Rot
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Es ist der Abend vor meinem Abschluss. Als ich zu Bett ging und einschlief, stand ich plötzlich in einem Raum. Es war eine kleine Küche. Ofen und Schränke waren aneinander gequetscht. Eine kleine Essecke und ein Boden aus quadratischen Fließen, die mit Blumenmustern verziert waren. Ich drehte mich um und hinter mir saß ein alter Mann auf einem Schaukelstuhl. Er streichelte eine dicke Katze. Bald schon reckte sie sich und sprang von seinem Schoß, mir entgegen. Sie landete und wackelte gemächlich in die Küche. Der Alte drehte sich ebenfalls zu mir und fragte: „Sag, willst du eine kleine Geschichte hören?"
Ahnungslos bejahte ich seine Frage.
„Gut, gut.", antwortete er mit einem Lächeln. „Dann sollst du die Geschichte deines ersten Todes erfahren!"
Er begann zu erzählen.
Vor sehr, sehr langer Zeit gab es einen kleinen Jungen. Er lebte eine zufriedene Kindheit. Viele Freunde und ein ruhiges Elternhaus. Keine Probleme und viel Spaß. Der Junge wurde immer älter und bald kam er in die Schule. Von einigen Freunden musste er sich trennen, aber hatte immer noch sehr viel Spaß mit den anderen. Doch etwas änderte sich an ihm. In den ersten Jahren sah man es ihm nicht an. Er derselbe, doch nach etwa vier Jahren merkte man langsam aber sicher einen Unterschied. Er veränderte sich nicht äußerlich. Auch sein Wesen blieb gleich. Doch dennoch änderte sich etwas. Wie eine Krankheit viel etwas über ihn her. Er wechselte die Schule und nur noch zwei Freunde blieben ihm. Er wurde erwachsener und immer mehr, immer mehr änderte sich etwas. Er blieb derselbe und doch war er anders. Er wurde älter und bald kam die Zeit, dass er seinen Abschluss bekam.
Bei einer großen Zeremonie bekam er dieses wichtige Dokument in die Hand gedrückt. Kurz bevor er zugriff, um seinen ersten Schritt ins erwachsene Dasein zu machen, stockte er.
Er war nur wenige Millimeter davor entfernt sein Leben als Erwachsener zu beginnen und trotzdem hielt ihn etwas im Inneren zurück.
Er griff zu. Alles wurde allmählich immer weißer. Alles begann immer mehr zu verschmelzen. Die Glückwünsche und Jubelrufe der Leute rückten immer mehr in den Hintergrund, alles wurde immer und immer heller.
Bis er sich vor der Helligkeit schützen musste und die Augen fest zu kniff. In diesem Moment spürte er, wie ein großes Gewicht von ihm abfiel, aber er war damit nicht zufriedener. Vielmehr verspürte er nun eine gähnende Leere im Inneren. Der junge Mann öffnete seine Augen wieder und vor ihm breitete sich ein gigantisches Feld aus roten Spinnenlilien aus. Wie Blut bedeckten sie dicht die Ebene. Sie schienen frisch aufgeblüht zu sein.
Der junge Mann sah in der Ferne mehrere Personen. Er kniff die Augen zusammen, konnte aber nicht erkennen, wer es war. Mit einem Ruck setzte er sich plötzlich in Bewegung. Er fragte sich, warum er sich dahin begab. Was sollte er dort? Und doch schien sein Körper nicht zu stoppen. Mit jedem Schritt wurden einige Spinnenlilien zertrampelt und andere schwankten von ihm weg.
Als er dort ankam, sah er, wie ein Sarg von Unbekannten zu einem Grab gebracht wurden. Er wurde in die Tiefen eingelassen und mit Erde bedeckt. Für eine Weile standen die unbekannten Figuren noch da, bis sie sich unerwartet in Luft auflösten. Auch auf dem Grab sprießten rasant neue Spinnenlilien empor und füllten die entstandene Leere.
Der junge Mann, der das alles aus sicherer Entfernung beobachtet hatte, ging an das Grad um zu sehen, wer dort lag.
Seine Augen weiteten sich und er machte ein paar Schritte zurück, als er den Namen des Verstorbenen las.
Abrupt wurde er aus dieser Welt zurück ins Reale geworfen. Zurück in den Jubel. Zurück in die Massen an Menschen. Er ging von der Bühne ab und setzte sich.
„Damit endet die Geschichte", sagte der Alte mit einem Räuspern und trank schlürfend die letzten Tropfen seines Tees aus.
Eindringlich schaute er mich an. Er stand auf und schlurfte auf mich zu. Ich wollte mich bewegen, aber mein Körper hörte nicht auf mich.
„Ja, dein erster Tod.", erwiderte der alte Mann ruhig. „Aber keine Angst, du wirst noch viel öfter sterben. Bis du letztlich zu mir wirst, aber jetzt steh auf und beende deine erste Reise."
Unvermittelt schlage ich meine Augen auf. Das Licht der Morgensonne schimmert durch die Jalousien, Vögel zwitschern und setzte mich aufrecht hin.
„Irgendetwas habe ich geträumt", denke ich, während ich auf meine Handfläche starre. „Irgendetwas..."
Ich stehe auf und mache mich für meinen letzten Schultag bereit.
Es dauert nicht lange und schon beginnt die große Schulzeremonie, nach und nach werden den Ältesten ihre letzten Zeugnisse überreicht. Bald schon bin ich an der Reihe, je näher ich dem Podest komme, desto mehr Gewicht scheint auf meinen Schulter zu liegen. Meine Lungen drücken und es fällt mir schwer zu atmen. Ich gehe auf das Podest und will das Dokument greifen, aber etwas hält mich zurück.
Aber trotzdem greife ich zu. Aus dem kleinen unschuldigen Jungen ist nun ein junger Mann, bereit seinem Leben entgegen zu streben geworden. Die Massen jubeln und pfeifen. Es wird immer heller, immer weißer.
Rot.
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