ich auch unsagbar naiv, doch ich wollte Bella in dieser Situation nicht allein lassen.
Ich hatte schon vorher mit ihr reden wollen und ich wollte es auch jetzt – womöglich sogar noch dringender als zuvor.
Diese Vampire waren Monster – Mörder – und sie lebte mitten unter ihnen, wollte vielleicht sogar eine von ihnen werden. Ich musste unbedingt mit ihr reden.
„Das – Das – Bist du verrückt?", schüttelte Paul beinahe unter Schnappatmung den Kopf. „Die Cullens werden Bella weg von hier, in die Berge, bringen. Nichts an dieser ganzen Sache ist gut für dich, Julie. Bella ist das Ziel dieser Armee. Du solltest nicht in ihrer Nähe sein – und mir ist auch nicht wohl dabei, dich in der Nähe der Cullens zu wissen, um ehrlich zu sein."
„Wobei dir wohl ist, ist hier auch nicht die Frage", fuhr ich Paul unkontrolliert an.
Es ging mir schlicht gegen den Strich, wie sehr er immer wieder seine Sorge betonte – bis mir der Gedanke kam, dass ebendiese nahezu verpflichtende Sorge mir gegenüber auch zu meinem Vorteil ausgelegt werden konnte.
Er war auf mich geprägt worden und selbst wenn ich nicht gänzlich verstehen konnte, was das zu bedeuten hatte, hatte ich das grundlegende Konzept doch begriffen.
„Bring mich zu Bella", forderte ich nachdrücklich und sah Paul auffordernd an.
Es war nach wie vor verrückt, wie sich die Hierarchien in unserer Beziehung zu einander verändert hatten.
Ich hatte plötzlich die Oberhand, die ich niemals wollte. Alles, was ich mir früher immer gewünscht hatte war, dass wir uns auf Augenhöhe begegnen würden – mit Respekt.
Doch nun hatte ich die Macht über ihn, er konnte mir keinen Wunsch abschlagen.
„Das ist ein Kampf, Julie. Ein richtiger Kampf, kein Kindergarten – mit Strategien, Plänen und Opfern. Ich hätte nie gedacht, dass ich das jemals sagen würde, aber bitte geh' wieder nach LA", flehte Paul regelrecht. „Wer weiß, ob diese Hochzeit nächste Woche überhaupt tatsächlich stattfinden wird. Niemand hat das kommen sehen."
Doch an meiner Entscheidung war nichts mehr zu ändern. Immerhin hatte Paul selbst gesagt, dass der Kampf erst in zwei Tagen stattfinden sollte.
„Bring mich zu Bella, Paul."
So ungern ich diese Karte auch ausspielte, war es an diesem Tag an der Zeit.
„Du weißt, dass du es tun musst."
Widerwillig wich Paul meinem fordernden Blick aus und starrte stattdessen aufs Meer vor uns, ehe er gequält seufzte.
„Ich glaube, du hast keine Vorstellung, was du mir hier gerade antust."
Konzentriert achtete ich darauf, keine Regung in meinem Gesicht zuzulassen.
Einen letzten Versuch startete Paul dennoch.
„Du musst dir keine Sorgen um Bella machen. Jacob wird selbst in den Bergen bei ihr sein, genau wie Edward. Und weil Sam Edward nicht traut, hat er sogar noch Embry und Quil angewiesen, mitzukommen."
Ich musste mich kein weiteres Mal wiederholen, ich warf Paul nur einen vielsagenden Blick zu und stand Sekunden später vor ihm aufrecht auf den Beinen.
„Komm, du weißt, wo sie jetzt ist", forderte ich ihn auf. „Gehen wir."
Erst beim letzten Wort aus meinem Mund regte sich etwas in Pauls Körper, ebenso wie in seinen Augen.
Wir – für diesen kurzen Moment gab es ein wir. Ich war auf ihn angewiesen, er war einer der Wenigen, die wussten, was in diesem Ort vor sich ging und für dieses eine Mal mussten wir zusammen sein.
„Sie ist bei den Cullens, Julie."
Pauls Worte klangen wie ein Warnung, doch trotzdem rappelte auch er sich auf.
„Dann gehen wir zu den Cullens", zuckte ich unbeeindruckt mit den Schultern und fing mir einen skeptischen, aber resignierten Blick seitens Paul ein.
Ich versuchte mit aller Kraft, stark und überzeugt zu wirken. Dass mir allein beim Gedanken an eine Familie von Vampiren und einem bevorstehenden Kampf auf Leben und Tod der Hintern auf Grundeis ging, galt es tunlichst zu überspielen.
Pauls Blick jedoch war so intensiv, dass ich mir fast sicher war, er konnte hinter meine Fassade blicken.
„Wir fahren", murmelte Paul schließlich nach kurzer Überlegung und nickte mir leicht zu, ehe wir zu meiner Überraschung den Weg zu den Blacks einschlugen.
„Wir nehmen Jakes Wagen", erklärte Paul noch ehe ich meine Frage stellen konnte und schon den alten VW Golf vor dem rot gestrichenen Bungalow sah. „Den kennen die Cullens wenigstens und sie wissen. Wer weiß, was in sie fährt, wenn plötzlich ein fremdes Auto und ein Mensch in ihrer Auffahrt steht."
Pauls Worte klangen bissig und verbittert, womit mir nur noch mulmiger zumute wurde.
Einverstanden nickte ich.
„Ich dachte, Jake wäre schon bei Bella?", fragte ich verwirrt, als ich auch noch Jacobs Motorrad auf dem Grundstück der Blacks liegen sah.
„Ist er", nickte Paul wieder. „Allerdings... zu Fuß."
Um ein Haar hätte ich nachgehakt, wie Jacob eine solche Strecke bis nach Forks zu Fuß zurücklegen konnte, doch glücklicherweise fiel der Groschen noch vor dieser unnötigen Frage.
Dass er und auch Paul sich in diese Kreaturen verwandeln konnten, wollte immer noch nicht gänzlich in meinen Kopf.
„Da gibt es vermutlich Einiges, auf das ich dich vorbereiten sollte", riss mich Paul aus meinen Gedanken, als ich sogar schon auf dem Beifahrersitz saß und immer noch versuchte, die Situation gänzlich zu erfassen.
Nicht nur, dass dieser Kampf stattfinden sollte – zu meinem Entsetzen ging mir auch immer wieder durch den Kopf, wie irrsinnig es war, dass ich hier mit Paul saß und wie verwirrend und schmerzhaft die Situation auch für ihn sein musste. Und das, obwohl ich im Moment weitaus Wichtigeres im Kopf haben sollte.
„Wie vertraut bist du mit den Cullens?", fragte Paul. „Also mit ihren Eigenheiten."
„Naja."
Kurz dachte ich nach, doch Bella hatte jedes Mal geschickt vermieden, Näheres über Edwards Familie zu erzählen. Bis heute hatte ich noch nicht einmal Edward zu Gesicht bekommen – immerhin hatte ich meine eigenen Baustellen gehabt, nachdem ich in die Geheimnisse des Stammes eingeweiht worden war.
Ich wusste von den Verhältnissen, die unter den Cullens herrschten, doch nichts von irgendwelchen Eigenheiten.
„Ich bin nur mal Edwards Vat.. – also, dem Arzt begegnet", überlegte ich laut und kam mit den genaueren Bezeichnungen der Familienverhältnisse ins Schleudern.
Das Aufeinandertreffen mit Carlisle Cullen hatte jedoch durchaus Eindruck hinterlassen. Er hatte eine wahnsinnig eigene und vor allem auch angenehme, gar beruhigende Ausstrahlung gehabt.
Wobei ich ihn sicherlich anders wahrgenommen hätte, hätte ich damals schon gewusst, was er tatsächlich war.
„Ansonsten hat Bella nie was erzählt."
„Verständlicherweise", schnaubte Paul und starrte gebannt auf die Straße vor uns, ehe er mir etwas über die seltsame Vampir-Familie in den Wäldern bei Forks erzählte.
„Es gibt da ein paar Sachen, Julie. Ich weiß nicht, wem wir begegnen müssen, aber Edward kann und wird deine Gedanken lesen, also halt sie unter Kontrolle. Und Jasper, der schmächtigere und der mit dem irrsten Blick von allen, fühlt, was du fühlst und kann dich auch manipulieren. Grundsätzlich würde ich sagen, vertrau einfach nichts und niemandem, egal was dort passiert."
Ohne weiter nachzuhaken, nahm ich auch diese Informationen wieder bloß hin und nickte verstehend.
Ich wollte nicht zu den Cullens, ich wollte bloß zu Bella und mit ihr sprechen.
Sie war der einzig normale Mensch – nein, sie war sogar der einzige Mensch, der mit mir in all diesen Mythen und Geheimnissen steckte.
Ich wollte endlich aus ihrer Sicht und aus ihrem eigenen Mund hören, was in den letzten Monaten passiert war und wie es ihr ging.
„Und außerdem", redete Paul vorsichtig weiter. „Für mich ist es unsagbar schwer, mich in ihrer Gegenwart nicht zu verwandeln. Ich geb' mein Bestes, aber ich will nicht, dass du dich im schlimmsten Fall erschreckst."
Wieder nickte und schluckte ich zugleich. Ich hatte Paul nur einmal als diese Bestie gesehen und schon das war einmal zu viel.
„Aber vermutlich fällt es mir in der jetzigen Situation eh leichter", murmelte Paul leise vor sich hin.
Fragend sah ich ihn an.
„Weil ihr jetzt doch auf derselben Seite kämpft?"
„Weil du bei mir bist und ich nicht will, dass du dich noch unwohler fühlst."
Stur starrte ich auf die Straße und biss mir noch während Paul sprach auf die Zunge. Wieso hatte ich auch fragen müssen?
Sofort herrschte wieder diese unsäglich unangenehme Spannung zwischen uns. In meinem Magen zog sich etwas zusammen, von dem ich noch nicht einmal definieren konnte, worin es seinen Ursprung hatte. Fakt war jedoch, dass mir die Situation in diesem Wagen schrecklich zusetzte.
Mit eisernem Schweigen zwischen uns näherten wir uns schließlich auf Serpentinen dem überraschend modernen Haus der Cullens. Kurz schoss noch durch meinen Kopf, dass hier überraschend viel mit Glas gearbeitet wurde, dafür, dass sich diese Familie für gewöhnlich so strikt bedeckt halten wollte – doch schnell rückten solche Details in den Hintergrund.
„Da ist Jake", sprach ich das Offensichtliche aus, als ich meinen alten Freund vor dem Haus stehen sah und er uns augenscheinlich schon erwartete.
Ich hatte ihn eine ganze Weile nicht mehr gesehen und erschreckenderweise sah er nur um ein Minimum weniger elend aus als der Kerl neben mir im Wagen.
„Er hat uns gehört", erklärte Paul in monotoner Tonlage, während er den alten VW Golf unachtsam vor dem Haus abstellte.
„Was wollt ihr denn hier?", rief uns Jacob auch schon entgegen, kaum hatte ich die Beifahrertüre einen Spalt geöffnet.
Anstelle von mir antwortete Paul.
„Sie will zu Bella."
„Ich hab's fast geahnt, dass es nicht du bist, der hier auf ein Pläuschchen vorbeischaut", zischte Jacob scharf zurück.
Perplex musterte ich Jacob. Anscheinend stand hier im Moment jeder unter Anspannung und in dem sonst so vernünftigen, besonnenen Menschen schlummerte auch eine gereizte Diva.
„Sorry", ruderte er sofort zurück und richtete seinen Blick nun auf mich. „Ich würde mich wirklich gerne freuen dich zu sehen, aber mein Kopf ist gerade ganz woanders", seufzte er entschuldigend, was ich auch nur recht halbherzig zur Kenntnis nahm.
Meine Aufmerksamkeit galt stattdessen Bella, die gerade aus dem Haus kam und mich mit großen Augen ansah – und vor allem auch dem Kerl, der wie ein Schutzengel hinter ihr stand.
Ich hatte keine Zweifel, dass dies das erste Mal war, dass ich Edward Cullen mit meinen eigenen Augen sah und an die Kontrolle meiner Gedanken war gar nicht mehr zu denken.
Er schien so perfekt. So elend Jake und Paul derzeit aussahen, so vollkommen schien er in allem, was er tat und allem, was ihn umgab – von den hohen Wangenknochen, bis hin zu seinen makellosen Gesichtszügen.
Vom ersten Moment an war mir klar, was Bella an ihm fand - zumindest rein optisch.
Erst Pauls lautes Räuspern riss mich wieder aus meiner Starre und sofort war mit der Ernst der Lage wieder bewusst geworden.
Als ich einen kurzen Blick über meine Schulter auf Paul warf, bemerkte ich die Anspannung in seinem Körper.
„Deine Gedanken", rief er mir durch zusammengepresste Lippen in Erinnerung und schien angestrengt die Luft anzuhalten.
Mir ging so unsagbar viel durch denk Kopf, dass mir Edward beinahe leid tat, falls er dieses Chaos tatsächlich mitbekommen würde. Ich konnte mich selbst nicht sortieren, konnte keinen einzigen klaren Gedanken fassen.
Unter Edwards starrem, schützenden Blick sah ich nun Bella auf mich zulaufen.
„Du bist hier!", stellte sie fest und schien die Einzige der hier Anwesenden sein, die sich zumindest freute, mich zu sehen. Mit offenen Armen drückte sie sich an Jacob vorbei und umarmte mich fest.
„Naja, ursprünglich ja wegen deiner Hochzeit, aber.."
„Aber das Leben hier spielt mal wieder verrückt", nickte sie verständnisvoll, als sie meine überforderte Tonlage bemerkte.
Ich musste mich endlich zusammenreißen – schließlich war ich es, die unbedingt hierher kommen und einige Worte mit Bella wechseln wollte.
Prüfend sah diese sich inzwischen nach Edward um, der einige Meter Sicherheitsabstand zu uns – womöglich auch zu Paul – wahrte.
„Wir haben noch ein wenig Zeit, nicht?", fragte sie nach und sah zuerst ihren Verlobten, dann Jacob an. „Könnt ihr uns bitte kurz allein lassen?"
„Nur, wenn der da auch verschwindet", war es Paul, der hasserfüllt hinter meinem Rücken antwortete und die Worte förmlich ausspuckte.
Unbeeindruckt blieb Edwards Gesicht starr.
„Ich und die anderen sind im Haus", sagte er dann mit klarer Stimme und nickte kaum merklich, ohne eine Miene zu verziehen. „Wir sind sofort da, wenn irgendetwas ist."
Blitzschnell war er schon im nächsten Moment verschwunden und ich sah nur mehr einen verschwommenen Fleck zurück ins Innere des Hauses huschen.
„Komm, Paul", brummte dann auch Jake und setzte sich in Bewegung. „Lassen wir sie allein, aber wir bleiben in der Nähe."
Schnellen Schrittes stapfte er an uns vorbei und nickte in Richtung der dichten Bäume, um seinem Kameraden anzuzeigen, dass er ihm folgen sollte.
Ein widerwilliges Grunzen war alles, was ich von Paul hörte, ehe sich dann aber auch seine Schritte schnell entfernten.
Er wusste, dass es das war, was ich wollte und was ich von ihm verlangt hatte – ich wollte ungestört mit Bella sprechen und das hatte er zu akzeptieren, so schwer es ihm auch fallen mochte.
„Nicht zu sehr in der Nähe, ja?", rief Bella den beiden noch streng hinter. „Wir wissen um euer Gehör!"
„Jaja", versicherte ihr Jacob noch seufzend, als er gemeinsam mit Paul in die Tiefen des Waldes hineinlief und ich damit endlich meine langersehnten Unterhaltung mit Bella führen konnte.
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