Sagen was man denkt...
. . .
Man kann ja vieles über mich sagen, aber ich bin immer ehrlich und sage, was ich denke. Trotzdem kann das nicht immer ein Vorteil sein; es gibt ein paar Szenarien, in denen das vielleicht nicht so gut ankommt.
Das Problem hatte ich neulich in der Straßenbahn. An einer Haltestelle stiegen zwei Jungs ein, lass sie vielleicht fünfzehn oder sechzehn Jahre alt gewesen sein. Ihre, sagen wir, im Wachstum befindliche Gesichtsbehaarung - Bärte kann man das nicht nennen - und die ins Gesicht gezogenen Kapuzen zeigten, dass die Evolution manchmal einige Generationen zu überspringen scheint.
Natürlich unterhielten sie sich im, na ja, ich sag' mal neudeutsch. Vielleicht bin ich auch nur zu alt für sowas, ich weiß es nicht.
Die beiden kamen auf mich zu, setzten sich auf die Bank vor mir und dann gings auch schon los.
. . .
"Digga, weißt du noch die von gestern?"
"Ja, klar, die ist doch voll nice. Du hängst dauernd mit der ab!"
"Echt, Digga, langsam glaube ich, das ist die richtige, das wird was Festes! Fürs Leben und so!"
"Bist du dir da sicher? Was ist denn mit dem anderen Chika?"
"Ach, die Bitch ist nur für nebenbei!"
. . .
Man mag mich ja engstirnig nennen, aber wenn es was Festes sein soll und es DIE richtige ist, warum braucht man dann eine für nebenbei? Mir käme auch nie in den Sinn, eine Frau als Bitch zu bezeichnen; das beschäftigte mich und ging mir nicht aus dem Kopf. Als ich an der nächsten Haltestelle raus musste, drehte ich mich zu den beiden um. Wie ich halt so bin, konnte ich dann meine Klappe nicht halten und musste beiden eine Frage stellen.
. . .
"Jungs, ich kam nicht drumherum, euer Gespräch zu hören. Doch wenn du glaubst, das ist DIE richtige, warum brauchst du dann noch eine Bitch für nebenbei?"
. . .
Die beiden sahen mich mit großen Augen an, keiner brachte einen Ton raus. Es wirkte, als würden sie noch tiefer in ihren Sitzen herunterrutschen. Dann wurde es Zeit für die zweite Runde.
. . .
"Oder es sagt einiges über dich aus und dass keine der zwei Mädels es verdient haben, vom jemanden so behandelt zu werden!"
. . .
Stumm drehte ich mich um und verließ die Bahn, die anderen Passagiere grinsten mich an. In der ganzen Bahn war es jedoch totenstill, irgendwo hörte man ein Handy zu Boden fallen.
Von den beiden Jungs war nichts mehr zu hören, sie zogen nur noch ihr Kapuzen tiefer ins Gesicht. Damit war scheinbar alles gesagt.
. . .
Ich hatte ja insgeheim die Hoffnung, dass der Tag besser werden würde, doch ich sollte mich täuschen.
. . .
Ich wollte mir eigentlich nur schnell etwas zu trinken kaufen. Also ging ich in den Supermarkt um die Ecke. Doch als ich mir am Getränkekühlschrank eine Cola greifen wollte, kam ich nicht umhin, das Gespräch eines Angestellten mit einer Kundin zu vernehmen. Eine ältere Dame, die sehr von sich überzeugt zu sein schien, hielt den Arm hoch und schnipste nach dem Angestellten. An ein - Hallo - oder eine Begrüßung in irgendeiner Form war nicht zu denken.
"Wo haben Sie denn den Deko-Salat?"
Ihr Schal rutschte von der Schulter, den sie hektisch wieder an Ort und Stelle drapierte. Doch der junge Mann lächelte sie trotzdem freundlich an, jedoch saß seine Arbeitskleidung, da verrutschte nichts.
"Erstmal schönen guten Tag!"
Dafür hatte die Dame scheinbar noch immer keine Zeit. Langsam öffnete ich die Glastür des Kühlschranks, griff ich nach der Colaflasche und hörte weiter, unauffällig zu.
"Ja, ja. Also?"
Der sicherlich zwanzig Jahre jüngere Mann, zwinkerte sie ein paar mal an, er schien nicht zu wissen, was das für ein Salat sein sollte.
"Äh, Deko-Salat?"
Ähnlich hätte ich wahrscheinlich auch reagiert, doch die Dame rollte nur mit den Augen. Warum weiß der Angestellte auch nicht was sie meint, das war doch eindeutig. Dennoch versuchte sie es ihm erneut zu erklären.
"Ja, dieser bunte, kräuselige Salat, auf dem die Sachen beim Buffet immer gelegt werden!"
Dann schien dem Angestellten ein Licht aufgegangen zu sein. Man konnte förmlich sehen, wie seine imaginären Finger neben seinem Kopf schnippen.
"Ach, dann meinen sie sicher den Lolo Rosso. Der ist vorne beim Obst und Gemüse in den gekühlten Regalen!"
Mit ihrem nicken quittierte sie seine Antwort. Auch wenn mir klar war, dass man frischen Salat wahrscheinlich nicht in der Getränke-Abteilung finden würde. Kopfschüttelnd griff ich nach einer anderen Cola Marke, doch die Dame hatte noch eine Frage.
"Aha, und diese Bayern Limo?"
Der Mann riss bei der Suche nach einer Antwort die Augen auf, blieb jedoch immer freundlich. Während ich räuspernd in den Kühlschrank schaute und dann nach der Tür griff.
"Bitte, was?"
Erneut schüttelte sie resignierend mit dem Kopf. Ich weiß ja nicht, was für Fragen man sich im Einzelhandel anhören muss, aber für mich wäre es mehr als nur eine Geduldsprobe.
"Na, dieses Alm-Zeug, ich soll das mitbringen!"
Erneut fiel der Groschen bei ihm, während ich noch immer im Dunklen tappte, als ich die Kühlschranktür schloss.
"Ach, sie meinen bestimmt das Almdudler!"
Na, das ist doch selbstverständlich, warum wusste er das nicht sofort? Zumindest war es in ihrem Blick zu lesen. Was sie ihm auch gleich zu verstehen gab.
"Ja, sag' ich doch!"
Doch er konnte nur die Lippen zusammenreißen und den Kopf schütteln, wohl wissend, dass seine Antwort sie nicht erfreuen würde.
"Das tut mir leid, das führen wir leider nicht!"
Entrüstet starrte sie ihn an, wie kann das sein? Man konnte sehen, dass sie sich daran immer mehr hochzog. Ich glaube, manche Menschen kamen her und wollten sich aufregen, die Angestellten waren dann der Punkt, an dem sich das entlädt.
"Das kann gar nicht sein, das habe ich hier immer gekauft!"
Doch er sagte leicht resignierend, jedoch noch immer freundlich. Bewundernswert, dachte ich nur.
"Na ja, ich arbeite jetzt fünfzehn Jahre hier, doch den Artikel hatten wir leider noch nie!"
Doch das brachte sie nur immer mehr auf die Palme, sie wurde geradezu fuchsig, sogar wütend.
"Das kann gar nicht sein, nur weil Sie zu inkompetent sind; andernfalls würden Sie sich ja daran erinnern. Vielleicht hätten Sie vor fünfzehn Jahren was Vernünftiges lernen sollen, dann müssten Sie hier keine Kisten schleppen!"
Nach diesem Satz warf sie ihm einen Blick zu, der vor Verachtung und Arroganz nahezu strotzte. Doch ich hatte mir dieses Hörspiel lange genug angehört. Es wurde Zeit, aus diesem Podcast einen Film zu machen und gesellte mich zu den beiden.
"Entschuldigen Sie bitte!"
Die Dame musterte mich verachtend von oben bis unten. Bis sie mich, noch immer wütend ansprach.
"Was wollen Sie denn?"
Ich lächelte sie nur von der Seite an, um ihr den Wind aus den Segeln zu nehmen. Doch sie verschränkte nur die Arme vor der Brust und winkelte ein Bein an.
"Nun, das will ich Ihnen sagen. Respekt, vor allem den Mitmenschen gegenüber."
Sie kniff die Augen zusammen und sah mich an, als wollte sie mich förmlich auffressen.
"Sie haben mir gar nichts zusagen! Wissen Sie, was ich in meinem Leben erreicht habe, da steht es Ihnen nicht zu, so mit mir zufrieden!"
Ich blinzelte nur einmal und beobachtete die Dame, bevor ich mich erklärte.
"Wissen Sie, ich habe größten Respekt vor Ihrer Generation und was sie leisten mussten. Doch auch der junge Mann hier hält jeden Tag den Kopf hin und bleibt trotzdem immer freundlich!"
Doch die Dame schien nicht verstanden zu haben, was ich ihr damit vermitteln wollte.
"Sie haben es ja nötig, stolzieren hier herein und pöbeln mich von der Seite an! Wissen Sie, wer ich bin?"
Ich musste mich zusammenreißen, dass ich nicht wirklich anfange zu pöbeln. Wie kann man nur so selbstgefällig sein?
"Nö, das ist mit auch egal. Ich denke, Sie kennen das Sprichwort - Wie man in den Wald hinein ruft, so ruft es zurück - also will ich es mit Ihren Worten ausdrücken: Nun dudeln Sie schon Ihren Deko-Salat holen, der liegt vorne in der Gemüse-Abteilung, neben Knopf- und dem Eishügelsalat."
"Das ist ja unerhört!" War noch zu hören, bis sie sich auf der Stelle umdrehte und mit aufgestellter Nase, auf die Suche nach der Gemüse-Abteilung machte. Der Angestellte, der das ganze Schauspiel beobachtete, grinste mich nur an, während ich ihm zu nickte und mich auf den Weg zur Kasse machte.
. . .
Sicher, ich bin direkt, vielleicht auch schonungslos ehrlich. Doch behandle ich jedem mit Respekt, kann aber auch anders, gerade wenn man sich jemanden gegenüber respektlos verhält.
. . .
Doch als ich in der Kassenschlange anstand, fiel mir etwas auf. Ahoj-Brause, in einer Gummibären-Version - nein keine Bären - eher Pommes. Wo sind wir nur hingekommen? Ich erinnere mich noch an meine Kindheit, doch da war diese Ahoj-Brause noch in kleinen, Kreditkarten großen Papiertütchen. Da passten natürlich keine Gummi-Tierchen rein, damals war es Brausepulver, in sauer. Zitrone, Himbeere, Orange und Waldmeister.
Ich erinnerte mich noch genau an damals, als wir die Dinger in den Schulpausen dabei hatten. Jeder leckte seinen Zeigefinger an und steckte ihn - Ja, ich weiß, wie sich das anhört! - in die Tüte. Das daran kleben bleibende Pulver wurde dann in den Mund geschoben - ich muss mich anders ausdrücken, fürchte ich, das könnte zu Missverständnissen führen - und uns daran erfreut, wie sich die Gesichtsnerven zusammenzogen, aufgrund des sauren Inhalts, der es mit jeder Zitrone aufnehmen konnte.
Außer vielleicht mit diesen Center-Shock Kaugummis. Doch die kennt kaum noch einer, oder gibt es die noch? Zumindest sind die ähnlich sauer - für drei Sekunden - danach unendlich süß. Also drei Sekunden sauer, für drei Euro fuffzig.
Aber wir schweifen ab.
Wo waren wir? Ach ja, auf dem Schulhof! Als sich unsere Gesichtsnerven beruhigt hatten, gab es immer einen dieser ganz harten Typen, die sich gleich die ganze Tüte in den Mund schütteten. Als ein Lehrer vorbeikam, mussten wir ihm versichern, dass der Schaum vor seinem Mund kein spontaner Tollwut-Anfall war, sondern auf die Tütenbrause zurückzuführen war.
Doch trotz allem kannte ich niemanden, der von dem Brausepulver eine Limonade gemacht hat, niemanden! Gut, später hatte man das in Wodka gekippt, auch den Krümeltee, aber das ist eine völlig andere Geschichte. Aber was soll man machen, wenn die Saftpreise explodieren?
Jedenfalls hingen neben mir an der Kasse diese Ahoj-Brause, Gummi-Pommes. Das Pulver konnte ich jedoch nirgends finden. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass die jemand kaufen würde. Wer will schon süße Gummi Dinger, mit saurer Brausepulver Ummantelung - zum Frittieren, als Krokette, wohl kaum (obwohl das süß/sauer eine völlig neue Bedeutung gibt) - ich würde sie mir jedoch nicht kaufen. Auch die direkt daneben hängenden Ahoj-Herzen nicht. Allerdings fragte ich mich, ob Lebkuchenherzen mit Brausepulver vielleicht etwas zu gewagt seien. Nein, sind sie nicht, also Lebkuchenherzen, es sind auch solche Gummis, hoffte ich zumindest.
Ich weiß ja nicht, wann der Geschmack in den letzten Jahren verloren gegangen ist. Doch sowas wird die Jugend von heute sicher nicht mehr mögen, meine Generation hat diesen Fehler vor Jahren begangen. Nochmal wird mir das sicher nicht passieren.
Langsam lichtete sich die Schlange an der Kasse etwas und es ist nur ein älterer Herr vor mir. Als die Kassiererin seine Waren durchgescannt hatte und ihm sagte, was er zu zahlen hatte. Er lächelte sie charmant an und sagte: "Einen Moment, ich hab es passend!" Ein Raunen ging durch die Schlange, doch er zog nur lächelnd einen Mundwinkel hoch. Er griff zu seinem Portemonnaie und begann darin zu wühlen. Im nächsten Moment zog er seine EC-Karte raus. Ich muss etwas lachen, genau mein Humor. Dann bedankt er sich freundlich, ich nickte ihm zu, bevor er schließlich den Laden verließ
. . .
Den weiteren Tag sind mir keine weiteren Vorkommnisse aufgefallen. Doch wer weiß, was ich die nächsten Tage noch alles erleben darf. Zu Hause lege ich mich auf die Couch und schalte den Fernseher an, um herunterzukommen. Als ich den Tag Revue passieren lasse, während ich mich von diversen Streaming-Anbietern berieseln und öffne eine Tüte saure Pommes.
. . .
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro