
10 ─ Zwanzig Jahre
LÄCHEL DOCH MAL
10 — Zwanzig Jahre
❝ Und du bist wegen Sachen von
vor zwanzig Jahren depressiv. ❞
pov ⸻ nico
[Vergangenheit; März 2003]
»Wenn das in Mathematik so weitergeht, Nico, sehe ich echt schwarz für dein Abitur!«
Schule? Ganz ehrlich, im Moment so ziemlich das Letzte, was mich interessierte.
»Nico?«, versuchte sie's nochmal, diesmal mit so 'nem bemüht ruhigen Ton. Ich beschloss, sie noch 'n bisschen weiter zu ignorieren. Aus Prinzip.
»Nico!« Jetzt wurde sie lauter. Genervter.
Ich zuckte kurz zusammen – reiner Reflex, versteht sich – und drehte mich dann betont langsam zu ihr um. Widerwillig, klar.
»Ja, Frau Kaminski?«, fragte ich mit meiner besten Unschuldsmiene, die klarstellen sollte, dass ich selbstverständlich jedes Wort verstanden hatte.
Sie seufzte – vermutlich mehr aus Verzweiflung über mich als wegen ihrer pädagogischen Verantwortung. »Du weißt, dass das nicht so weitergehen kann, oder? Wenn du diese Fünf in Mathe nicht loswirst, kannst du das mit dem Abitur vergessen. Dann war's das. Endgültig!«
Natürlich wusste ich, dass die Fünf in Mathe 'n Problem war. Aber wie sollte ich das ändern?
Tja, gute Frage, nächste Frage.
Nach der Notenbesprechung kam zum Glück direkt die Pause. Ich war einer der Letzten gewesen, die rausdurften, und landete deshalb bei den Rauchern unter dem kleinen Vordach, wo sie sich vor dem Regen in Sicherheit brachten.
Ich stellte mich 'n Stück abseits, zündete mir 'ne Zigarette an und zog mein Handy aus der Tasche.
Maxim
Hi, heute kein Bandtreffen, oder?
Ich tippte die Antwort ein, irgendwie halb enttäuscht. Ich hätte heute viel lieber Musik gemacht, aber seit dem Vorabi war alles 'n einziges Chaos. Vor allem Sil-Yan – der war komplett im Panikmodus, als würde jede Sekunde, die er nicht lernte, sein Leben ruinieren.
Ehrlich gesagt? Mir war's egal. Lernen konnte ich immer noch. Irgendwann. Vielleicht.
Nico
Hi. Nein, erst am Samstag.
Wollen wir uns dann so treffen?
Maxim
Okay, wollte stattdessen lernen.
Kannst ja mitmachen? :)
Ach, fickt euch doch alle mit eurem Lernen. Natürlich wollte ich nicht mitmachen.
Lernen in Gruppen lief eh nie so, wie man dachte. Am Ende saß man da, laberte Blödsinn, machte 'n bisschen Mathe und ging mit dem Gefühl nach Hause, dass man trotzdem nichts kapiert hatte.
Nico
Nee, dann lass mal.
Darauf kam erstmal keine Antwort. Soll er doch seinen beschissenen Lernkram machen. Mir egal.
Nach'm Unterricht nahm ich keine Umwege, keine Pause – gar nichts. Direkt nach Hause.
Irgendwie wollte ich mich einfach nur noch ins Bett verkriechen und am besten nie wieder rauskommen. War doch eh alles für'n Arsch.
Zuhause war es wie immer: Irgendwer schrie, irgendwer quengelte, irgendwas flog fast aus'm Fenster. Schon beim ersten Schritt in den Flur hätte ich am liebsten direkt wieder kehrtgemacht.
Ich seufzte, riss mich zusammen – und blieb. Weglaufen hatte eh keinen Sinn.
In Zeitlupe zog ich meine Jacke aus, stellte meine Schuhe in die Ecke und lauschte dem Drama, das sich irgendwo in der Wohnung abspielte.
Meine Mutter war wieder am Ausrasten – ihre Stimme hatte diesen typisch hysterischen Unterton. Aber dann hörte ich Paul dazwischen jammern, und ich konnte kurz aufatmen.
Mit 'nem kleinen Anflug von Schadenfreude tapste ich in die Küche. Meine Mutter stand da, wild gestikulierend, mit 'nem Kochlöffel in der Hand, das volle Klischee und fauchte irgendwas auf meinen kleinen Bruder ein, der vor ihr stand und verzweifelt versuchte, sich rauszureden.
»Na, Paulchen, was hast du denn diesmal angestellt?«, fragte ich grinsend, als kurz Ruhe einkehrte. Mit verschränkten Armen lehnte ich mich lässig an den Türrahmen und sah ihm dabei zu, wie er bei meinen Worten zusammenzuckte.
»Halt die Klappe, Nico!«, fauchte er zurück, schoss mir 'nen mörderischen Blick zu und wandte sich dann wieder unserer Mutter zu, die ihn nun fast schon enttäuscht anstarrte.
»Du bist deinem Bruder ein wirklich schlechtes Vorbild, Nico!«, zischte sie plötzlich.
Ich schnappte gespielt empört nach Luft. »Ich?!«, fragte ich, zeigte mit 'm Finger auf mich und machte 'nen Schritt nach vorne. »Ich wollte nie 'n Vorbild sein. Wenn er unbedingt irgendwas von mir abschauen will, ist das nicht mein Problem.«
Ehrlich – keine Ahnung, was Paul sich dabei dachte. Selbst mir war klar, dass das, was ich so machte und anstellte, selten 'ne gute Idee war.
»Was war's denn diesmal?«, fragte ich neugierig, wobei ich mir das Grinsen nicht verkneifen konnte. Zum Glück war mein Stiefvater noch nicht von der Arbeit zurück. Mit ihm wäre das hier garantiert komplett eskaliert. »Wieder heimlich rauchen?«, setzte ich noch einen drauf.
Er schüttelte stur den Kopf, vermied aber, mich anzusehen. »Was dann?«, bohrte ich weiter nach.
Je mehr er meinen Blick mied, desto sicherer war ich, dass es irgendwie mit mir zu tun hatte.
»Sag es ihm selbst, Paul«, befahl meine Mutter streng und fuchtelte mit dem Kochlöffel entschieden in meine Richtung.
Ich zog die Augenbrauen hoch und wartete. Auf 'ne Antwort, eine Reaktion – irgendwas.
»Tut mir leid ...«, murmelte er schließlich, immer noch meinen Blick meidend.
»Was tut dir leid?«, fragte ich mit Nachdruck.
Jetzt sah er endlich auf – trotzig vielleicht, aber immerhin sah er mich an.
»Ich ... ich habe deinen Ausweis ...«, begann er, stockte aber und biss sich auf die Lippen.
»Was hast du?«, fragte ich, diesmal 'n Stück lauter. Die Ahnung, was jetzt kommen würde, machte sich bereits unangenehm breit.
Meine Mutter warf ihm 'nen warnenden Blick zu, aber Paul druckste nicht mehr lange herum. »Ich hab deinen Ausweis genommen, um Alkohol und Kippen zu kaufen«, brachte er schließlich heraus.
Mir klappte der Mund auf. »Du hast was?!«, rief ich ungläubig, vielleicht 'n bisschen zu laut.
So 'n mieser kleiner Pisser. Und dann nicht mal fragen! Ich hätt ihm doch alles gekauft. Hab ich doch immer für ihn gemacht. Freiwillig. Aber so?
Ich wollte gerade den Mund aufmachen, um irgendwas zu sagen – oder besser: um meinen Bruder ordentlich zusammenzuscheißen –, da hörte ich die Wohnungstür aufgehen.
Mir war sofort klar, dass es niemand anderes als mein Stiefvater sein konnte.
Meine Mutter warf uns 'nen warnenden Blick zu, zischte etwas von »Das klären wir später!« und scheuchte uns hastig aus der Küche.
Dass mein Stiefvater unser gemeinsames Problem war, war nichts Neues.
Er liebte uns – Paul und mich – nicht, sondern ertrug uns höchstens, weil er musste. Und wir wussten, dass Mama nur bei ihm blieb, weil er der Einzige war, der uns finanziell über Wasser hielt.
Das hatte längst keine Romantik mehr, sondern war 'ne reine Zweckgemeinschaft. Deshalb blieb vieles einfach zwischen uns dreien – es sei denn, er bekam es mit. Oder provozierte es selbst.
»Hallo«, sagte er knapp, sein Ton war so fest und emotionslos, dass ich nicht einmal 'n halbherziges Lächeln erwidern konnte. Er ging direkt an mir vorbei, musterte mich kurz mit dem gewohnten verächtlichen Blick, den er auch Paul zuwarf, bevor er sich meiner Mutter zuwandte.
Mama stand am Herd und rührte im Essen herum, als hätte sie die letzten Minuten nichts anderes getan. Sie drehte sich um, begrüßte ihn mit 'nem übertriebenen Tonfall, der mich fast zum Kotzen brachte, und begann, belanglos mit ihm zu reden.
Ich nutzte die Chance und verzog mich schnell in mein Zimmer – ohne zu checken, dass mein Bruder mir direkt auf'n Fersen war. »Nico, warte doch mal!«, rief er mir hinterher, aber ich hatte keinen Bock auf irgendeine Diskussion mit ihm.
»Lass mich in Ruhe!«, zischte ich genervt und wollte ihm die Tür direkt vor der Nase zuknallen. Doch zu spät – er war schon reingeschlüpft und hatte sie selbst hinter sich zugezogen
»Du bist so 'n Pisser!«, fauchte ich und schubste ihn leicht gegen die Brust. Es war nicht mal der Ausweis an sich, der mich störte – ich hätte ihm das Ding ohnehin gegeben, wenn er gefragt hätte.
»Hättest mich doch einfach fragen können! Ich besorg dir doch immer alles!«, fauchte ich, leise genug, dass uns draußen niemand hören konnte.
Er funkelte mich wütend an. »Ich wollte nicht wieder betteln!«, zischte er scharf zurück.
»Wäre doch scheißegal gewesen!«, zischte ich genauso leise und genauso scharf zurück.
Was 'n Idiot, ehrlich.
»Wie hat Mama das überhaupt rausgefunden?«, fragte ich schließlich, während ich ihn kritisch musterte. Paul verdrehte nur genervt die Augen. »Sie hat den Wodka gefunden und dann meine Tasche durchsucht«, murmelte er beschämt.
Ich schüttelte den Kopf und brach in 'n trockenes Lachen aus. »Du bist echt 'n Idiot, weißt du das?«
Er zuckte mit den Schultern, sagte aber nichts. »Bekomm ich den wenigstens wieder?«, fragte ich dann und streckte demonstrativ die Hand aus.
Ehrlich – ich hatte nicht mal mitbekommen, dass der überhaupt weg war.
»Ja ...«, murmelte Paul, griff in seine Hosentasche und zog tatsächlich meinen Ausweis hervor.
»Danke«, zischte ich, riss ihm das Ding aus der Hand und steckte es weg. »Frag das nächste Mal einfach«, sagte ich, diesmal ernst, »aber nicht in nächster Zeit. Das hast du dir schön verbockt.«
»Du bist so ein Arsch, Nico! Du kannst mich mal, ehrlich!«, feuerte er bockig zurück.
Ich starrte ihn empört an. »Nenn mich nochmal so, wenn du das nächste Mal Kippen oder Alkohol willst – dann kannst du warten, bis du achtzehn bist, Kumpel!«, zischte ich und wandte mich ab.
Genervt griff ich in meine Hosentasche, zog 'ne Zigarette raus und zündete sie mir an.
Und ja, ich tat's in meinem Zimmer – war mir egal, meinen Eltern mittlerweile auch.
Ich sah, wie Paul den Mund öffnete, bereit, irgendeinen Kommentar loszulassen – da klopfte es leise an der Tür. Keine Sekunde später schob unsere Mutter den Kopf durch den Türspalt.
»Kommt ihr essen, Jungs?«, fragte sie in 'nem bemüht freundlichen Ton, als wäre ihre vorherige Wut komplett verpufft. Ihr Blick fiel kurz auf die Kippe in meiner Hand, und ich zog demonstrativ noch einmal daran. Sie verzog leicht das Gesicht, sagte aber nichts – und zog die Tür wieder zu.
»Fick dich, Nico«, murmelte Paul, bevor er die Tür aufmachte und ihr folgte.
»Fick dich, Nico«, äffte ich ihn leise nach, zog noch einmal tief an meiner Kippe und drückte sie dann wie gewohnt im überquellenden Aschenbecher auf der Fensterbank aus – für später, natürlich.
Mit 'nem genervten Seufzen schleppte ich mich schließlich auch zurück in die Küche.
Wie erwartet saß mein Stiefvater bereits am Tisch – mit diesem Gesichtsausdruck, der suggerierte, dass sich die ganze Welt gegen ihn verschworen hatte. Er wartete stumm, bis Mama ihm genug Essen auf den Teller geschaufelt hatte.
Widerwillig ließ ich mich auf meinen gewohnten Platz gegenüber von ihm fallen.
»Irgendwas Neues, Jungs?«, fragte er plötzlich, und zwar in 'nem Ton, der fast nach Interesse klang. Paul und ich tauschten irritierte Blicke.
»Nö, nichts Neues«, antwortete dieser schließlich knapp und stürzte sich direkt auf seinen Teller, kaum dass er vor ihm stand. Mit seiner Gabel hackte er sich wortlos durch die Kartoffeln.
Mein Stiefvater nickte nur und richtete dann seinen Blick prüfend auf mich. Ich schluckte kurz.
Klar, war da was – zum Beispiel diese beschissene Fünf in Mathe, die mich das Abitur kosten könnte.
Aber das? Ging ihn nichts an.
Und sonst? Eigentlich nichts Neues.
Alles so beschissen wie immer.
»Auch nichts Neues ...«, murmelte ich schließlich und griff nach'm Wasserglas vor mir – nur um der blöden Konversation zu entkommen.
Natürlich glaubte er mir nicht. Vertrauen? Bei dem Mann? Fehlanzeige. Er schien mich immer für unfähig zu halten, egal was ich sagte oder tat.
»Solltest du nicht fürs Abitur lernen?«, fragte er dann, während er sich genüsslich was in den Mund schob. Als hätte er jemals eins gemacht.
Ich zuckte nur mit den Schultern. »Kann sein ...«, murmelte ich und stocherte lustlos im Spinat herum. Döner wäre mir lieber gewesen.
»Warum machst du es dann nicht?«, hakte er nach – weil er natürlich nicht locker lassen konnte.
Ich hob den Blick und schoss ihm 'nen vernichtenden Blick zu. »Weil ich gerade keinen Bock hab«, gab ich ehrlich zurück. Lügen brachte bei ihm eh nichts. Wenn er 'nen Fehler finden wollte, dann tat er das – egal, was ich sagte.
»Solltest du aber mal«, meinte er bestimmt, deutete kurz mit der Gabel auf mich und ließ mich dabei keinen Moment aus'n Augen.
»Maxim scheint doch ganz pfiffig zu sein. Vielleicht klappt's dann besser?«, mischte sich meine Mutter ein und lächelte aufmunternd.
Natürlich. Jetzt sollte ich mich auch noch mit Maxim zum »Lernen« treffen. Großartige Idee.
Ich hatte es versucht. Wirklich. Einmal. Aber entweder lenkte sich Maxim ständig selbst ab – ernsthaft, der Typ konnte keine fünf Minuten stillsitzen – oder ich war so desinteressiert, dass ich mich nicht motivieren konnte, mitzumachen.
Und ganz ehrlich: Mit Maxim nur fürs Lernen abhängen? Nee, danke. Es gab tausend bessere Dinge, die wir zusammen machen konnten.
Musik machen, Texte schreiben, faul rumhängen, rauchen, irgendeinen Quatsch im Fernsehen gucken – aber lernen gehörte definitiv nicht dazu.
Ich sparte mir jede Antwort. Diskutieren hätte eh nichts gebracht. Stattdessen übernahm mein Bruder das Wort – leider mit viel zu vielen ungeschluckten Kartoffeln im Mund.
»Der hängt doch sowieso ständig hier ab«, schmatzte er, worauf er sich direkt zwei böse Blicke einfing – einen von mir, einen von Mama.
Aber natürlich musste er, wie immer komplett taktlos, noch einen draufsetzen. »Manchmal hab ich das Gefühl, ihr hättet was miteinander.«
Ich verschluckte mich augenblicklich an meiner Gabel, hustete wie 'n Idiot, während meine Mutter fast ihren Schluck Wasser ausspuckte. Nur mein Stiefvater blieb – wie erwartet – emotionslos.
»Ich hoffe wirklich, dass das nicht wahr ist«, murrte er schließlich und ließ seinen durchdringenden Blick nicht von mir ab.
»Wenn was nicht wahr ist?«, fragte ich, mutiger als ich eigentlich war. Mein Stiefvater räusperte sich nur, lehnte sich leicht vor und fixierte mich mit diesem unerträglich ernsten Gesichtsausdruck.
»Dass du mit einem Jungen—«
»Wenn ich was? Wenn ich was mit 'nem Jungen, huh??«, fauchte ich dazwischen, viel lauter, als ich geplant hatte, viel aggressiver, als es nötig gewesen wäre. Warum das so plötzlich aus mir herausbrach, konnte ich mir selbst nicht erklären.
»Sag es, sprich es aus, verdammt!«, legte ich nach – bereit, mir für diesen Kommentar 'ne heftige Ohrfeige einzuhandeln. Mir war's scheißegal.
Mein Stiefvater seufzte – fast schon genervt – und ließ 'n kurzes, trockenes Lachen hören, bevor er mich wieder ansah. »Ich hoffe für dich und deine Familie, dass du verdammt noch mal nicht schwul bist, Nico«, sagte er schließlich – genau das, was ich auf keinen Fall von ihm hören wollte.
Scheiße.
Ich hatte keine Ahnung, wie ich reagieren sollte. Sollte ich zurückfeuern, mich verteidigen? Oder es einfach bestätigen, nur damit er Ruhe gab?
Das Problem war: Ich wusste es selbst nicht.
Ich hatte es nie ausprobiert. Nie 'nen Jungen geküsst, geschweige denn mich in einen verliebt.
Wie sollte ich also wissen, ob ich auf Jungs stand?
Klar, ich fand Arsch und Titten geil.
Aber ich fand auch Maxim auf 'ne Art anziehend, die ich mir nicht erklären konnte. Es war nichts, worüber ich groß nachgedacht hatte – nie bewusst, jedenfalls. Ich mochte ihn einfach.
Seine Art, sein Lachen, seine Stimme. Wie er gleichzeitig verdammt intelligent und unglaublich dämlich sein konnte. Und, ja, auch sein Aussehen.
Diese strahlenden, niemals traurigen Augen. Das blonde Haar. Die Tatsache, dass er größer war als ich, und sein durchtrainierter Körper. Verdammt, der sah für sein Alter einfach zu gut aus.
Aber das hieß doch nichts, oder? Es konnte nichts bedeuten. Das redete ich mir zumindest ein.
»Und wenn es so ist?«, fauchte ich und knallte mit der flachen Hand auf'n Tisch. »Was dann? Wirfst du mich dann raus? Bin ich dann noch weniger wert?« Meine Stimme wurde lauter, wütender, und ich merkte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen – mehr aus Zorn als aus irgendwas anderem. »Bin ich dann in deinen Augen noch mehr 'n Versager, als ich eh schon bin?«
Aus'm Augenwinkel sah ich, wie meiner Mutter die Tränen kamen. Sie wollte etwas sagen, hielt sich aber zurück – wahrscheinlich aus Angst, dass mein Stiefvater sonst noch mehr ausrasten würde.
Paul, der das Ganze überhaupt erst ins Rollen gebracht hatte, blieb erstaunlich ruhig.
Und mein Stiefvater hingegen? Der blieb fast schon erschreckend ruhig – wenn man bedachte, wie wichtig ihm das Thema offenbar war.
Er hatte mich gerade vor allen anderen quasi als schwul abgestempelt – ohne 'nen wirklichen Grund dafür zu haben, außer vielleicht, dass ich nie Mädchen mit nach Hause brachte und meine Freunde ausschließlich nur Jungs waren.
»Weißt du was?«, begann ich, so bestimmt wie möglich, obwohl meine Stimme dabei verdächtig zitterte. »Denk doch, was du willst.« Mit diesen Worten warf ich die Gabel auf'n Teller, das Klappern durchbrach die unangenehme Stille, und ich stand auf, entschlossener, als ich mich fühlte.
»Nico, bitte ...«, flehte meine Mutter endlich und machte 'ne beschwichtigende Handbewegung.
Aber ich rebellierte dagegen. Die Wut, die Tränen – ich schluckte alles herunter und ließ es niemanden sehen. Stattdessen schenkte ich ihnen den Mittelfinger, hielt ihn hoch wie 'n verdammtes Statement und ging rückwärts aus der Küche, ohne sie noch einmal anzusehen.
Kaum im Flur, lief alles wie von selbst – Jacke übergeworfen, in die Schuhe geschlüpft, den immer gepackten Notfallrucksack aus'm Zimmer geholt. Kein Zögern, kein Nachdenken.
Als ich an der Tür stand, hörte ich schon die schweren Schritte meines Stiefvaters hinter mir.
»Du bleibst hier, mein Freund!«, brüllte er, stampfte wütend auf mich zu – doch ich war schneller. »Einen Scheiß werde ich!«, fauchte ich zurück, meine Stimme voller Adrenalin.
Ehe er mich packen konnte, riss ich die Tür auf, knallte sie ihm vor der Nase zu und sprintete die Treppe runter – so schnell, dass ich beinahe hingefallen wäre. Ich wusste, dass er mir nicht folgen würde. Der Typ war zu faul und zu stolz.
Aber trotzdem rannte ich weiter, als würde mein Leben davon abhängen. Vielleicht tat es das auch.
Selbst draußen rannte ich weiter. Tränen liefen mir unaufhaltsam übers Gesicht, meine Lunge brannte – scheiß Raucherei – und meine Beine fühlten sich an, als würden sie jeden Moment aufgeben. Aber ich hielt das Tempo. Erst als meine Lunge kurz vorm Kollabieren war und ich dachte, ich kippe gleich wirklich um, blieb ich stehen.
Ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Meine Füße hatten mich einfach von selbst irgendwohin getragen, ohne dass ich groß hingesehen hatte.
Erst als mein Atem sich langsam beruhigte, sah ich mich um und erkannte das Gelände; 'ne verlassene Industrie. Betreten offiziell verboten.
Aber Tarek und ich hatten es vor Kurzem entdeckt und waren seitdem immer wieder hier. Kiffen, quatschen, abhängen – was auch immer.
Die Idee, Tarek hierherzuholen, klang eigentlich ziemlich gut. Immerhin war er der Einzige, der sich keinen Kopf um's Abitur machen musste.
Also kramte ich mein Handy aus der Hosentasche – zum Glück hatte ich es überhaupt noch eingesteckt – und suchte seinen Kontakt heraus.
Nico
Industriegelände. Jetzt.
Bring Gras mit, wenn du hast.
Kaum hatte ich die Nachricht abgeschickt, steckte ich das Handy zurück in die Hosentasche und machte mich auf'n Weg zu unserem Platz.
Der lag etwas versteckt und erforderte 'n bisschen Kletterei – genau das, worauf ich nach'm Rennen eigentlich keine Lust mehr hatte – aber was soll's.
Als ich endlich ankam, ließ ich mich auf eines der zerfledderten Kissen fallen, die wir mal mitgebracht hatten, zog 'ne Kippe aus der Schachtel, zündete sie mir an und inhalierte tief.
Was 'ne verdammte Scheiße.
Was war ich eigentlich für 'n Opfer, dass meine eigene Familie in mir nichts anderes sah als 'nen angeblich nutzlosen, schwulen, durchgebrannten Jungen? War das wirklich alles, was ich war?
Beim Ausatmen ließ ich meinen Blick über das verlassene Gelände schweifen. Es gehörte mal zu irgendeiner Lagerhalle, in der wohl irgendwas hergestellt wurde – keine Ahnung, was genau.
Tarek hatte irgendwann beschlossen, die bröckelnden Wände als Leinwand für seine Graffitis zu nutzen. Seitdem sprayte er hier immer mal wieder neue Motive, und jedes Mal war ich beeindruckt. Der Typ hatte echt Talent.
Klar, vieles waren einfache Symbole, Sprüche, Zitate oder irgendwelche abstrakten Figuren, aber zwischendurch haute er auch echte Kunstwerke raus. Zumindest meiner Meinung nach.
Eines dieser Werke prangte direkt vor mir: eine Karikatur von uns vieren. Ich liebte dieses Bild.
Man erkannte sofort, wer wer war – und irgendwie fing es perfekt ein, was wir sein wollten.
Es war seltsam beruhigend zu wissen, dass wir – trotz allem, was um uns herum passierte, und obwohl wir uns erst seit knapp 'nem halben Jahr kannten – immer zusammenhielten.
»Ich schwöre dir, Nico!«, schallte plötzlich Tareks unverwechselbare Stimme durch die leeren Hallen, und ich konnte mir 'n kleines Grinsen nicht verkneifen. »Wenn das nicht so ernst ist, wie deine Nachricht klang, hau ich direkt wieder ab!«
Sein Fluchen hallte noch nach, während er den letzten Meter zu mir hochkletterte.
Als er endlich vor mir stand, sah er erst genervt aus – als wollte er mich erst mal ordentlich schelten. Doch sein Blick änderte sich schnell.
Er musterte mich, und plötzlich lag da etwas in seinem Gesicht, das fast wie Mitleid aussah.
»Scheiße, was ist passiert?«, fragte er, ließ sich ohne zu zögern neben mich plumpsen und hörte nicht auf, mich mit diesem weichen, besorgten Blick anzusehen. Ich musste leicht grinsen.
Es war irgendwie rührend, ihn so zu sehen – weil es überhaupt nicht zu ihm passte.
Ich nahm 'nen letzten Zug, blies den Rauch absichtlich in seine Richtung und drückte sie schließlich auf dem Boden vor uns aus.
»Hast du Gras dabei?«, fragte ich nur, ohne groß drumherumzureden. Tarek musterte mich kurz, seine Augen suchten mein Gesicht ab, bevor er anfing zu nicken. »Gras und Wodka. Passt?«
»Ich liebe dich, Bruder. Passt perfekt.«
Keine zehn Minuten später hatte das Gras seinen Job getan, der Wodka den Rest erledigt, und wir saßen auf dem Dach, direkt am Rand.
»Dein Stiefvater ist so'n Arsch!«, knurrte Tarek, nahm 'nen kräftigen Schluck aus der Flasche und reichte sie mir zurück. »Ehrlich, wie arschig kann man sein, sowas überhaupt zu behaupten?«
Seine Stimme war aufgebracht und laut, seine Gesten so wild und übertrieben, dass ich dachte, er haut sich gleich noch selbst vom Dach.
Ich zuckte nur mit den Schultern und nahm ebenfalls 'nen Schluck. Das Gras hatte mich runtergebracht, der Wodka meine Zunge gelöst.
Genug, um ihm alles anzuvertrauen, was vorgefallen war – vom geklauten Ausweis bis hin zu der Behauptung, ich könnte schwul sein.
Naja, fast alles.
Die Sache mit Maxim hatte ich ausgelassen. Dass es wohl genau deswegen überhaupt zu dieser dämlichen Vermutung gekommen war.
»Ich kenn's nicht anders«, sagte ich schließlich leise, nahm noch 'nen Schluck und schenkte ihm 'n trauriges, leicht schiefes Grinsen.
»Ist doch Bullshit, Nico«, maulte Tarek, riss mir die Flasche aus der Hand, setzte an und nahm 'nen tiefen Schluck. Dann sah er mich an. »Selbst wenn es so wäre, bist du auf keinen Fall weniger wert«, sagte er sauer, aber unmissverständlich.
»Also wäre es dir egal, wenn das so wäre?«, fragte ich vorsichtig und unsicher.
»Natürlich wäre mir das egal«, grinste er fast schon – auch wenn da 'n Hauch Unsicherheit in seiner Stimme mitschwang. »Wenn du wirklich lieber Schwänze lutscht, statt Titten geil zu finden – bitte, mach doch.« Sein Grinsen wurde breiter, und ich konnte nicht anders, als ihm mit 'nem kleinen Ellenbogenstoß zu antworten.
»Idiot«, murmelte ich, aber er lachte nur.
»Aber vor allem macht dich das nicht weniger zu meinem besten Freund, Nico«, fügte er dann hinzu – diesmal mit 'nem echten Lächeln.
Ich erwiderte sein Lächeln, wenn auch zögerlich. Scheiße. Genau das hatte ich gebraucht.
»Danke, Tarek«, murmelte ich, drückte kurz seine Schulter und ließ ihn dann wieder los.
»Kein Problem, Mann, nur die Wahrheit«, sagte er lässig, zwinkerte mir zu, schnappte sich die Flasche zurück und nahm 'nen weiteren Schluck.
»Bist du's denn?«, fragte er plötzlich, so beiläufig, dass es mich doch kurz zusammenzucken ließ.
»Was denn?«, fragte ich, obwohl ich mir ziemlich sicher war, worauf er hinauswollte.
»Na ... ob du Jungs mehr magst«, formulierte er vorsichtig – dabei aber mit 'ner Sicherheit in den Augen, die mich kurz aus'm Konzept brachte.
»Ich weiß es nicht«, gab ich ehrlich zu. »Ich hab's nie ausprobiert und ich hab' mich auch noch nie für 'nen Jungen so richtig interessiert.«
Das stimmte – zumindest irgendwie.
Oder vielleicht auch nicht.
Der Gedanke an Maxim flackerte kurz auf, aber ich drückte ihn schnell wieder weg.
»Aber nein«, fügte ich schließlich hinzu, »Ich denke nicht.«
Was für 'ne verdammte Lüge.
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