Kapitel 4 - Sohn des Feuers
Hristo
Früher sagte man immer; Wenn du stirbst, zieht dein Leben nochmal an dir vorbei. Man sagt, es wäre das Letzte, was man vor dem eigentlichen, toten Zustand mitbekommt. Was man aber nicht mit erzählt, ist die Tatsache, dass deine Lieben glauben, dass du bereits tot bist. Und dann äschern sie dich ein. Schließlich bist du tot.
Doch Hristo spürte die Flammen. Er spürte sie, wie sie erst warm, dann heiß seinen Körper umschlossen. Mühelos fraßen sie sich durch die bleiche, papierartige Haut und schmolzen das schüttere Haar, welches einmal in wilden, schwarzen Locken von seinem Kopf abgestanden hatte. Er erinnerte sich, wie er vor seiner Krankheit gern über die Hügel geritten war, hinauf zum Wald und an einigen Tagen bis in die Stadt jenseits der Berge. Bilder formten sich vor seinen Augen. Lachen. Sein Lachen. Ein Blitzen von perlweißen Zähnen, verzogen zu einem frechen Grinsen. Frischer Wind, der ihm das Blut in die Wangen trieb mit seinen rauen, kühlenden Böen. Wieder er, wie er im vorbeireiten Früchte vom Baum pflückt und diese mit einem genießerischen Seufzer aß.
Hristo versuchte sich an den süßen, alles überragenden Geschmack jener wilden Früchte zu erinnern, doch da wurde er zurück gerissen, spürte die Flammen erneut mit einer gnadenlosen Intensität. Er wollte schreien, sich winden, aus dem Feuer gehen, doch das war unmöglich. Sein reglos, steifer Körper war den höllischen Flammen ausgeliefert. Verzweifelt versuchte er in eine der Erinnerungen zu flüchten, die ihn eben noch so vertraut und liebevoll umspült hatte. Aber alles was er fand war sengende Hitze, brennende Knochen. Ein Körper der nach und nach zu Asche zerfiel. Und mit der Asche zerstoben auch seine Erinnerungen. Die Gesichter seiner Eltern und Freunde verschwammen, ihre Namen schienen ihm auf der Zunge zu liegen, doch je fieberhafter er sich an sie erinnern wollte, desto weiter rückte sie weg. Verschwanden. Gingen in einem schwarzen Sumpf unter.
Innerlich zitternd, stellte er fest, dass der Schmerz irgendwann abebbte und ein schwarzes, warmes Nichts zurück ließ. Endlich, dachte er voller Erleichterung. Es war endlich vorbei. Automatisch bereitete er sich darauf vor, zu verschwinden aus diesem warmen Schwarz. Er wollte jetzt weiter gehen, dass alles hinter dich lassen. All die Monate der Schwäche, all der Schmerz, er wollte das alles loswerden. Doch es geschah nichts.
Leichte Besorgnis überfiel ihn. Was wenn es nichts gab? Was, wenn es nichts nach dem Tod gab und er verdammt war, für immer in dieser Art des Daseis zu verweilen. Hätte er noch schaudern können, so hätte er das nun getan. Aber er wartete. Minuten, in denen er einfach nur darauf wartete, dass etwas passierte. Und mit jeder verstreichenden Minute schwand sein zuvor geglaubter Seelenfrieden und machte nun kommender Angst platz. Es musste doch etwas geben. Irgendetwas. Wenn schon kein Paradies, dann doch wenigstens ein weißer Raum oder... ein neuer Körper. Hristo stutzte, suchte in dem chaotischen Nichts in seinem Kopf - insofern er noch einen gehabt hätte. Jeder Gedanke, den er jedoch näher fassen wolle, rann durch seine Hände wie Sand. Dies war es also? Das hier, was immer es sein mochte? Er konnte es einfach nicht fassen, nicht dulden, nicht akzeptieren.
Und gerade in dem Moment, wo die seltsam leere Erkenntnis ihn erreichen wollte, wallte eine letzte Erinnerung in ihm auf. Eine jene, der er sich als eine der wenigen nicht zu sehen gewünscht hatte. Es war wieder er. Diesmal war sein Gesicht verhangen, sein Blick aus dunklen Augen sah alles und nichts, während er durch die nächtlichen Straßen der Stadt torkelte. Hristo erinnerte sich noch genau, er hatte damals zu viel getrunken und fühlte sich mehr als elend. Alles was er gewollt hatte, war ein Taxi und ein Bett, aber dazu sollte es nicht mehr kommen.
Hinter der nächsten Ecke, dort wo keine Laterne den dunklen Asphalt erhellt und wo es, wie er sich nun wieder erinnerte, abartig nach Urin und Tod gestunken hatte, dort kamen die Männer auf ihn zu. Es waren drei an der Zahl und nach ihrem Aussehen zu urteilen, gehörten sie zu einer Gang, die nicht selten die ärmeren Virtel terrorrierten. Ihre karlen Schädel waren mit Tattoos übersäht gewesen, genauso wie ihre mit Muskeln bepackten Oberarme. Sie sprachen Hristo an, schupsten ihn und provozierten ihn. Aber er blieb standhaft, ließ sich nicht verleiten und wollte gehen. Da traf ihn der erste Schlag. Der Knall des Aufpralls hallte in seinen Ohren wieder. Daraufhin der nächste und wieder einer.
Irgendwann, einige Schläge später erst, begann Hristo zu verstehen. Er würde hier sterben, hier, mitten auf der Straße. Und in diesem Moment änderte sich alles. Das Dröhnen seines Pulses wurde übermächtig, sein Blick schärfte sich. Die ganze Welt zog sich auf diesen einen Augenblick zusammen und richtete seinen Blick wie in Zeitlupe auf die dreißig Zentimeter lange Scherbe, die neben den Springerstifeln des einen lag.
Das nachfolgende geschah in weniger als einer Sekunde. Hristo griff nach der Scherbe, richtete sich auf und das nächste, woran er sich erinnerte, war das Geschrei einer der Männer, der seine prankenartige Hand auf die spritzende Wunde an seinem Hals presste. Überall war Blut. Hristo ertrank in Blut, während er kalt und äußerlich unberührt zusah, wie der Mann, der ihn eben noch verletzt hatte, langsam auf die Knie sank und schließlich in einer scheinbar gigantischen, dunkel schimmernden Pfütze ertrank.
Damit endete die Erinnerung, die wie ein Lichtblitz durch Hristo geschossen war und nun eine bleierne Müdigkeit hinterließ, der er sich nicht widersetzen konnte. Dann sog die Schwärze alles Sein in ihm auf.
Er blinzelte träge in die morgendliche Sonne, die über seinen Körper leckte wie die kundigen Finger einer Liebhaberin. Ein schiefes Grinsen huschte über sein Gesicht, gefolgt von einem schnurrenden Lachen. Er träumte also immer noch. War noch immer im Zirkel seiner Erinnerungen gefangen.
Fast erwartete er, die Stimme seines besten Freundes zu hören, die ihn damit aufzog, dass er schon wieder in der Sonne eingeschlafen war. Das war nicht unüblich, es gab fast keinen Tag, an dem er nicht in der Sonne geschlafen hatte. Doch einen Schönheitsfleck hatte diese vermeindliche Erinnerung; Er konnte sich nicht vorstellen, je nackt dabei gewesen zu sein. Nicht mal im Sommer. Und außerdem verzerrte sich die Stimme seines Freundes und wirkte mal höher, mal tiefer und schien sich nie auf einer Tonlage festzulegen. Generell fiel Hristo auf, dass er sich weder an das Gesicht noch an die Stimme seines Freundes erinnern konnte. Da war einfach nichts. Kein Bild, kein Hinweis, nicht mal seine Haarfarbe fiel ihm ein. Kannte man die Haarfarbe seines besten Freundes nicht? - Es war verwirrend. Als hätte dort in seinem Kopf nie etwas existiert, als die letzte Erinnerung und das Gefühl zu verbrennen. Ein letzte Erinnerung, die ihn mehr ängstigte, als er sich eingestehen wollte. Und dann diese Flammen. Diese grausamen, glühenden Flammenzungen, die ihm die Haut von den Knochen gepellt hatten.
Was war er für ein Mensch, diesen Kerl getötet zu haben? Klar, er hatte Hristo angegriffen, aber ihn einfach so niederzustrecken? Das konnte nicht richtig sein, sowas würde Hristo nicht tun... oder?
Er lauschte in die finsteren Abgründe seiner Seele, gleichzeitig besorgt, er könnte etwas finden, was ihn noch mehr beängstigte. Hastig verschloss er alles in seinem Inneren und schirmte die Augen mit der Hand ab, ehe er sich aufsetzte und tief durchatmete. Wenn er nicht daran dachte, würde es leichter werden. Es würde unwichtig werden. Jedenfalls redete Hristo sich das so ein, wie er es schon so oft getan zu haben schien.
Zu seiner Verwunderung fand er neben sich einen Stoffhaufen vor und einen Brief, den er ungeöffnet bei Seite legte und sich anzog. Zwischen den Kleidern fand er ein seltsam anmutendes Armband, welches einen silbernen Anhänger in Form einer Tatze hatte. Kurz betrachtete er es argwöhnisch und stopfte es dann mit dem Brief in seine Tasche.
Die weißen Kleider fühlte sich gut auf seiner Haut an und hoben seinen dunklen Ton besonders hervor. Eine sanfte Umschmeichelung des Körpers, die ihn nicht behinderte und ihn so gut wie gar nicht einengte.
Hristo schaute sich daraufhin flüchtig um und registrierte erst jetzt, dass dieser Ort seltsam war. Die dunkelroten Rosen an den hohen Hecken standen in voller Blüte, als pflegte sie jemand mit Schweiß und Herzblut. Es ging ein Weg von der kleinen runden Lichtung ab, den Hristo allerdings nicht weiter betrachtet. Was seine Aufmerksamkeit mehr fesselte, war die Anwesenheit einer weiteren Person. Unschuldig wie ein Kind lag ein junger Mann unter einem Olivenbaum und schlief. Sein unordentliches blondes Haar hing ihm in die angespannt zerknitterte Stirn und der markante Kiefer zuckte unruhig. Hristo kannte diesen Jungen nicht, da war er sich sicher, auch, wenn er zur Zeit wahrscheinlich nicht mal seinen besten Freund erkannt hätte. Aber irgendwas machten diesen jungen Mann für Hristo interessant.
Leise ging er auf den Schlafenden zu, darauf bedacht ihn nicht zu wecken. Doch da er keine Schuhe trug, weil der Boden im allgemeinen relativ warm war, fiel ihm das auch nicht gerade schwer. Die Schlaf des anderen war tief und offensichtlich verstörend, denn er zuckte immer wieder heftig, als wüsse er sich wehren oder weglaufen. Der Anblick faszinierte Hristo so elementar, dass er neben dem Jungen in die Hocke ging und ihn einige Momente lang beobachtete. Er trug die gleiche, weite Kleidung wie er auch und war darunter sichtlich athletisch und gut gebaut. Hristo brauchte nicht lange, um zu sehen, dass der Blonde gut einen Kopf größer war als er. Würde er im Ernstfall eine Chance gegen ihn haben?
Dann glitt sein Blick über etwas goldenes. Ein Kompass aus filigraner Schönheit blitzte durch den Stoff. Er war nicht besonders groß und verbunden mit einer Kette, die der junge Mann trug. Hristo biss sich auf die Lippe, zögerte kurz und streckte dann seine Hand danach aus. Ein Blick auf dieses kleine Schmuckstück war doch nicht verboten, oder?
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