Kapitel Achtzehn: Am Ende des Weges
Ich weiß, was ich getan habe ... und ich weiß, warum ich es getan habe.
Noch immer lag Sylvie benommen auf dem Boden. Alles um sie herum war noch immer unscharf. Unfähig zu begreifen, was eben passiert war. Er war fort. Ausgelöscht vor ihren Augen. Ihre Finger kratzten über den Boden. Eine Welle heißer Wut überrollte sie, was ihr die Kraft verlieh sich vom Boden zu erheben. Ihre Beine wackelten verdächtig unter ihrem Gewicht, doch sie zwang sich mit bloßem Willen aufrecht zu stehen.
,,Warum hast du das getan? Er hatte nichts damit zu tun!", schrie sie.
Beinah gleichgültig zuckte Ravonna mit den Schultern, was Sylvie nur noch wütender machte.
,,Er war mir im Weg, weil er dich immer beschützt hätte."
,,Gibt es niemanden, denn du beschützen würdest?"
Ravonnas Mundwinkel hoben sich verächtlich. ,,Ich habe da eine Gegenfrage. Hättest du das Gleiche für ihn getan?"
Tatsächlich ließen ihre Worte Sylvie erstarren. Hätte sie Loki gerettet oder einfach nur feige zugesehen? Sie wusste nicht, was sie getan hätte, wäre es zu solch einer Situation gekommen. Durch Sylvies Schweigen bekam Ravonna ihre Antwort.
,,Nun zu uns beiden meine Hübsche."
Allmählich kam sie auf Sylvie zu, wobei sie ihren Schlagstock fest umklammert hielt. Ihre Absicht war mehr als klar von ihren Gesichtszügen abzulesen.
Es war der Schock sich wieder jenem gebrochenen Mädchen aus längst vergangener Zeit gegenüber zu sehen. Das Bild in ihrem Kopf hatte sie bis in die Grundfesten erschüttert, sie verwundbar gemacht. Ravonna hatte mit ihren Worten Erinnerungen geweckt, die Sylvie längst totgeglaubt hatte - verschüttet - vergessen. Mit einer Gewalt, gegen die sie nicht im mindesten gewappnet war, war die Vergangenheit auf sie eingestürmt. Sie erinnerte sich. Sie war einst ein Kind, eine Tochter gewesen. Sie war verletzlich und verzweifelt gewesen. All die Jahrzehnte der Macht und Stärke, die Sylvie wie eine Mauer zwischen sich und jener geraubten Unschuld gezogen hatte, verflüchtigte sich in diesem kurzen Moment. Verschwunden war die mächtige Kämpferin, niedergerungen von ihren Erinnerungen. Da war nur noch das kleine, verängstigte Mädchen, das vor den Trümmern ihres jungen Lebens stand.
,,Du musst nicht um Loki trauern, denn du wirst ihm folgen."
Zuerst war es die nackte Panik, die Sylvies Gliedmaßen gefangen hielten, bis sie der Durst nach Rache wieder einmal an ihr Ziel erinnerte. Es war der Kampfgeist der überlebte. Sie musste alles auf eine Karte setzen. Jetzt wurde nicht mehr verhandelt - jetzt herrschte Krieg!
Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Ein paarmal atmete sie tief ein und aus, während sie sich sammelte. Endlich nahm sie wieder eine vertraute Form an. Sinnlich, wunderschön und tödlich. Gewiss ihr Geist war zerschmettert, ihr Bewusstsein in Stücke, doch während es sich nur mit Mühe ans Dasein klammerte, blieb die Energie, die Sylvie Stärke verlieh, bestehen. Langsam, aber stetig bewegte sie sich in eine bestimmte Richtung. Was von Sylvie blieb, verspürte den beharrlichen Drang, das Vertraute aufzusuchen - zu finden, was sie wieder zu einem Ganzen machen könnte. Sie begann die Grenze zu überschreiten. Etwas zog sie unerbittlich an. In ihren Händen erschienen zwei Dolche, die sie so fest umklammerte, dass ihre Fingerknöchel weiß hervor traten. Ihre Augen hatten ein gefährliches Funkeln angenommen. Es war dieses unwillkürlich Zurückschrecken, das sie ihren Kurs ändern ließ.
,,Was passiert mit den Gestutzten?", zischte sie, wobei Sylvie begann Ravonna zu umkreisen.
Mochte sie weder Glück noch Schmerz kennen - was von Sylvie übrig blieb, wusste was Macht war. Sie würde immer wissen, was Macht war. Das war das Einzige, was sie immer wissen würde. Sie begann Energie zu absorbieren und zog mit ihrer Hilfe das schwache Echo, das von Loki geblieben war, zu sich heran. Unsichtbar und formlos, wie ein Windstoß, der Wolken vor die Sonne trieb. Doch Sylvie spürte diesen Hauch, der von ihm geblieben war. Er hüllte sie wie eine Decke ein. Ein Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Er beschützte sie noch immer. Von einem einzigen Willen getrieben setzte sie zum ersten Stich an, dem eine überraschte Ravonna nur um haaresbreite ausweichen konnte. Einige dunkle Haarsträhnen fielen zu Boden, die Sylvie mit ihrem Dolch erwischt hatte. Ravonna taumelte ein Stück zurück. Woher hatte sie diese plötzlich Stärke genommen? Eben war sie doch noch ein Häufchen Elend gewesen. Ihre Stirn legte sich in Falten, als sie Sylvie vor sich betrachtete.
,,Sag mir endlich, was mit ihnen passiert!", schrie Sylvie, wobei sie mit dem Dolch in der Luft rumfuchtelte.
Ironischerweise war es Ravonna, die es Sylvie ermöglichte, genug von ihrem Bewusstsein wiederzuerlangen, um sich zu sammeln. Sich der uralten Macht zu bedienen und sich schließlich selbst zu finden. Bis zu jenem Augenblick war es ihr einziges Bestreben gewesen, die Zeithüter zu vernichten. Doch jetzt wollte sie Loki zurück. Daraus schöpfte sie Kraft, bis sich die Fragmente von Vergangenheit und Gegenwart zu einem vervollständigten. Dieses Wissen sandte einen Strom ungeformter Energie durch ihren Geist und Körper, der die nötige Kraft lieferte. Wieder hob sie die Hände mit den Dolchen, um einen Satz auf Ravonna zuzumachen. Dem ersten Hieb konnte sie noch entgehen, aber dem Zweiten schaffte sie es nicht mehr auszuweichen, sodass der Dolch sie am Kopf traf. Die Welt um sie herum begann sich zu drehen, während ihre Beine wankten. Kleine weiße Punkte tanzten vor ihren Augen, der Schlagstock rutschte aus ihrer Hand, um geräuschvoll zu Boden zu fallen, bevor sie selbst am Boden zusammensackte wie ein nasser Sack.
Die Macht, die Sylvie in sich gesogen hatte, war restlos aufgebraucht. Keuchend und schwach wie ein neugeborenes Kind sank sie neben der bewusstlosen Ravonna zu Boden. Der eiserne Wille zu überleben, der ihre Sinne bis eben beherrscht hatte, schwand. Sie hatte gewonnen, aber dennoch verloren. Loki war fort. Endlich ließ sie ihren Tränen freien lauf.
,,Dieses Chaos sieht eindeutig nach weiblichem Tobsuchtsanfall aus."
Mühsam setzte sich Sylvie auf, um sich Thor gegenüber zu sehen. Das musste bedeuten, dass die Götter ihn schickten. Sein Blick ruhte auf Ravonna.
,,Ich hege keinerlei Mitgefühl für sie. Wo ist Loki?"
Seine Frage ließ sie gegen den Kloß in ihrer Kehle anschlucken. ,,Fort", brachte sie schließlich zustande.
Thor murmelte etwas, was für Sylvie zu einem diffusen Hintergrundrauschen verschwamm. Sie seufzte dankbar, doch hatte sie nicht vor, den Schicksalsmächten zu danken, die ihn ihr gesandt hatten. Sie kippte nach vorne und sank in Dunkelheit.
Als Sylvie die Augen wieder öffnete, befand sie sich an einem seltsamen Ort, den sie nicht kannte. Ein paarmal blinzelte sie noch, bevor sie sich auf die Füße kämpfte. Ein dichter Nebel hüllte diesen finsteren Ort ein, sodass Sylvie kaum die Hand vor Augen sehen konnte. Sie machte sich mit einem tiefen Atemzug Mut und begann sich in der vollkommenen Schwärze fortzubewegen. Erstaunt hielt sie inne, als ein moschusartiger Duft ihr in die Nase stieg. Eine Gänsehaut bedeckte ihre Arme. Da war etwas, eine Gestalt nicht unweit von ihr. Die Silhouette kam ihr bekannt vor. Sie legte all ihr Verlangen in seinen Namen.
,,Loki."
Auf seinem Weg hielt er inne und spähte in ihre Richtung, versuchte in der nebligen Dunkelheit etwas zu erkennen.
,,Hallo? Ist da jemand?"
Es war seltsam, zwar bewegte sich Sylvie, jedoch kam sie ihm kein Stückchen näher. Mit einem Mal stürmten Erinnerungen auf sie ein, ihre Lippen wurden kalt und taub, dass sie kaum sprechen konnte. Verwirrt blinzelte sie. Was passierte hier? Nach Atem ringend fiel sie wieder auf den Erdboden. Ihre Macht begann zu welken. Es war, als ob ein böser Geist aus uralter Zeit nach ihr griff. Ein Schrei lag auf ihren Lippen, doch kein Laut drang aus ihrer Kehle hervor. Schwäche überkam sie in solch einer Intensität. Verzweifelt versuchte sie Lokis Silhouette im dichten Nebel, der um sie herrschte, zu erspähen. Er war fort - schon wieder. In ihrer Verwirrung kniff sie die Augen zusammen. Eine Helligkeit begann sie zu blenden. Etwas weiches drückte in ihr Kreuz. Allmählich begannen sich ihre Gedanken zu klären und ihre Sicht zu schärfen. Sie saß aufrecht in einem Bett, die Stirn feucht. Ihre Finger umklammerten krampfhaft die Bettdecke. Zwei Augenpaare beobachteten sie besorgt. In Sylvie regte sich ein erster Hauch von Panik. Seit Loki in ihr Leben getreten war, hatte sie sich nicht mehr so alleine und angreifbar gefühlt, wie in dieser Sekunde. Beim Gedanken an Loki schmerzte etwas tief in ihrer Brust. Ein Schluchzen brach sich aus ihrer Brust Bahn. Rasch blinzelte sie die aufsteigenden Tränen fort. Sie biss sich auf die Lippen, um nicht wieder aufzuschluchzen.
,,Wo bin ich?", fragte sie mit seltsam belegter Stimme.
Nun trat Thor ans Bett.
,,Ich habe dich zu Jane gebracht, als du das Bewusstsein verloren hast."
In seiner Stimme schwang eine Niedergeschlagenheit mit, die die Stimmung im Raum noch ein wenig mehr drückte.
,,Sie hat sich um dich gekümmert."
Unwillkürlich fasste sich Sylvie an den Kopf. Erinnerungen überfluteten ihren geschwächten Geist mit Stimmen und Visionen. Langsam ließ sie den angestauten Atem entweichen und begann nachzudenken. Auf einmal setzte sich Thor zu ihr auf das Bett und nahm ihre Hand.
,,Ich verstehe schon. Mir fällt es auch schwer, mit dem Tod von Loki umzugehen."
Seine Worte brachten Sylvie dazu, ihm ihre Hand zu entziehen.
,,Nein." Mit dem Wort entschlüpfte ihr ein Schluchzer. Was war sie für eine Heuchlerin! ,,Ich bin sauer und tue mir selbst leid, statt endlich etwas zu tun."
Nun kam auch Jane näher.
,,Du musst in dieser Situation doch nicht perfekt sein. Das erwartet niemand." Mit ihren zarten Händen drückte sie sanft Sylvies, was dieser den Magen umdrehte.
,,Vielleicht ist das das Problem. Ihr versteht nicht",entgegnete sie düster.
,,Na, wenigstens wissen jetzt alle, dass die TVA die Bösen sind", versuchte es Thor mit tröstenden Worten.
Nein, das wussten sie nicht. Niemand würde gegen sie einen Finger rühren. Ravonna würde als Opfer dastehen, nicht Loki. Wenn sie es schaffte, sich wieder zu sortieren, würde sie genau da weitermachen, wo sie aufgehört hatte.
Doch Sylvie hatte etwas gesehen, auch wenn sie nicht wusste, was es war oder was es bedeutete.
,,Loki lebt... Irgendwie."
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