Kapitel 10
"Wir fahren dann!", verabschiedete sich mein Papa und ich lugte kurz aus dem Wohnzimmer hervor.
"Tschüss! Grüßt Will von mir!", rief ich ihnen nach. Dann waren sie weg.
Gestern waren meine Eltern erst spät nach Hause gekommen, hatten aber gleich angekündigt, dass sie heute wieder zu Will fahren würden. Scheinbar gestaltete sich die Renovierung doch etwas schwieriger als ursprünglich gedacht. Ich hatte nichts dagegen, immerhin hatte ich somit einen weiteren Tag sturmfrei.
Von draußen hörte ich das Auto wegfahren, während ich ans Wohnzimmerfenster trat und auf den nahe gelegenen Wald sah. Die goldenen Sonnenstrahlen schienen ihn von innen heraus leuchten zu lassen und ich spürte auf einmal das seltsame Verlangen nach draußen zu gehen.
Zögernd biss ich mir auf die Unterlippe. Sollte ich wirklich rausgehen? Immerhin hatte ich meinen Eltern vorhin versichert, dass ich zu Hause bleiben würde und sie sich keine Sorgen machen brauchten. Aber andererseits würde ich sehr wahrscheinlich lange bevor sie wieder da wären nach Hause kommen und sie würden es somit gar nicht bemerken, dass ich weg war.
Außerdem war es gerade so schön und ich konnte wirklich mal wieder einen Spaziergang durch den Wald brauchen, schaltete sich nun auch eine kleine Stimme in meinem Kopf ein und bewegte mich dazu meine Jacke und Schuhe anzuziehen und mir mein Handy zu schnappen. Nur für den Fall.
Kurz darauf zog ich auch schon die Haustür hinter mir zu und atmete tief durch.
In der Nacht hatte es wieder geregnet und ich konnte bereits von hier aus den erdigen Geruch des Waldes riechen.
Mit einem seltsam riesigen Maß an Übermut hüpfte ich die Stufen unserer Veranda hinab und machte mich auf den Weg in Richtung Wald.
In der Luft hing das Zwitschern der Vögel und von irgendwo aus der Nachbarschaft konnte ich Kinder lachen hören. An der letzten Straßenabzweigung bevor der Weg von Asphalt zu Schotter überging begegnete mir der Postbote, welchem ich freundlich zunickte und der mir daraufhin ein kurzes Lächeln schenkte.
Erst nach der Hälfte der Strecke fiel mir bewusst das Knirschen der Steine unter meinen Füßen auf und mir fiel schlagartig ein, dass ich meine Kopfhörer, welche ich bei solchen Spaziergängen normalerweise immer dabei hatte, zu Hause vergessen hatte.
Kurz blieb ich stehen und sah den Weg zurück. Es war zu spät um wieder zurück zu gehen. Würde ich das tun, würde mich das nur Zeit kosten und meine Eltern wären dann vielleicht auch schon wieder da. Also musste ich heute wohl ohne auskommen.
Aber andererseits war das vielleicht auch gar nicht so schlimm. Immerhin hatte der Wald mehr als genug Geräusche zu bieten und ich würde auch mal einen Spaziergang ohne meine Musik auskommen.
Meine Füße trugen mich weiter in Richtung Wald, welcher mit jedem Schritt nur noch mehr zu Strahlen schien. Die Sonne stand noch nicht sonderlich hoch da es noch recht früh war. Dadurch hatten ihre Strahlen den perfekten Winkel auf den Wald und hätte ich nicht den sanften Wind auf meiner Haut gespürt und den einzigartigen, dunklen Geruch der Bäume gerochen, so hätte ich das auch für eine Szene aus einem Film halten können. So surreal erschien mir das Ganze.
Endlich erreichte ich den Waldrand. Der Schotterweg mündete nun in einen kleinen ausgetretenen Pfad direkt in den Wald hinein. Links und Rechts des Weges wuchsen Brennnessel und Spitzwegerich, welche vom Schattenspiel der Bäume ringsum bedeckt waren.
Ohne zu Zögern tauchte ich in die bezaubernde Idylle des Waldes ein und lief den Pfad entlang. Der Geruch betörte meine Sinne und ich atmete tief durch. Neben dem Buchladen und meinem Zuhause war das hier einer meiner Lieblingsplätze. Hier konnte man runterkommen, nachdenken und für kurze Zeit seinen Problemen entkommen, ohne dass man gestört wurde. Zudem liebte ich das Spiel aus Geborgenheit und Freiheit, dass der Wald für mich ausstrahlte.
Ab und an knackte es im Unterholz oder ich konnte Bewegungen aus dem Augenwinkel wahrnehmen, doch die Angst davor hatte ich durch meinen Papa schon lange verloren.
Als ich noch um einiges jünger war, ging er spät Abends mit mir in den Wald um uns auf einer Lichtung die Sterne anzuschauen. Ich hatte mich damals so sehr gefreut, doch der Weg dort hin war für mich schrecklich. Auch wenn meine Papa dabei war und wir Taschenlampen hatten, hatte ich riesige Angst vor den Geräuschen und der Dunkelheit. Das ging sogar so weit, dass ich mitten auf dem Weg weinend stehen geblieben bin und nicht mehr weiter wollte, egal was Papa gesagt hatte.
Daraufhin hatte er sich hingekniet und mich angesehen. Und dann hatte er etwas gesagt, was ich niemals vergessen würde.
Kelya, Süße, es ist okay. Du brauchst keine Angst zu haben. Die Dunkelheit wird dir niemals wehtun. Denn weißt du, sie ist ein Freund der Sterne. Ohne die Dunkelheit könntest du nämlich gar nicht sehen wie schön sie strahlen. Und du magst die Sterne doch, oder?
Daraufhin hatte er nach oben gedeutet und durch das Blätterdach konnte ich beides erkennen: Die Sterne und die Dunkelheit.
Aber was ist mit den Geräuschen?, hatte ich ihn damals ängstlich gefragt.
Daraufhin hatte er gelächelt und angefangen mich zu kitzeln. Ich hatte gelacht und um mich herum ist es plötzlich still geworden.
Siehst du?, hatte er gefragt. Die Geräusche tun dir nichts. Das sind nur Tiere, die hier leben und wenn du ein Geräusch machst haben sie genauso Angst davor wie du vor ihren Geräuschen.
Seit damals hatte ich nie wieder Angst vor dem Wald. Ich hatte durch meinen Papa verstanden, dass Angst nur etwas in meinem Kopf war, was ich mit meinem Verstand kontrollieren konnte.
Glück erfüllte mich bei dieser Erinnerung und ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen, während ich nun den ausgetretenen Pfad verließ und mir langsam einen Weg durch das Unterholz bahnte.
Die Erinnerung hatte mich auf eine Idee gebracht und ich wollte wieder zu der Lichtung auf der wir uns damals die Sterne angeschaut hatten. Dadurch, dass ich den Wald quasi wie meine Westentasche kannte, achtete ich nur noch bedingt auf meine Umgebung.
Zum Glück musste ich auch nicht wegen irgendwelcher Tiere aufpassen, denn das gefährlichste dem man hier begegnen konnte, war ein Eichhörnchen. Zwar hieß es, dass ein paar Wanderern vor Jahren mal hier ein Fuchs begegnet sein soll, doch ich glaubte nicht wirklich daran. Mein Wald war dafür einfach viel zu harmlos.
An dem Baum der aussah als würde er hier schon länger stehen als es die Zeit überhaupt gab, bog ich links ab und entdeckte in den Zweigen über mir ein Nest, aus dem drei kleine Köpfe herausschauten.
"Gott sind die niedlich!", quietscht ich leise auf. Im Moment fühlte ich mich seltsam glücklich und befreit, so als würden mich keine Pflichten, keine Sorgen, keine Gedanken zurückhalten.
Denk nicht darüber nach wo das herkommt, genieß es einfach!, ermahnte ich mich selbst.
Also ging ich weiter und sog alle Eindrücke in mich auf. Als ich in einiger Entfernung die Lichtung ausmachen konnte, beschleunigte ich meine Schritte und brach schließlich zwischen den Bäumen hervor ins Freie.
Der Anblick zog mich, wie jedes Mal seit ich zum ersten Mal hier war, sofort in seinen Bann. Eine bunte Wiese erstreckte sich vor mir, auf der sich Schmetterlinge und Bienen an den Blüten gütlich taten. Die verschiedensten Farben zierten den Boden vor mir wie bei einem Gemälde, nur mit dem Unterschied, dass kein Künstler die magische Schönheit dieses Ortes je hätte einfangen können.
Am rechten Rand der Lichtung befand sich ein kleiner Bach, der auf den Wasserfall in der Gegend zurückzuführen war. Mit acht war ich einmal im frühen Frühling hinein gefallen, weil ich ihn durch den nur langsam schmelzenden Schnee nicht gesehen hatte. Danach war ich zwei Wochen lang krank, worüber sich Mama besonders gefreut hatte.
Eben diesen kleinen Bach steuerte ich nun an und ließ mich daneben nieder. Sonnenstrahlen suchten sich ihren Weg auf meine Haut und ich genoss die Wärme, die sie mir schenkten. Verträumt sah ich auf das glitzernde Wasser. Gepaart mit dem Duft den die Blumen mir bescherten, war das gerade für mich ein perfekter Moment.
Genau so verharrte ich auf der Lichtung und sah den vielen kleinen Insekten dabei zu wie sie von Blüte zu Blüte flogen und die Bienen voller Pollenstaub aussahen als würden sie Hosen tragen.
Plötzlich knackte etwas viel zu nah an mir und ich wirbelte wachsam herum.
Dann verschlug es mir die Sprache.
"Chou?!"
Was machte er denn hier? Träumte ich das gerade? Niemals hätte er den Weg hierher finden können, nur Leute die den Wald gut kannten, kannten auch den Weg!
Und doch stand der mysteriöse Asiate nun vor mir, die Arme vor der Brust verschränkt und sah entspannt auf mich herab.
"Hey Kelya", sagte er als Begrüßung. Sein Gesicht zeigte dabei keine Regung und in mir kam ein seltsames Gefühl auf.
"Was machst du hier? Du wirst verzeihen, aber der Eindruck, dass du mich verfolgst ist nun extrem stark. Oder warum weißt du scheinbar immer wo ich wann bin?"
Sicherheitshalber stand ich auf und sah ihn genau an. Auch wenn wir uns das letzte Mal recht nett unterhalten hatten, das hier war verdammt gruselig.
Auf einmal flog etwas wie Bedauern über seine Züge.
" Es tut mir leid Kelya. "
Was meinte er? Das dieser Eindruck aufkam? Das er mich verfolgte? Oder doch etwas anderes?
Plötzlich stand er von einer Sekunde auf die andere hinter mir und drückte mir seine Hand über Nase und Mund. Panisch riss ich die Augen auf und schlug um mich, doch sein Griff war unerbittlich. Ich schrie und Angst pumpte mir mit roher Gewalt durch die Adern.
Dann wurde schlagartig alles schwarz.
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