Pass gut auf ihn auf
Sie wachte früh auf. Aufstehen wollte sie nicht, ihr Körper fühlte sich lustlos, taub und leer an, doch schlussendlich zwang sie sich zum Aufstehen. Schleppend zog sie sich an und betrachtete ihr verweintes Spiegelbild im Badezimmer. Wieder rann ihr eine Träne die Wange herunter, die sie sich schnell wieder wegwischte. Dann verließ sie das Haus. Sie aß schon seit Tagen nichts mehr und man sah, dass sie immer mehr in sich zusammenfiel. Sie stellte sich an die Bushaltestelle und wartete auf ihren Bus. Die Leute starrten sie an, tuschelten, doch es interessierte sie nicht. Es war ihr lieber, als dass ihr jeder um den Hals fiel und ihr sein unglaubliches Mitleid aussprach. Als sie aus dem Bus stieg, atmete sie kurz durch. Sie versuchte ihre Tränen zu unterdrücken. Nach einiger Zeit ging sie langsam weiter. Sie lauschte dem Takt ihrer Schritte. Wie ein Schuh nach dem anderen im schlammigen Weg versank. Sie öffnete das Tor zum Friedhof, es quietschte, als ob es noch nie geölt worden wäre. Als sie den Weg weiter hoch ging, sah sie einige Menschen an ihr vorbeigehen. Die meisten weinten oder verdeckten ihr Gesicht, andere schauten bedrückt zu Boden oder starrten Löcher in die Luft. Sie wusste zu gut, wie sich die Leute fühlten, wahrscheinlich wusste sie es sogar besser, als sie alle zusammen. Nun schaute sie zu Boden, guckte sich die Fußspuren an, die die Leute hinterließen, die langsam wieder verblassten. Sie verblassten, wie die Erinnerung an die Toten. Zuerst erinnern sich viele Menschen an die Person, dann nimmt die Erinnerung ab, bis sie ganz verblasst und irgendwann ist die Person in Vergessenheit geraten. Für immer. Ein Jemand ist erst dann tot, wenn man aufhört an ihn zu denken, wenn man aufhört seine Geschichten weiter zu erzählen, deshalb darf man nie damit aufhören, denn erst, wenn er vergessen wird, erst dann, dann stirbt er. Das sagte sie sich immer wieder und deshalb waren die meisten Leute schnell von ihr gelangweilt, weil sie immer die Geschichten von ihnen erzählte, in der Hoffnung, dass sie dadurch nicht endgültig tot wären. Je näher sie ihrem Ziel kam, umso leiser wurden ihre Schritte, bis sie ganz im Morgengrauen verstummten. Dann fiel sie auf die Knie. Mit ihrer Hand durchfuhr sie die Erde von dem frischen Grab. Es war vielleicht, wenn überhaupt, eine Woche alt. Es war das Grab ihres Mannes. Dem Grabstein konnte man entnehmen, dass er nicht alt wurde. Sie guckte ihre Hand an, wieder und wieder glitt die feine Erde durch ihre Hände, selbst der leichte Regen konnte an der fast sandigen Erde nichts ändern. Ihr Blick war zu Boden gerichtet, immer wieder sah sie, wie ihre Tränen zu Boden fielen und nasse Tropfen in der Erde zurückließen. Mit einem vor Schmerzen verzerrtem Gesicht guckte sie das Grab an, dann fasste ihr jemand auf die Schulter.
"Das haben Sie nicht verdient. Es tut mir so leid. Vor einem Jahr erst der Unfall.. Das Leben ist einfach nicht fair..", sagte eine Frauenstimme, die von den vielen Zigaretten, die diese Frau täglich rauchte, ganz rau geworden war. Sie zuckte zusammen, sie hatte ihre Nachbarin nicht kommen gehört. Sie antwortete nicht, sie stand auf, ihren Blick immer noch nicht vom Grab ihres Mannes abgewendet. Nach einer Weile ging die Frau wieder. Sie aber blieb weiterhin auf der Stelle stehen und starrte auf das Grab. Sie dachte über alles Mögliche nach. Über ihre Hochzeit, die Geburt ihres Sohnes, die einzigartigen und wunderschönen Momente, die sie zusammen erlebt hatten, die ihr keiner nehmen konnte, die jedoch so sehr schmerzten. Sie zündete die Kerze auf dem Grab an, dann holte sie ein kleines Spielzeugauto aus ihrer Tasche und legte es auf einen der Steine des Grabes. Dann beugte sie sich zum Grab daneben. Es war schon älter, aber trotzdem sehr gepflegt. Dort zündete sie ebenfalls eine Kerze an. Dann schaute sie sich noch einmal um, drehte sich wieder zum Grab, das neben dem ihres Mannes lag, und flüsterte: "Pass gut auf deinen Papa auf.."
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