XII. Was sein sollte
-Neville und Dean-
Manchmal klopfte Regen gegen die Fensterscheiben, wenn er nachdachte. Manchmal zog dichter Nebel über die grauen Ländereien, wenn er da saß. Manchmal verschmolz der triste Papierhimmel und die unendliche Wolkendecke zu einem Gefühl von Angst und Wut, wenn er in Gedanken war. Und manchmal spürte er nichts, nur die nasse Kälte des Winters, die durch den dicken Stoff seiner schwarzen Robe kroch, wenn sein Denken alles war, was in diesen Augenblicken blieb.
So wie heute. So wie heute, wenn es regnete, wenn die Tropfen in stetigem Trommeln gegen die Fensterscheiben klopften. So wie heute, wenn dichter Nebel über die grauen Ländereien und durch seinen Kopf zog, so wie heute, wenn der triste Papierhimmel und die unendliche Wolkendecke zu einem Gefühl von Angst und Trauer verschmolz und wenn er trotz allem nichts fühlte, nicht mehr, als die Kälte des Winters, die sich tief in sein Herz grub und das Einzige war, was heute bleib.
Er saß auf einer Treppe, draußen, gelehnt an die dicken Mauern von Hogwarts, seine hagere, große Gestalt gekrümmt, die mit schwarzem Stoff gesäumten Knie dicht an das blasse Kinn gezogen. Seine Unterlippe zitterte und eine kühle Gänsehaut überzog seine Arme, doch er blieb, gewährte dem Regen auf ihn niederzuprasseln, den brennenden Schmerz in ihm zu löschen und hinfort zuschwemmen, was nicht sein sollte. Er erlaubte dem Nebel, durch seinen Kopf zu ziehen, seine Gedanken zu verflechten, undurchsichtig und fern, auszumerzen, was verboten war. Und auch das Gefühl von Angst und Wut, billigte er, er spürte es ja doch nicht, durfte nicht.
Sein Blick war auf das nasse Gras vor ihm gerichtet, starr und regungslos sah er herab auf die Wasserlachen im grünen Gras, die der Regen auf Haff und Land malte. Und er hörte den Wind, der in den hohen Baumwipfeln des Verbotenen Waldes heulte und pfiff, hörte das stetige Klopfen des Regens, wenn die Tropfen auf seinem durchnässten Haar aufkamen. Und er sah den grauen, allgegenwärtigen Nebel, der blind machte, die Ferne weit und unnahbar wirken ließ, sah die dicken tristen Wolken, dicht und unendlich, wie das Netz in seinen Gedanken. Und er spürte, wie der Regen seine Kleider durchnässte, durchdrang bis auf seine nackte Haut, wie eisige Kälte über seine Arme und seine Beine zog, spürte, wie schwere Tropfen auf seine gekauerte Gestalt herab prasselten, über seine Wangen liefen, wie kühle Tränen. Er hörte, sah und spürte, doch wahrnehmen tat er nicht. Er nahm den Wind nicht wahr, den Regen nicht und nicht den grauen Winternebel. Er merkte nichts, von dem nassen schweren Stoff auf seiner Haut, der Kälte, den Tropfen, die sein Gesicht hinunterrannen, die Wangen herunter, über die zitternden Lippen, hinab zum Kinn. Denn wahrzunehmen, Regung zu zeigen, zu merken, zu fühlen, das wäre es, was nicht sein sollte. Was man ihn gelehrt hatte, als kleiner Junge schon, was verboten war.
Und deshalb weinte Neville Longbottom nicht. Keine einzige Träne rollte über sein Gesicht, von dem Regen, dem grauen Regen, einmal abgesehen. Kein Schmerz lag in seinen Augen, kein Leid, keine Pein, obwohl sie in seinem Inneren dröhnte und brannte. Kein Zucken seines Mundwinkels, kein Runzeln seiner Stirn, kein Seufzen, kein bittendes Augenschließen, brachte er zu Tage, nichts, war Zeuge davon, wie es in ihm wütete, schmerzte und quälte. Denn wenn der Tod seiner Eltern eines mit sich gebracht hatte, wenn die strenge Erziehung seiner Großmutter ihn eines gelehrt hatte, dann, dass Gefühlsregungen jeglicher Art hinter verschlossene Türen gehörten, Tränen fort gewischt, Schmerz und Qualen mit einem falschen Lächeln bestickt und ein Spüren, wie er es vor einem Jahr bei sich entdeckt hatte, unterdrückt.
Spüren, Fühlen, wie es war, in einen Jungen verliebt zu sein. Wie es war, endlich dieses Kribbeln zu spüren, dieses warme Pochen der Liebe, dieses Hochgefühl, von dem Bücher und Filme erzählten, immer und immer wieder, welches Neville allerdings immer verwehrt geblieben war. Welches er sich wünschte zu fühlen, so viele Jahre lang, welches er probiert hatte zu erzwingen, bei Ginny auf dem Weihnachtsball, bei Luna am Anfang des fünften Schuljahres. Doch nie hatte er es gespürt. Bis jetzt. Bis vor einem Jahr. Sehnlichst hatte er es sich gewünscht, den Liebestaumel Harrys zu erleben, wenn es um Cho ging, das Leuchten in Hermines Augen, wenn sie Ron ansah und dann hatte er es gefühlt. Doch nicht bei Ginny, nicht bei Luna, nicht bei Hermine. Neville war damals heiß und kalt geworden, heiß vor Röte in den Wangen und kalt, als er daran dachte, wie seine Großmutter, die traditionelle, alteingesessene Augusta Longbottom, wohl reagieren würde, wenn sie heraus fand, dass Neville wohl nie ein feines, braves Mädchen mit nach Hause bringen würde, wie sie es seit jeher gehofft und zur Genüge betont hatte. Nie würde Neville für ein Mädchen so fühlen, wie seine Großmutter es für ihn vorgesehen hatte, nie eine solche Familie gründen, wie diese es in der Vorstellung von Augusta Longbottom war. Nein. Neville Longbottom war in diesem Moment, vor einem Jahr, klar geworden, dass er sich in einen Jungen verliebt hatte. Und er hatte geweint, als er das realisierte.
Jetzt, Monate später, versiegten diese Tränen, stetig und mit jeder dunklen Nacht, die Neville da lag, hoch oben im Turm der Gryffindors, wach und ohne Schlaf, die Hand vor die blassen Lippen gepresst, um den heftigen Schluchzern Einhalt zu gebieten. Sie nahmen ab, die Tränen, mit jedem vergangenen Tag, an dem Neville mehr und mehr klar wurde, dass Gefühle nichts waren, was sich ausknipsen, ignorieren ließ oder einfach verschwand, wenn man nur nicht daran dachte. Denn irgendwann hatte er realisiert, dass sein Fühlen sein war, nur sein, nicht das eines anderen, nicht das seiner Freunde und nicht das seiner Großmutter. Und so hatte er ihr davon erzählt, vergangenen Monat, als er über die Weihnachtstage Zuhause gewesen war. Hatte berichtet, dass er sich verliebt hatte und in wen. Und er hatte nicht geweint. Angst und Nebel waren in seinen Gedanken gewesen, Wut und die Kälte in seiner Brust hatten geschmerzt, stechend und quälend, aber er hatte nicht geweint.
In diesem Moment nahm der Regen zu, das Trommeln der Tropfen wurde unregelmäßiger, schneller, schmerzhafter auf seinem zermarterten Kopf. Doch das war nichts im Gegensatz zu der Qual, die Neville spürte, als er an die Reaktion seiner Großmutter zurückdachte. Zurückblickte, auf ihre Tränen, die stumm ihre zerknitterten Wangen hinab rollten, bloß vereinzelt, aber beständig. Sie hatte geweint ohne das Gesicht zu verziehen, in perfekter Augusta Longbottom-Manier hatte sie da gesessen, zur Teestunde, inmitten von rosafarbenen Sofakissen, gehüllt in eine lachsfarbene Bluse, hatte keine Regung gezeigt, nur die Tränen waren Zeuge davon, dass sie überhaupt vernommen hatte, was ihm nur so schwerlich über die trockenen Lippen ging. Und dann hatte sie ein Stofftaschentuch genommen, ihre Wangen abgetupft und ohne den Zweig von Betroffenheit den Kopf geschüttelt, bloß den Kopf geschüttelt. Neville hatte etwas sagen wollen, damals, vergangenen Monat, hatte den Mund geöffnet, sich erklären wollen, sagen, dass das doch keine große Sache war, dass es heutzutage kein Problem mehr war, bei einem Manne zu liegen, wie bei einer Frau. Doch bevor überhaupt ein einziger Ton über seine Lippen gekommen war, hatte Augusta Longbottom ihre zierliche Hand gehoben, jeden Einwand, jede Erklärung in den Wind gestoßen. Nichts als eisige Kälte hatte in ihrem Blick geweilt, als sie schneidend geflüstert hatte, dass er log. Dass das nicht ihr kleiner Neville war, nicht ihr Neville, der einmal ein schönes Mädchen zur Frau nehmen würde, das ihm Kinder und eine Familie schenken würde. Seine Großmutter hatte ihn gemustert und dann so leise, dass Neville den Vorwurf, den angewiderten Unterton in ihrer Stimme kaum hörte, gewispert, dass er ihr fremd sei. Dass sie nicht mehr wusste, wer er war, ihn nicht mehr als ihren wundervollen Enkel erkannte. Dass sein Gedankennetz ein Hirngespinst war und nichts, als die reine Unwahrheit. Dass sein Fühlen etwas war, was nicht sein sollte.
Und dann hatte sie ihn zurück nach Hogwarts geschickt, noch vor dem Heiligen Abend war er zurück gekehrt, mit Tränen in den Augen, Wut im Bauch und Kälte in der wie zugeschnürten Brust. Hatte sich auf sein Bett geschmissen, doch kein einziger Schluchzer hatte ihn geschüttelt, keine einzige Träne hatte sich den Weg über seine blassen Wangen gebahnt. Denn da war nichts mehr. Nur noch diese bittere Winterkälte, die sich durch seine Kleidung fraß, alles für sich einnahm, bis da nichts mehr war, als allgegenwärtiges, unendliches Kühl.
Neville hob den Zeigefinger, strich sich eine der langen Strähnen von der regennassen Stirn und dachte daran, wie es wäre, so zu sein, wie es sollte. So zu sein wie Ron mit Lavender und Harry mit Cho wie Seamus mit Parvati und... Dean mit Ginny. Dean mit Ginny und der Stich, den es Neville jedes Mal versetzte, wenn er die beiden zusammen sah, sich küssend und liebkosend, lachend und glücklich, wie Neville sich wohl nie fühlen würde. Denn sich in einen Jungen zu verlieben, als Teil einer alteingesessenen Familie, die Wert auf Norm und Ordnung legte, war eine Sache. Dass dieser Junge jedoch Dean Thomas, Nevilles bester Freund war, eine ganz andere. Immer hatte Neville auf den plötzlichen Knall gewartet, die Liebe auf den ersten Blick, im ersten Aufeinandertreffen mit einem Mädchen, wie seine Großmutter es sich vorstellte. Er hatte ein plötzliches Hochgefühl erwartet, schlagartig und jäh. Doch es war schleichend gekommen, leise und stetig, wie eine Welle, die auf den Strand zu schwemmte und ihn gar ganz übermannte, bevor er sie jäh kommen sah. Immer tiefer und tiefer hatte sie ihn gerissen, ewig und konstant und erst als der Strudel, der Wasserwirbel aus Gefühlen, ihn schließlich schleichend überwältigte, hatte er begriffen, dass er sich längst in einem Meer aus Farben und grau, Angst und reinem Glück befand.
Doch je unbemerkter die Welle kam, so betroffener war Neville, als er schließlich begriff, so angstvoller war er, so ungewisser, dass die Nähe zu Dean Thomas, der ihm doch lange, über sechs Jahre, ein guter, ein bester Freund gewesen war, zerbrechen würde, durch das Meer an Gefühlen in Nevilles Inneren.
Wieder wollte er schluchzen, als er an Deans glückliches Lachen dachte, wie er Kopf schallend in den Nacken warf, wie seine dunklen Augen leuchteten, wenn Ginny einen Witz machte, wie freudig und glückselig dieser jedes Mal abends in den Schlafsaal kam, wenn die beiden den Tag miteinander verbracht hatten. Neville konnte es kaum leugnen, wohl hätte dies nicht zweckloser sein können: Er war neidisch. Neidisch und eifersüchtig. Neidisch auf Dean, weil er so glückselig war und eifersüchtig auf Ginny, weil sie es war, die ihn so fühlen ließ. Ihn, Nevilles besten Freund. Ausgerechnet, Nevilles besten Freund hatte es treffen müssen, von all den Jungen in seinem Umfeld, ausgerechnet denjenigen, der ihm schon so lange am nächsten stand, dessen Freundschaft er um keinen Preis missen wollte und konnte, die jetzt allerdings mehr als bloß auf dem Spiel stand. Und abermals nahm der Regen zu, abermals fuhr Neville sich durch das klitschnasse Haar. Auch seine Robe, samt Krawatte und Hemd waren mittlerweile regendurchtränkt, so lange saß er hier schon, dachte an sein früheres Ich, den Neville, der seiner Großmutter jeden Wunsch von den Lippen abgelesen hatte, dachte an ebendiese, die wohl nie akzeptieren würde, was nicht sein sollte und dachte an Dean, der nie seiner sein würde. Neville biss die Zähne zusammen, zog die Knie noch enger an die Brust und starrte von den Treppenstufen, auf denen er saß, hinab auf das Gras, hob dann den Kopf ein Stück, blickte in die Ferne, wo der Horizont im Nebel aus Winter und Gedanken verschwamm. Große, dunkle Baumwipfel ragten in seinem Blick auf, wie getränkt in die grauen Wolken des Winters, wankten im heulenden und pfeifenden Wind, rauschten und wisperten, beinah übertönt durch den heftigen Regen, der gegen die beständigen Stämme trommelte, gegen die festen Mauern von Hogwarts und die Tiere des nahen Waldes und die Schüler des Zaubererinternats in ihre Unterschlupfe und Schlafsäle zwang.
So saß Neville alleine dort, bei Kälte und Trauer, draußen im Winter vor den Mauern von Hogwarts und fragte sich, wie es sich wohl anfühlen würde, akzeptiert zu werden. Nur von einer einzigen Person, nur jemand, der ihn nahm wie er war, jemand, für den er nicht erst ein schönes Mädchen zur Frau nehmen musste, um ein perfektes vollkommenes Leben zu führen. Jemand, der ihn ansah und wusste, was in ihm vorging, jemand, der dahinter schaute, hinter das falsche Lächeln, das seine Großmutter ihm beigebracht hatte, jemand, der wusste, dass er die Wahrheit sagte, nicht log, wie Augusta Longbottom es behaupete. Jemand, für den er noch immer der gleiche war, der selbe Neville, der er immer gewesen war, der Neville, der etwas in sich trug, was nicht sein sollte.
Und da war jemand, für den er noch immer der gleiche war, da war jemand, für den er noch immer der selbe Neville war, der er immer gewesen war, da war jemand, für den er noch immer der Neville war, der etwas in sich trug, doch sollte das wirklich nicht sein?
Neville bemerkte die Schritte ob der Lautstärke des Regens erst, als er schon ganz nah war, erst, als er sich schon auf die Stufen neben ihm gesetzt hatte, erst, als er mit ihm in die neblige Ferne starrte. Dean Thomas sagte nichts, sah bloß geradeaus, wusste er doch, dass Neville nicht zum Reden zu Mute war. Wusste er doch, weshalb er selbst hergekommen war, jetzt, wo Ginny weinend zu Hermine lief, weil zwischen ihnen beiden nichts mehr war, wusste er doch, weshalb er sich hinausgewagt hatte, in den eisigen, verregneten Winternachmittag, nach draußen zu Neville, der durchnässt und regungslos auf dem Treppenaufgang zur Eulerei saß. Ja, Dean wusste es. Er wusste, wie es sich anfühlte, etwas in sich zu tragen, was nicht sein sollte, oder durfte oder vielleicht sollte es ja doch? Und er sagte: „Ich bin, was ich sein soll. Und ich bin wie du."
Und Neville hob den Kopf, sah ihn an, nur ihn, nur Dean. Und der Regen ließ nach, zum ersten Mal seit Wochen, das Gefühl von Angst und Trauer verebbte und die Kälte, die bittere Kälte in seinem Inneren verblasste, als Neville lächelte. Es war ein ehrliches Lächeln. Und es sollte sein.
oOo
Kleiner Reminder an alle, die sich unsicher, in dem fühlen, wer sie sind, von anderen Lügen zugesprochen und gesagt bekommen, dass ihr etwas in euch tragt, was nicht sein soll:
Fuck it! Ich weiß, dass es manchmal hart ist und ich kenne viele (*hust* ich *hust*), die lange und noch immer damit hadern, wer oder was sie eigentlich sind oder sein wollen. Lasst euch da nicht von anderen reinreden, auch nicht vom euren Liebsten. Ihr seid gut so wie ihr seid, fernab davon, welchem Gender ihr angehört, oder zu welchem ihr euch angezogen fühlt, manche Dinge sollen sein. Auch wenn es ist, auf euren besten Freund zu stehen, so wie Neville, und es leider nicht immer so endet wie bei Daeville. (Hab ein kleines Shippname-Faible xD)
Bussi und bis bald,
-Woertermalerin
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