Die Vergangenheit holt jeden ein (13)
Sie rannte.
So fing es immer an.
Ihre schweren Lederstiefel knallten über den Betonboden der Lagerhalle. In ihrer, mittlerweile leicht schwiztigen, Hand umklammerte sie einen Briefumschlag.
Was darin war?
Sie wusste es nicht.
Lady Laeta de Dolores, so hatte die Hand beschlossen sie zu nennen, war mittlerweile sechzehn Jahre alt.
Sie war eine gute Handlangerin. Sie bekam, was die Hand wollte.
Immer.
Das Kind mit den blonden Locken und ihrer unübertroffenen Grausamkeit war mittlerweile fast so bekannt wie ihr Boss selbst.
In den Straßen sprach man von der Lady, und dass sie einen holen würde, wenn man der Hand nicht gehorchte. Die Lady stand für Schmerz und Leid und Tod.
Mit der Zeit hatte, neben Laeta de Dolores' Freude daran anderen Menschen Leid zuzufügen, noch ein anderer Grund bei der Hand zu bleiben sein hässliches Haupt in ihrer besudelten Seele gereckt:
Machtgier.
Die Hand war ein Weg zur Macht, aber kein vollkommener. Um die vollkomme Macht zu bekommen, nach der die Lady strebte, nach der sie sich verzehrte, würde sie die Hand töten müssen, um seinen Platz einzunehmen.
Welch ein Glück, dass Lady Laeta de Dolores absolut kein Problem mit solchen Dingen hatte.
Aber noch hatte sie Zeit, viel Zeit.
Zu diesem Zeitpunkt würde es noch fünf Jahre brauchen, bis Laeta de Dolores sich vollends ihres Bosses entledigte und all seiner anderen Handlanger gleich mit.
Schließlich rannte sie im Moment durch eine Lagerhalle und klammerte sich an einen Brief, dessen Bedeutung sie nicht kannte.
Immer weiter laufen, das war das einzige was zählte.
Die Lady war keine schnelle Läuferin. Sie war zwar schon immer überdurchschnittlich stark, aber schnell war sie nie gewesen.
Sie konnte die Stimmen ihrer Verfolger bereits hören.
Verdammt.
Sie rannte noch schneller. Ihre Lunge brannte von der Anstrengung und dem Mangel an Sauerstoff.
Wie lange würde sie noch rennen können?
Mit einer knappen Handbewegung wischte sie sich eine blonde Locke aus den Augen, die sich vorlaut aus ihrem Zopf gelöst hatte.
Elende Haare, irgendwann würde sie sie abschneiden.
Tief in ihrem Inneren wusste die Lady, dass sie das nicht tun würde, schließlich waren ihre blonden Löckchen eine der Sachen, die so klein und unschuldig wirken ließen und stehts dafür sorgten, dass man sie bei Kontrollen überging.
Es war nicht mehr weit bis zur Basis der Hand. Nach Luft schnappen rannte, nein eher stolperte, sie weiter.
Sie verließ die Halle durch den Hinterausgang und rannte schneller. Das Atmen fiel ihr schwer, ihr wurde schlecht. Klebriger Schleim sammelte sich in ihrem Rachen, von der Anstrengung.
Wieso musste Rennen so schwer sein und wieso mussten ihre Gegner es so gut können?
Sie wetzte durch ein paar Straßen, ohne auf ihre Umgebung zu achten. Das einzige was sie davon abhielt stehen zu bleiben und der Erschöpfung nachzugeben war das Wissen, dass es ihr sicherer Tod wäre.
Würde sie jetzt stehen bleiben, dann würden ihre Verfolger sie erwischen und sie verschlagen. Selbst wenn sie sie verschonen und am Leben lassen würden, dann hätte Laeta de Dolores dennoch versagt und den Brief verloren, also würde die Hand sie töten.
Ihre Schritte trugen sie durch etliche Straßen und Gassen, immer von einem Schatten zum nächsten flüchtend. In den Schatten zu verschmelzen konnte sie relativ gut, zumindest war sie sich da ziemlich sicher.
Dennoch schaffte sie es nicht ihre Gegner abzuschütteln, nicht an diesem Tag.
Lange würde sie es mit diesem Tempo nicht mehr aushalten, auch wenn sie es sich nich nicht eingestehen wollte. Ihre Füße fühlten sich an, als wären sie aus Blei. Schweiß lief über ihr Gesicht, tropfte brennend in ihre Augen und ließ ihre Sicht verschwimmen.
Wie lange noch?
Ihre Verfolger, Mitglieder einer rivalisierenden Verbrechergruppe, kamen immer näher.
Fluchend huschte die Lady um eine Hausecke.
Lange würde sie das nicht mehr durchhalten und nun wusste sie es selbst.
War das das Ende?
Würde sie heute sterben, mit nur 16 Jahren?
Panisch schlug sie einen weiteren Haken und rannte in eine Gasse, die sie in Richtung Innenstadt führen würde. Zwischen den Touristen zu verschwinden war ihre letzte Hoffnung.
Sie sah den Zeitungsartikel fast schon vor sich: Berüchtigte Verbrecherin 'Lady Laeta de Dolores' tot.
Darunter ein schlechtes Bild von ihr. Was eine Schande!
Ein weißer, fensterloser Lieferwagen hielt am Ende der Gasse, versperrt ihr den Weg.
Die Lady mobilisierte ihre letzten Reserven.
Nicht einmal mehr zum Fluchen hatte sie die Kraft.
Man hatte ihr also den Weg abgeschnitten, ganz übel.
Möglichst unauffällig zog sie ein Messer aus ihrer Tasche.
Sie würde diesen Brief verteidigen!
Sie würde nicht aufgeben.
Die seitliche Schiebetür das Vans öffnete sich.
Am liebsten hätte die Lady angefangen zu weinen, vor Freude.
In der Tür stand eine große Frau mit schwarzen Haaren, schwarzer Kleidung, einem hohen Pferdeschwanz und einer Pistole am Gürtel.
Die Lady erkannte sie sofort. Es war niemand anderes als Nola Schmuck.
Die Stellvertreterin der Hand höchstpersönlich war gekommen um sie zu retten.
Lady Laeta de Dolores ließ sich von der etwas älteren Frau in den Lieferwagen ziehen.
Schmuck knallte die Tür zu.
"Hast du den Brief?"
Die Lady nickte.
"Weißt du wie viele es waren?"
Die Lady nickte und hielt fünf Finger in die Luft.
Sie war noch zu erschöpft zum Reden.
"Gut."
Es war alles was Nola sagte.
Langsam hob die Lady den Blick und sah Nola Schmuck, die erste Person in die sie je geglaubt hatte verliebt zu sein, an.
Nolas Mund stand weit offen.
Blut trieft aus der Wunde an ihrer Stirn und auf ihrer Brust.
Sie wirkte ein paar Jahre älter.
Ihre Augen starrten tot und kalt ins Leere.
Sie sah so aus, wie Laeta de Dolores sie zuletzt gesehen hatte.
Sie sah so aus, wie damals, als die Lady sich endlich der Hand entledigt hatte, und auch seine Stellvertreterin getötet hatte.
Erschossen.
Der Grund aus dem sie Feuerwaffen hasste.
Lady Laeta de Dolores beugte sich über den toten Körper der anderen Frau.
"Es tut mir leid. Es tut mir so leid. In meinem ganzen Leben habe ich nichts so sehr bereut wie dich zu töten.
Aber ich liebe dich nicht mehr.
Du bist nicht echt.
All das ist nicht echt. Das ist vor langer Zeit passiert.", flüsterte die Lady und drückte der Toten einen Kuss auf die Wange. Sie wagte nicht ihre Lippen zu küssen, schließlich liebt sie Schmuck nicht mehr.
Mit blutverschmierten Mund richtete die Lady sich auf und verpasste sich selbst eine schallende Ohrfeige.
Ruckartig setzte sich Lady Laeta de Dolores auf dem Sofa, das sie als provisorisches Bett verwendente, auf.
Sie hatte den Traum schon wieder gehabt. Sie hatte ihn öfters.
Leise vor sich hin fluchend schlug sie die Decke zurück und stellte die Füße auf den Boden. Immer noch leicht schlaftrunken rieb sie sich die Augen. Verdammt!
Sie wollte nicht ständig an Nola erinnert werden! Sie hatte damit abgeschlossen!
Sie griff sich eines der Messer, welche sie auf dem Tischchen vor dem Sofa positioniert hatte, und stand auf.
Genüsslich gähnend streckte sie sich. Langsam wiegte sie das Messer in der Hand und betrachtete es.
Sie musste dringend auf andere Gedanken kommen, Nola, den einzigen Mord den sie je bereut hatte, zurück in die Tiefen ihres Unterbewusstseins verschwinden lassen, in die sie gehörte.
Eine leise Melodie vor sich hin summend schlenderte sie in Richtung des Zimmers mit der Gefangenen.
Ein bisschen Folter würde die Lady sicherlich aufheitern.
Es würde sie zumindest auf andere Gedanken bringen.
Sie hatte die Türe fast erreicht, als Tech plötzlich neben ihr stand.
"Ich habe intressante Neuigkeiten. Wie es aussieht, haben diese Typen, die du auf dem Flughafen ausgenutzt hast, eine neue Verbündete, die es auch auf dich abgesehen hat."
"Was weißt du über sie?"
"Sie hat, wie du, für 'die Hand' gearbeitet. Sie heißt... Nolla Schmuck. Sie will Rache."
"Nola Schmuck?"
"Ja, dann wird sie eben Nola Schmuck ausgesprochen. Kennst du sie?"
"Was du sagst ist unmöglich.", die Stimme der Lady war tonlos und kalt, "Ich habe Nola Schmuck getötet."
"Anscheinend nicht. Gute Nacht.", sagte Tech ungerührt und lief in Richtung ihres Schlafplatzes davon.
Mit einem wütenden Schrei stürmte die Lady in das Zimmer der Gefangenen.
Das war unmöglich!
Sie wollte nicht, dass es möglich war!
Sie hatte damit abgeschlossen!
Nola war tot!
Sie liebte Nola nicht mehr!
Sie liebte Nola nicht mehr!
Sie liebte Nola nicht mehr!
Nola lebte nicht mehr und sie liebte Nola nicht mehr!
Oder doch?
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