Kapitel Einundvierzig: Besuch
F A I T H
Seit einigen Tagen sind wir nun hier in Boston. Heath und ich waren jeden Tag unterwegs, haben uns viele dieser wundervollen Sehenswürdigkeiten angesehen, die uns diese Stadt zu bieten hat. Manchmal hat uns eine von Heaths Schwestern begleitet, um uns auch an Orte zu führen, die nicht überfüllt von Touristen sind. Dabei haben wir uns angefreundet, was mich sehr freut. Lynn und ich halten aber noch eine gewisse Distanz, da ich das Thema gestern kurz angesprochen habe. Mal sehen, wie lange ich brauchen werde, bis sie ihre Meinung ändert.
Heute ist unser letzter Tag hier in Boston und irgendwie bin ich traurig darüber. Die Familie Thompson hat mich so herzlich begrüßt, was mir unendlich viel bedeutet. Aber wenn ich mir Heath ansehe, dann ist es vielleicht das Beste, dass wir abreisen. Es ist, als würde seine Anspannung jeden Tag größer werden. Er scheint wieder vermehrt distanziert zu sein, nicht ganz bei mir und ich würde gerne wissen wieso.
»Wo gehen wir heute hin?«, hakt Kira nach, als wir uns alle an den Tisch setzen, um das Frühstück zu genießen. Samantha und Craig sehen mich interessiert an, jedoch zucke ich unwissentlich mit den Schultern.
»Ich dachte, dass wir heute die Harvard University besichtigen können«, denke ich laut, bevor ich einen Bissen nehme.
»Oh, da könnte ich euch etwas arrangieren«, schaltet sich Craig in die Unterhaltung ein und lächelt mich an.
Craig Thompson ist ein ruhiger und liebevoller Mann. Er ist das Gegenteil von Samantha und hat mich am Anfang nur kurz begrüßt. Ich dachte zuerst, dass er mich nicht mag und er mich nicht für die richtige Frau an Heaths Seite sehen würde. Nur habe ich mich darin getäuscht. Am nächsten Tag hatten wir eine wirklich gute Unterhaltung und dabei hat er mir all die Zweifel genommen, die noch in mir geherrscht haben. Außerdem wollte er mich nicht noch mehr überrumpeln. Er hat bemerkt, wie überfordert ich am meinem ersten Tag hier war.
»Wirklich?«, hake ich nach und strahle ihn dabei an.
»Das ist nicht nötig, Dad. Wir haben heute keine Zeit, weil wir jemanden besuchen werden.« Heath schaut dabei seine Familie eindringlich an. »Faith und ich sind heute allein unterwegs.«
Mit großen Augen sehe ich ihn an. Ich wusste gar nicht, dass er etwas für uns geplant hat und durch seine Worte entsteht ein mulmiges Gefühl in meiner Bauchgegend. Will er mir heute erzählen, was ihn in den vergangenen Jahren bedrückt hat? Ist heute wirklich der Tag der Wahrheit?
Aber wen besuchen wir denn? Gibt es noch jemanden in seinem Leben, den ich kennenlernen muss?
»Das ist doch okay. Dann wünschen wir euch einen aufschlussreichen Tag«, sagt Craig mit einem gezwungenem Lächeln und macht es damit nicht besser. Viel mehr löst sein Gesagtes eine Nervosität in mir aus.
»Vielleicht klappt es das nächste Mal, wenn wir euch wieder besuchen«, bemerkt Heath noch, bevor er sich wieder seinem Essen widmet.
»Oh, definitiv. Aber ihr müsst uns auch mal besuchen. Brices Creek wird euch bestimmt gefallen«, sage ich und lade sie somit zu uns ein. Es würde sicherlich auch Heath guttun, wenn er nicht jedes Mal hierherkommen muss. Diese Tatsache kann ich verstehen und vielleicht nach diesem heutigen Tag noch mehr.
»Bereit?«, hakt Heath nach und sieht mir dabei in die Augen. Schnell trinke ich den Kaffee aus und stehe auf. »Klar, wir können gehen.«
Zusammen verlassen wir das Haus, um in das Auto zu steigen, das er sich von seinem Vater geliehen hat. Eine beängstigte Stille hat sich zwischen uns gebildet, die ich nicht gewillt bin zu durchbrechen. Viel mehr konzentriere ich mich auf die Straße, um herauszufinden, wo wir hinfahren. Auch wenn das eigentlich völliger Blödsinn ist, da ich mich hier kein Stück auskenne.
Heath blickt kein einziges Mal zu mir, sondern scheint tief in Gedanken zu sein und umklammert fest das Lenkrad, bis seine Knöchel weiß hervortreten.
Plötzlich hält er an und als ich mich umsehe, stockt mir der Atem. Mit geweiteten Augen blicke ich umher und kann nicht fassen, wo wir in diesem Moment sind.
»Heath«, flüstere ich erstickt und sprachlos. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Zudem bin ich mir nicht sicher, ob ich dafür bereit bin und ich hätte nicht gedacht, dass er heute hierher kommen wollte.
Tief atmet er ein, bevor er sich zu mir wendet. In seine Iriden ist ein enormer Schmerz zu erkennen, der mir einen Stich in meiner Brust verpasst. Automatisch wandert meine Hand dorthin und massiert die Stelle. Ein kleiner Versuch, dieses elendige Gefühl abzumildern.
»Lass mich dir alles erklären, bevor du mich mit Fragen bombardierst. Hör mich erstmals an und dann kannst du dir ein Urteil über mich bilden.«
Nach diesen Worten steigt er aus dem Wagen aus und wartet vor dem riesigen Tor auf mich. Mit zitternden Gliedmaßen folge ich ihm, während ich ein Loch in seinen Rücken starre. Ich will mich nicht umsehen, da mich dieser Anblick traurig macht.
Ruckartig bleibt er stehen und sieht auf den Stein hinab, vor dem ich mich so sehr fürchte. Kein Wort dringt aus unseren Münder. Niemand sagt ein Wort und eigentlich will ich ihn mir nicht ansehen. Aber ich zwinge mich dazu und sobald ich die Inschrift lese, zieht sich alles in mir zusammen.
Ihr werdet für immer in unseren Herzen weiterleben und niemals in Vergessenheit geraten.
Rachel Emma Thompson
Geliebte Ehefrau und Mutter
Olivia Jane Thompson
Geliebte Tochter
Meine Hand wandert zu meinen Lippen, als sich Tränen in meinen Augen bilden, die ich nicht aufhalten kann oder will. Schluchzend starre ich das Grab der beiden an und ich will mir nicht vorstellen, was in Heath vor sich gehen muss. Ich konnte ihn immer bis zu einem gewissen Punkt verstehen, aber das zu lesen fügt alle Puzzleteile zusammen, die mir noch gefehlt haben. Eins nach dem anderen wird sorgfältig platziert, bis ich das komplette Bild in meinem Kopf sehen kann.
Aus diesem Grund ist er vor sechs Monaten ausgerastet. Aus diesem Grund hat er mich von sich gestoßen. Immer und immer wieder. Aus diesem Grund denkt er, dass er es nicht verdient hat, glücklich zu sein.
Dieser Mann vor mir ist gebrochen und voller Schuldgefühle, die ihm kein Glück erlauben.
»Weißt du, wieso ich die Scheidung von dir wollte?«, fängt er mit einer emotionslosen Stimme anzureden, die mir eine gewaltige Gänsehaut beschert. Er versucht seine Emotionen im Zaum zu halten, jedoch ist diese Art schlimmer, als wenn er mich aus wässrigen Augen ansehen würde. »Als ich dich in diesem Krankenhaus gesehen habe, war ich kurz vor einer weiteren Panikattacke. Bilder sind auf mich eingeprasselt, die ich in einer Schublade gesteckt habe. Bilder, die mich in wieder in dieses tiefe und schwärzliche Loch fallen gelassen haben und ich war machtlos gegen sie.«
Kein einziges Mal blickt er auf. Seine Augen sind auf die Gräber fokussiert, jedoch kann ich das Zittern erkennen, das durch seinen Körper geht. Langsam lässt er es zu. Er lässt zu, dass die Gefühle an die Oberfläche gelangen.
»Ich wusste von Hunter, was passiert ist und dachte nur: Fuck! Wieder einmal ist es meine Schuld, dass sich jemand verletzt. Wieder konnte ich jemanden, der mir unglaublich wichtig ist, durch meinen eigenen Fehler verlieren. Wieder einmal wurde mir klar, was für ein Monster ich bin.«
Seine Schultern fangen an zu beben, zeigen mir, dass dieser wundervolle Mann weint. Er weint hemmungslos und als ein Schluchzer seinen Lippen entkommt, kann ich mich nicht mehr aufhalten. Mit einem dumpfen Geräusch lasse ich mich auf den Boden fallen, winkle meine Knie an, während ich sie umarme.
Heath hat es gehört, nur will er nicht zu mir schauen, was ich auf eine Weise nachvollziehen kann. Er zeigt sich mir bereits verletzlich, aber ihn komplett seelisch nackt zu sehen, ist für ihn in diesem Moment zu viel.
»Rachel und Olivia sind wegen meiner Dummheit gestorben. Sie sind nicht mehr da, weil ich ein Idiot gewesen bin und beinahe hätte ich es geschafft, diesen Vorfall zu wiederholen. Mit dir.«
»Heath«, krächze ich, unfähig etwas anderes zu erwidern. »Nein, Faith. Lass mich bitte ausreden. Bitte.«
Seine Stimme trieft vor Schuldgefühlen und Schmerz. Tief atmet er ein, bevor er sich zu mir umdreht, da er sich umentschieden hat. Mit wässrigen Augen, nassen Wangen und einem Blick, den ich niemals vergessen werde, mustert er mich auf dem Boden.
»Du hast mir versprochen, dass du mich davon abhältst, dich gehen zu lassen. Du hast versprochen, dass du mich daran erinnern wirst und trotzdem hast es nicht getan. Erst viel zu spät habe ich gemerkt, was für einen Schaden ich angerichtet habe und das tut mir unendlich leid. Wirklich, Faith, ich meine es vollkommen Ernst.«
Stumm sehe ich ihn an. Ich weiß, dass ich mein Versprochen gebrochen habe. Aber ich dachte, dass es besser ist, da er sich endlich mit allem auseinandergesetzt hat. Endlich hat er es zugelassen und aus diesem Grund habe ich geschwiegen. Die Angst war zu groß, dass er sich wieder dagegen wehren würde.
»Das sollte kein Vorwurf an dich sein. Versteh mich nicht falsch. Aber diese Erinnerung hat mich wahnsinnig gemacht, sodass ich alles um mich herum zerstören wollte und genau das habe ich getan.«
»Du hast es nicht zerstört, Heath. Du kannst mich von dir stoßen, so oft du willst. Aber eins musst du wissen, ich werde immer da sein und dir die Hand reichen, wenn du sie brauchst. Ich bin immer für dich da, weil du der wichtigste Mensch in meinem Leben bist.«
Ich kann nicht anders, als ihm zu widersprechen. Es stimmt nicht, was er da sagt. Heath hat unsere Beziehung nicht zerstört. Und ich werde nicht aufhören, ihm das immer wieder und wieder zu sagen. Er soll wissen, dass ich da bin und nicht vorhabe aus seinem Leben zu verschwinden.
»Sag das erst, sobald du die ganze Geschichte kennst. Entscheide dich am Ende, wenn du alles über mich weißt und siehst, was für ein schlechter Mensch ich bin.«
Der Schmerz ist enorm und ich leide mit Heath mit. Jede Sekunde, die vergeht, ist qualvoller und etwas, dass ich nie in meinem Leben gefühlt habe. Ich kann es nicht beschreiben, auch wenn alles in mir weint und blutet. Am liebsten will ich diesen Mann in den Arm nehmen, versuchen den Schmerz abzumildern. Er wird zwar nie verschwinden, aber diese Schuldgefühle dürfen nicht sein.
»Da kannst du lange darauf warten, Heath. Ich werde dich niemals in einem negativen Licht sehen. Nie! Also sag mir, wieso denkst du das? Erzähl mir endlich alles und lass mich entscheiden, was ich für richtig halte. Ich will alles hören.«
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