• Die Melodie der Freundschaft •
¤ in unserer Zeit ¤
Ihr Blick ging ins Leere. Müde vom immerselben Tagesablauf starrte sie vor sich hin und ließ sich vom Bus herumfahren. Sie fühlte sich einsam und allein gelassen. Eigentlich müsste sie jetzt in der Berufsschule sitzen, aber sie hatte keine Kraft dafür. Es gab einfach Tage in ihrem Leben, da wollte sie nur im Bus durch die Gegend fahren, andere Menschen beim Leben und Lachen beobachten. Genauer gesagt gab es diese Tage erst seit drei Wochen. Seit ihr bester Freund nach Mittweida gegangen war, um sein Biotechnologie-Studium zu absolvieren. Dafür hatte er sie in der ostdeutschen Provinz zurückgelassen und war seinem Traumberuf gefolgt.
Tief seufzend blickte sie über die kleinen, mit uraltem Putz verkleideten Häuser, die sich mit ihren winzigen Vorgärten an der Straße drängten, hinweg zu den dunklen und lehmigen Äckern, die die Dörfer hier umgaben. Der Bus wendete auf dem Rathausplatz der kleinen Gemeinde und spuckte die Fahrgäste aus, die mit ihr im Bus gesessen hatten. Der Fahrer betrachtete sie mit kritisch zusammengezogenen Augenbrauen, weil sie sich heute nun schon zum dritten Mal weigerte, in dem Städtchen auszusteigen und zur ortsansässigen Berufsschule zu gehen.
Ruckelnd schlossen sich die Türen und der Bus fuhr ab. Er sollte noch einmal an der Fleischerei halten, bevor er zum nächsten Dorf weiterfuhr. Vor der Fleischerei bremste der Bus mit quietschenden Reifen ab und öffnete ächzend die Türen, obwohl weder jemand ein- noch aussteigen wollte. An einem Fahrradständer vor dem Geschäft saß ein mittelgroßer Hund mit sandfarbenem Fell. Sein offensichtlich modebewusstes Frauchen, das gerade an der Theke stand und Fleisch kaufte, hatte eine silberne Schleife an seiner mittellangen Mähne befestigt.
Er erwiderte den abschätzigen Blick des Mädchens und für einen kurzen Augenblick hielten beide die Luft an, weil sie etwas Einmaliges spürten.
¤ circa 8000 Jahre vor unserer Zeit ¤
Leichtfüßig flog er dahin. Wie ein sandfarbener Pfeil jagte er hinter dem Hasen her, immer schneller und schneller. Bald schon fielen seine Rudelkumpanen zurück und ließen ihn seine Mission allein beenden. Noch zwei Sätze, noch einer. Frische, saubere Luft wehte ihm um die Nase, als er mit einem für seinen kurzen Körper fast schon übernatürlich weiten Sprung auf sein Opfer zuschnellte. Nach einem kurzen Seufzen schlug er seine Fangzähne in die Hauptschlagader des Hasen und beendete dessen Lauf für immer. Ruhig trat ein Mädchen neben ihn. Sein Mädchen. Behutsam nahm sie ihm den getöteten Hasen ab.
»Das war der letzte Hase für heute. Vater wird stolz auf dich sein, Inu.«, flüsterte sie ihrem blonden Jagdbegleiter in einer längst vergessenen Sprache in die großen Ohren.
Aus einem kleinen Lederbeutel an ihrem Gürtel holte sie eine Handvoll Trockenfleisch. Während sie sich den Hasen über die Schulter warf, gab sie Inu das Fleisch. Im Licht der untergehenden Sonne machten sie sich auf den Heimweg, zurück zu dem kleinen Zeltlager, das der Stamm des Mädchens in der Nähe errichtet hatte.
Bedrohlich und kalt leuchtete der Nordstern über ihnen. Mondzyklus um Mondzyklus waren sie durch diese klirrende und eisige Region gestapft, die ihr Vater Beringia nannte. Es wuchsen kaum Gräser, geschweige denn Bäume. Ohne ihn und seine Brüder hätte es die Familie sicher nicht bis hierher geschafft.
Stumm traten das Mädchen und der Hund in den Schein des winzigen Feuers, das nur brannte, weil die Jäger am naheliegenden Meer hin und wieder eine Robbe erlegen konnten, mit deren Tran sie die Flamme am Leben hielten. Mit einer tiefen Verbeugung legte das Mädchen den Hasen vor ihrer Großmutter ab. Diese strich mit ihren knorrigen Fingern drei Mal bedächtig über den Bauch des Hasen und murmelte geheimnisvolle, unverständliche Worte. Dann häutete sie ihn geschickt und entnahm ihm Herz, Niere und Leber. Das restliche Fleisch wurde in eine Steinschale gelegt, um zusammen mit mehreren anderen Schalen ins Feuer geschoben zu werden.
Klar und deutlich erscholl der Gesang der alten Frau wie jeden Abend, in den schon bald der gesamte Stamm seine Stimmen einfließen ließ, während die Hunde mit geschlossenen Augen den Tönen folgten. Bis tief in die Nacht sang die Stammesälteste weiter, während es sich die Zeltbewohner auf ihren Grasmatten bequem machten. Bis auf das Mädchen waren bald alle eingeschlafen. Sie rollte sich unruhig von der einen Seite auf die andere, umklammerte dabei ängstlich ihr ledernes Armband, in das ihre Mutter einst die Silhouette eines Hundes eingebrannt hatte.
Währenddessen entfernte sich Inu, der erfolgreiche Jäger, unbemerkt von seinem Rudel. Immer weiter und weiter trugen ihn seine erfahrenen Pfoten, bis er nicht einmal mehr den Geruch des Feuers wahrnehmen konnte. Er erwählte einen kleinen Schneehügel, von dem aus er den Mond betrachten konnte. Zahllose Gedanken huschten ihm durch den Kopf ähnlich der Lichter, die in allen erdenklichen Farben über das Himmelzelt flackerten. Sie waren die Seelen der kommenden Generationen, die auf ihre Familien hinabsahen und sie in eine sichere Zukunft zu führen versuchten. So hatte die Großmutter des Mädchens das Phänomen erklärt.
Die geheimnisvollen Himmelszeichen ließen das cremefarbene Fell an der Brust, der Kehle und den Wangen des Hundes stumpf und durchscheinend wirken. Als wäre er nur ein Geist, der verstaubte Körper eines ehemals kräftigen, sandfarbenen Jägers. Wenn der Blick seiner pechschwarzen Augen den eigenen traf, glaubte man, in ein Schwarzes Loch zu fallen. Immer weiter und weiter, ohne seinen Blick jemals wieder von dem seinen lösen zu können. Ohne den obligatorischen Strohhalm, mithilfe dessen man sich seinem Bann entziehen und es wieder ins Licht schaffen könnte.
¤ in unserer Zeit ¤
Knirschend schlossen sich die getönten Türen des Busses und unterbrachen den intensiven Blick zwischen ihr und dem angebundenen Hund auf dem Fußweg. Sein Frauchen löste gerade seine Leine, weswegen sein zurechtgeföhntes, auf dem Rücken bunt gefärbtes Fell für das Mädchen sichtbar wurde. Ein dunkler Sternenhimmel strahlte ihr von seinem Rücken entgegen.
Während das Mädchen versuchte, an die Heckscheibe des abfahrenden Busses zu kommen, wendete der Hund, schüttelte kurz sein sandfarbenes Fell und folgte seinem aufgetakelten Frauchen in die Gegenrichtung.
Schwer atmend sank das Mädchen wieder auf einen freien Platz. Ihr Blick fiel auf das lederne Armband, das ihr bester Freund ihr zum Abschied geschenkt hatte. Sein Wegzug hatte in ihrem Leben ein riesiges Loch hinterlassen. Ein Schwarzes Loch, das sie immer weiter aufsog, bis sie vor Einsamkeit eingehen würde. Er hatte alle Farben, Gerüche und Empfindungen mit sich genommen. Eine Freundschaft auf Distanz würde nicht lange bestehen bleiben, und das wussten sie beide. Vor allem aber würde sie nie wieder so vertraut und intensiv sein wie früher.
Erst als sie dem Bann des Hundes erlegen war und in dem Tagtraum den Liedern der ersten Besiedler Amerikas und ihren Hunden, die von Asien über die Beringbrücke gekommen waren, gelauscht hatte, war das altbekannte Gefühl zurückgekehrt. Sicher war das, was sie soeben erlebt hatte, eine farbenfrohe Fantasie gewesen, doch das wohlig-glückliche Kribbeln in der Magengegend blieb. Das, was sonst nur ihr bester Freund in ihr auslösen konnte. Geborgenheit. Innere Wärme, die jede Wunde kittete, jede Narbe glättete. Halt gab. Lächeln schenkte.
Doch nun lagen 270 Fußkilometer zwischen ihr und dem Gefühl, zwischen ihr und ihm. Sie lehnte sich in ihrem Sitz zurück und begann, eines der Lieder der Siedler zu summen. Rhythmisch und doch befreit, kehlig und doch zart, allein und doch zusammen. In ihrem Kopf vervollständigte sich die Melodie, durchzog sie und setzte Adrenalin frei. Adrenalin, das sie sich besser fühlen ließ. Es hatte zwar nicht die Stärke der Geborgenheit, erzeugte in ihr aber dennoch ein Glücksgefühl. Sie war nicht allein. Es war an der Zeit, ebenfalls einen Neustart zu wagen. Neue Gegend, neue Menschen, neue Aufgaben. Dieses Mal wollte sie mutiger sein, ihr Leben selbst in die Hand nehmen und sich einen Wunsch erfüllen, dessen Ausführung ihr bisher zu viel Angst eingejagt hatte. Sie wusste, dass er auf sie stolz sein würde, wenn sie es tat, und sollte sie sich doch einmal einsam fühlen, so konnte sie ihren Blick einfach gen Himmel heben. Denn auch wenn dieser wolkenverhangen war, so wusste sie doch, dass alle unter demselben Himmelszelt lebten. Ihr bester Freund würde jeden Abend dieselben Sterne sehen wie sie. Vielleicht sogar dieselbe alte Melodie vernehmen wie die, die sie gerade summte, wenn sie nur fest genug daran glaubte.
///////////////////////////////////////////////////////////////////////////
> erste Fassung vom 19.01.2020
> inspiriert durch die Recherche über American Dingos und die erste Besiedlung Amerikas
> Spielort "heutige Zeit": im erweiterten Sinne meine Heimat; hinzugefügt nach einem Klassenausflug zu einem Freizeitpark, der in der sächsischen Pampa liegt
> ein riesiges Dankeschön an msfolivora für ihr zeitnahes und kritisches Betalesen 😁
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro