Kapitel Neunzehn: Entfesselt
,,Du glaubst Loki lebt?"
Die Fassungslosigkeit, die in Thors Worten mitschwang machte Sylvie wütend. Wie konnte er nur eine Sekunde daran zweifeln, dass Loki so etwas überleben könnte. Für einen flüchtigen Moment ballte sich ihre Hand unter der Decke zur Faust.
,,Ich glaube das nicht nur, ich habe ihn gesehen, an dem Ort, an dem ich war. Dorthin muss ich zurück, um ihm zu helfen."
Um ihn zu retten, wie er es bei mir getan hatte, dachte sie stumm.
Unwillkürlich packte Sylvie Thors Hand. Fragend sah er sie an. Nun beugte sie sich ein wenig näher zu ihm und senkte die Stimme.
,,Ich brauche deine Hilfe."
Für den Bruchteil einer Sekunde weiteten sich seine Augen, bevor er nickte.
,,Was soll ich tun?", flüsterte er zurück.
Sie wusste nicht, ob es funktionieren würde, aber sie musste es versuchen. Es war die einzige Chance für Loki.
Es war düster und kalt, wo immer er auch war. Der Nebel ließ ihm kaum die Hand vor Augen sehen, doch er war sich sicher gewesen, dass er sie gehört hatte. Wie sie verzweifelt seinen Namen gerufen hatte. Eine Weile, nachdem ihre Stimme verstummt war, hatte er sich auf die Suche nach ihr gemacht. Aber diese Spur verlief sich im Sande, mittlerweile glaubte er sogar, dass er sich das nur eingebildet hatte. Wunschdenken seinerseits. Eine unendliche Müdigkeit ergriff von ihm Besitz, von jedem einzelnen Knochen in seinem Körper. Seine Beine fühlten sich an wie Blei, das er nicht vom Boden heben konnte. Das Gefühl der körperlichen Schwäche konnte er einfach nicht abschütteln. Des letzten Rests seiner Stärke beraubt sank er mit den Knien auf den harten Erdboden. Dieser Ort war wie ein schwarzes Loch, ein Labyrinth, aus dem er keinen Weg hinausfand. Seine Kehle fühlte sich staubtrocken an. Das Verlangen nach Wasser war überwältigend. Loki wischte sich über die feuchte Stirn, während er in die neblige Dunkelheit starrte. All das, was er bis jetzt überlebt hatte, führte ihn also hier her, um zu sterben. Das war der Ort, doch das Gefühl von bereuen setzte nicht ein. Im Gegenteil, er fühlte sich dankbar, dass er sie getroffen hatte, dass er das Gefühl von Verbundenheit, von Verständnis, einmal in seinem erbärmlichen Leben spüren dürfte. Bei diesen Gedanken begann er zu Lächeln, ein wahrhaftiges Lächeln.
All das, war so Loki untypisch. Keine Sekunde hatte er darüber nachgedacht, sondern sich einfach in die Schusslinie geworfen, nur um sie zu retten. Früher hätte er das nicht getan, für niemanden. Sie war es, die sein gesamtes Wesen veränderte und sein Leben auf den Kopf gestellt hatte. Es kam ihm in den Sinn, dass er sich fast schon wie Thor anhörte. Die Liebe verdrehte seinen Kopf. Loki war also nicht mehr Loki.
Was machte einen Loki zu einem Loki?
Noch immer kniete er auf dem Erdboden, während seine Finger sich in die dreckige Erde bohrten. Doch je länger er über diese Frage nachdachte, desto mehr kehrte ein wenig seiner alten Stärke zurück. Er mochte zum Verlieren verdammt sein, aber aufgeben kam nicht infrage. Selbst das würde er überleben, um zu seinem glorreichen Ansinnen zurückzukehren. All seine Kraft mobilisierte er, damit er sich auf die Beine stemmen konnte, um sich mit wackeligen Schritten weiterzuschleppen. Das Gefühl von Durst und das Kratzen im Hals ignorierte er. Jeder Schritt weiter in die Dunkelheit schmerzte, nirgendwo gab es einen Funken Licht. Es war der Gedanke, an sie, der ihn vorantrieb. Wenn es eine Tragödie war, wenn es pures Chaos war oder Narzissmus, sie zu lieben, dann war es das, was er wollte. Liebe brachte sogar Götter dazu dumme Dinge zu tun. Er würde Raum und Zeit, Himmel und Hölle überwinden, um zu ihr zurückzukehren. Seine Hand ballte sich zur Faust, als er weiter gegen die Dunkelheit ankämpfte, die ihre schwarzen Tentakel nach ihm ausstreckten.
Währenddessen saß Sylvie mit geschlossenen Augen auf dem Bett, ihre Hand ruhte in Friggas warmen Händen. Sylvie konzentrierte sich auf Friggas Stimme, um dem Zauber zu lauschen, den sie sprach. Sie leerte ihren Geist und überließ ihre Lebensenergie Frigga.
,,Denke an den Ort, stell ihn dir vor. Denke an Loki."
Das war gar nicht so schwer. Nach wie vor konnte sie die Kälte auf ihrer Haut spüren, den Nebel sehen, der es ihr unmöglich gemacht hatte, Loki zu erreichen. Und der Ruf der Finsternis war ihr noch viel zu vertraut in den Ohren. Doch, als sie an Loki dachte, begann all das in den Hintergrund zu rücken, um Wärme an die Oberfläche zu befördern. Allmählich öffnete sie die Lider. Ihr Blick huschte umher, wobei sie den Ort augenblicklich erkannte. Sie hatte es tatsächlich geschafft, in den Nebel zurückzukehren. Jetzt kam der schwierigere Teil Loki zu finden. Der dichte Nebel nahm ihr jeglichen Orientierungssinn. Doch, was wenn sie gar nicht mit den Augen sehen musste, kam ihr in den Sinn. Unwillkürlich wanderte ihre Hand zu ihrer Brust. Sie brauchte nur auf ihr Herz zu vertrauen, um ihn zu finden. Schritt für Schritt wagte sie sich in die Stille der Dunkelheit. Immer wieder spürte sie Tentakel, die sich versuchten, um ihren Fuß zu schlingen. Es hätte ihr Angst einjagen sollen, aber der Gedanke an Loki ließ sie sich mutiger fühlen, als sie eigentlich war. Wie lange sie schon in der Dunkelheit umherirrte, konnte sie nicht sagen. Ihr Zeitgefühl war verloren gegangen. Was gäbe sie nun für ein paar Sonnenstrahlen, die über ihre Haut kitzelten. Plötzlich vernahm sie ein Geräusch aus dem Nebel, was ihren Puls in die Höhe schnellen ließ. Ihr Körper spannte sich an, um dem entgegenzutreten, was sie erwarten würde. Auf leisen Sohlen schlich sie sich durch den Nebel, bis das Geräusch lauter wurde. Ihr Blick schoss in die Höhe, ihr Blick weitete sich, als sie endlich erkannte, was dieses Geräusch verursachte. Ein kräftig gebauter Rabe kreiste über ihrem Kopf. Seine robusten Beine wiesen lange Laufknochen auf. Die Vorderseite der Beine war mit Hornschuppen bedeckt, während die Rückseite glatt war. Er hatte einen sehr langen und hoch gewölbten Schnabel. Der gesamte Körper mit Ausnahme des Schnabels und der Beine vom Laufknochen abwärts war befiedert. Es dominierten graue bis schwarze Gefiedertöne, mit einem weißen Abzeichen. Er starrte sie durch seine schwarzen Augen an. Er wirkte aufgeregt, so als hätte er ihr etwas mitzuteilen. Nun schlug er noch ein wenig mehr mit den Flügeln.
In der nordischen Mythologie symbolisierte der Rabe die Weisheit, der Gott Odin hatte stets die beiden Raben Hugin und Munin bei sich, die auf seinen Schultern saßen und ihm berichteten, was auf der Welt vor sich ging. Hatte Odin womöglich Loki beschützt?
Auf einmal flog der Rabe in den Nebel hinein, was Sylvie dazu brachte ihm zu folgen. Erschrocken hielt sie inne, als sie entdeckte, wohin der Rabe sie geführt hatte. Dort lag Loki, um seine Beine schlängelten sich einige der Tentakel. Ohne zu zögern, ließ Sylvie einen Dolch in ihrer Hand erscheinen und stürzte auf die Tentakel los. Ihr Aufschrei erschreckte die Wesen der Finsternis, sodass sie sich erst einmal zurückzogen, doch sie wusste, dass sie wiederkommen würden. Rasch kniete sie sich zu Loki auf den Erdboden, um ihr Ohr auf seinem Brustkorb zu platzieren. Ein, zwei Sekunden verstrichen, bis sie einen schwachen Herzschlag wahrnahm. Beinah wäre sie in Tränen ausgebrochen, wenn ihre Lage nicht so verdammt ernst wäre. Ihr Blick glitt über seinen geschundenen Körper. Überall waren Kratzer und Blutergüsse auf seiner Haut sichtbar, was sie schlucken ließ. Was hatten sie ihm nur angetan?
Sie zog seinen schlaffen Körper an sich. Sie würde ihn beschützen, bis sie ihn zurückgebracht hatte. Der Weg zurück würde beschwerlich werden, das hatte ihr Frigga bereits vorausgesagt, aber den ersten Teil, ihn zu finden, hatte sie schon geschafft. Sie erhob sich, straffte die Schultern, um ihm über ihre Schultern zu legen. Die ersten Meter des Wegs ließ sein Gewicht sie straucheln. Ihre brennenden Lungen schrien nach mehr Sauerstoff, während sie unter der Last beinah zusammenbrach. Es war ihr Wille, der sie weiterlaufen ließ. Die Option aufzugeben, existierte in ihrem Kopf nicht. Entweder würden sie es beide hier rausschaffen oder dieser Ort würde das Ende für sie beide bedeuten. Sylvie würde Loki nicht zurücklassen. Schritt für Schritt unter größter Anstrengung schleppte sie sich weiter durch den dichten Nebel der Dunkelheit. Eigentlich müsste sie nur den Ausgangspunkt finden, aber das sollte sich schwierig gestalten. Sylvie hatte keinerlei Ahnung mehr, woher sie gekommen war, was so viel bedeutete, wie sie drehten sich im Kreis. Ein Aufschrei der frustrierten Wut entkam ihrer Kehle. Warum war sie nicht ein einziges Mal in der Lage ihn zu retten?
Als würden ihre Gebete erhört, kreiste erneut der Rabe über ihnen. Ein Lächeln legte sich auf Sylvies Lippen, während sie begann ihren Weg fortzusetzen. Das Band zwischen Frigga und ihr verblasste allmählich und ohne diese Zauberverknüpfung schafften Loki und sie es nicht zurück. Die Zeit lief ihr davon, doch Lokis Gewicht verlangsamte ihre Schritte. Sie hörte schon Thors Stimme in ihrem Kopf, die sie gewarnt hatte, dass das eine Schnapsidee sei. Abermals seufzte Sylvie auf, während sie mit den Augen dem Raben folgte.
Endlich lichtete sich der dichte Nebel ein wenig und mit Erleichterung stellte Sylvie fest, dass der Rabe sie zum Ausgangspunkt zurückgebracht hatte. Nun war es an der Zeit Frigga das Signal zu geben. Gerade, als sie das tun wollte, trat ihr jemand aus den Schatten in den Weg.
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