Was war mit ihr los?
Sie ging den Gang entlang. Wünschte sich, sie wäre nicht hier, wäre wo anders. Wäre mit ihrer Familie zu Hause, um dort ihren Geburtstag zu feiern. Doch stattdessen lief sie hoffend umher. Hoffend, dass endlich jemand wüsste was mit ihr passierte. Was sie falsch gemacht zu haben schien.
So lief sie dort, wartend auf eine Schwester, welche sie nach stundenlangem Warten in ein Behandlungszimmer beordern würde. Heute Mittag waren sie hier angekommen, waren direkt vom Krankenhaus in Frankfurt/Oder losgefahren. Die Ärzte dort wussten nicht, was ihr fehlte, was ihre Symptome bedeuteten. Sie waren vor Rätsel gestellt gewesen. Wussten nicht, was sie tun konnten.
Doch nun stand sie hier, im Wartezimmer und rätselte selbst, was mit ihr los war. Fragte sich, weshalb sie diejenige war die hier stand und niemand anderes. Hoffte, dass das alles schnell vorbei sein würde. Dass sie endlich wieder ein normales Leben führen konnte. Doch vor allem wünschte sie es sich für ihre Eltern, für ihre Familie. Seit Wochen waren sie Tag für Tag ins Krankenhaus gekommen, hatten sich sofort nach der Arbeit auf den Weg gemacht. Man konnte ihnen ihre Sorge ansehen. Sah, wie verzweifelt sie waren. Doch was konnten sie schon ausrichten? Wenn sogar das gesamte Personal im vorherigen Krankenhaus ahnungslos vor ihnen stand, und nichts wusste?
Das einzige was sie hoffen ließ, war die Verweisung hier her. Nach Berlin. Nach Berlin in die Charité. Doch was würden sie machen, wenn selbst die Ärzte in diesem Krankenhaus nicht weiterwüssten? Wenn am Ende noch ihre Tochter zum Versuchskaninchen wurde?
Abgemagert und nur noch ein Schatten ihrer Selbst war übriggeblieben. Zuerst hatte sie Schmerzen in ihren Muskeln verspürt. Immer nach dem Fußballtraining. Sie liebte es, war eine sehr motivierte Spielerin gewesen und hatte sich frech grinsend bei den Jungen durchgesetzt. Doch nun, nun war nichts davon übrig. Gar nichts. Ihre Muskeln waren wie geschrumpft und ihre Haut war übersät mit Ausschlag an den Gelenken. Ihre Eltern machten sich Vorwürfe. Schreckliche Vorwürfe. Wenn sie eher auf die Symptome ihrer Tochter eingegangen wären, wäre dann alles in Ordnung? Sie waren von normalem Muskelkater ausgegangen. So wie es nach einem Training nun mal üblich war. Erst als sie von ihrem Schwimmtraining wiederkam erschraken sich ihre Eltern. Erschraken sie sich, weil ihr Kind eine große schmetterlingsförmige Rötung im gesamten Gesicht hatte.
Sie waren am Tag darauf, als die Rötung noch immer vorhanden war, zu ihrem Arzt gefahren. Selbst er wusste nicht so recht was mit ihr nicht stimmte. Hatte in seinem großen roten Buche nachgeschaut und kurz darauf etwas das Gesicht verzogen. Er meinte, er hätte eine Vermutung, wolle sie aber nicht verunsichern und schickte sie nach Frankfurt. Nach Frankfurt wo sie nach einiger Zeit nicht einmal mehr Treppensteigen konnte. Wo alles Mögliche untersucht wurde, es ihr doch immer und immer schlechter erging. Schließlich war selbst das Laufen eine Qual. Essen wollte sie auch nichts mehr und niemand wusste was mit ihr war. Niemand wusste, was ihr fehlte. Warum sie ihre Muskelkraft fast komplett verlor und selbst das Lachen, welches so oft von ihr kam, fast nicht mehr zu hören war. Sie war erschöpft gewesen, wusste zum Teil nicht einmal was die Ärzte dort mit ihr machten.
Doch nie hatte sie es so gesehen, dass sie diejenige war, die die schlimmsten Dinge erlitt. Bedauerte ihre Zimmergenossen immer und schob ihr eigenes Leid zurück. Ihr fügte es viel mehr leid zu, wie andere litten. Wie auch ihre Eltern unter ihrem Zustand litten. Stetig versuchte sie all ihre Kräfte zu bündeln und mit einem Lächeln durch die Kinderstation zu laufen. Doch hatten ihre Eltern trotz dessen sehen können, dass es ihr alles andere als gut ging. Sie weigerte sich vehement dagegen den angebotenen Rollstuhl zu nutzen. Sie selbst wollte zeigen, dass es ihr noch nicht so schlecht erging, dass sie einen brauchen würde. Dabei schadete sie sich nur selbst. Doch niemand konnte dagegen etwas ausrichten. Lieber blieb sie im Bett liegen, als sich in einen Rollstuhl zu setzten. Sich selbst einzugestehen, dass es ihr alles andere als gut ging.
Ihre Eltern waren auf die Barrikaden gegangen. Hatten den Ärzten gesagt, dass wenn sie nicht weiterwüssten, es kein Drama wäre. Sie sollten sie nur zu jemanden bringen, der wusste was mit ihr geschah.
Und so kam es. Sie saßen nun im Wartezimmer der Dermatologie der Charité und blickten ihre Tochter an, welche sich erschöpft auf einen der Stühle sinken ließ. Kraftlos und müde lehnte sie sich an die Schulter ihres Vaters. Besorgt musterte er sie und legte einen Arm um ihre Schulter. Ihm erging es ebenso. Ebenso hilf- und kraftlos. Er fragte sich wirklich, was er tun konnte. Doch das einzige was in seiner Macht stand, war das da Sein. Das da Sein für seine Tochter. Seine Tochter, die schon so gut im Spielen von Rommé geworden war, dass er keine Chance hatte sie zu besiegen. Es schien das einzige zu sein, was ihr im Moment Freude bereitete. Und ihm auch. Ihm, weil er in dieser machtlosen Zeit seinem Kind wenigstens ein leichtes Lächeln ins Gesicht zaubern konnte.
„So, Frau Doktor Minden kann sie jetzt sprechen.", lächelte eine Schwester die letzte Familie im Warteraum an. Sie nickten und standen auf. Begaben sich allesamt aus dem Warteraum und liefen der Schwester hinterher. In ein Behandlungszimmer. Dort saß sie, die dünne, mit Brille auf der Nase, aufmunternd lächelnde Ärztin. Langsam erhob sie sich von ihrem Schreibtisch und ging auf jeden einzelnen zu, um ihnen die Hand geben zu können. Höflich lächelte sie und spendete der Familie schon allein so, ein wenig Hoffnung.
„Setzten sie sich doch bitte. Es tut mir wirklich leid, dass sie so lang warten mussten.", begann sie und setzte sich nun auch selbst vor ihren Computer, die Familie schräg neben ihr sitzend. Und dann fing die Ärztin an zu erzählen. Doch das einzige was sie verstand war, dass man ihr helfen konnte. Diese Frau vor ihr wusste was sie hatte. Wusste wie man es behandeln konnte. Auch, wenn sie das Kauderwelsch zum einen nicht verstand und zum anderen nicht richtig hinhörte, erkannte sie Erleichterung in den Gesichtern ihrer Eltern. Sie hörten der Frau gebannt zu und ließen sich einiges erklären. Doch das einzige was sie wirklich aufgenommen hatte war, dass sie ihr helfen konnte. Sie konnte ihr helfen.
„Und wie nennt sich diese Krankheit genau?", fragte ihre Mutter nach, als die Ärztin der Familie erklärt hatte, was ihrer Tochter fehlte.
„Juvenile Dermatomyositis. Es ist wie gesagt eine Erkrankung, welche im Kindesalter auftritt und bis zum Erwachsenenalter geheilt werden kann. Die Behandlung wird langwierig und schwer sein, doch bin ich guter Dinge, dass Ihre Tochter geheilt wird. Ich habe bei dieser seltenen Krankheit schon einige Patienten haben dürfen und erfolgreich behandelt. Manche davon haben auch Fußball gespielt und konnten es nach der Behandlung auch wieder. Du musst nur geduldig sein.", sprach die Ärztin an sie gewandt. Das Glänzen in ihren Augen wurde größer und ihre Freude irgendwann wieder richtig Fußballspielen zu können, ebenso. In diesem einen Moment schien doch nichts aussichtslos zu sein. In diesem einen Moment war ihr noch nicht bewusst, wie schwer der Weg wirklich werden würde. Dass sie viel einstecken und hinnehmen müsste. Das manche ihre Geschichte nicht kennen würden und sie nur danach beurteilten, wie sie durch die Tabletten aussehen würde. Doch in diesem einen Moment überwog bei der Familie die Erleichterung.
Wörter: 1215
By: Rfaehm
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