Mut in drei Akten
1. Akt.
"Und du? Träumst du gerade, oder bist du auf Drogen?" Jacky stößt mir ihren Ellenbogen unsanft in die Rippen, sie schmerzten. Sie ist eher von schmaler Statur, dementsprechend knochig und spitz sind ihre Arme. Und ihre Ellenbogen erst! Ich drehe mich zu ihr und mustere sie. Sie sieht mich erwartungsvoll, mit einer Augenbraue hochgezogen, an. Neben ihr steht Raphael.
"Aileen? Hörst du mir überhaupt zu?" Der Ellenbogen kommt mir wieder gefährlich nahe und ich kann ihm gerade noch ausweichen. Aber ihre Aufmerksamkeit ist mir schon wieder abgewandt. Sie hat jetzt Raphael im Visier. Und er ist viel zu schüchtern und gutmütig, um ihr auszuweichen. Sie attackiert ihn verbal, als hätte sie Messer auf der Zunge, die ihn durchbohren. Er ist viel zu gut für sie. Er hat etwas Besseres verdient. Mein Herz macht einen Satz. Als wärst du etwas Besseres.
"Meine Fresse, Raphael. Was kannst du eigentlich? Du bist so hohl, verdammt. Mach doch einfach mal das, was ich sage. Du weißt, dass das, das aus deinem Mund kommt eh nur gequirlte Scheiße ist." Sie lacht. Und in Raphaels braun-grünen Augen zerbrechen gerade Welten. Niemand sonst lacht. Denn wir alle sind auf seiner Seite. Aber niemand traut sich, ihn darauf anzusprechen - darauf, dass er die Freundschaft zu ihr beenden soll. Sie macht ihn systemathisch fertig. Und er lässt sie gewähren. Er lässt es mit sich machen. Aber heute ist irgendwie genug. Jacky denkt grundsätzlich, sie kann tun und lassen, was sie will - als wäre sie die Königin. Doch das ist sie nicht.
Ich passe den Moment ab, als Jacky schon in das Schulgebäude geht und Raphael und ich alleine vor dem Eingang stehen. Er sieht schüchtern zu Boden und ich spiele unbeholfen mit meinen Haaren. Schweigen legt sich über unsere Köpfe wie ein Tuch aus Seide. Es umspielt uns und schirmt uns von den anderen ab.
Meine Stimme zittert, als ich mir einen Ruck gebe und ins kalte Wasser springe. Mein Herz gehört schon lange ihm.
"Hey. Ich weiß, es geht mich nichts an. Aber warum tust du dir das mit ihr noch länger an? Du hast etwas Besseres verdient, Raphael."
Seine Augen erinnern mich an tosendes Meer im Auge des Sturms. Er runzelt die Stirn und schlägt die Augen nieder. Die Stimme ist leise als er spricht. Sie ist leise und sanft, wie Honig, der sich anschmiegt.
"Ich weiß", sagt er nur, dreht sich um und geht.
Und diese zwei Worte überzeugen mich, Jacky einen Strich durch die Rechnung zu machen. Sie hat ihn nicht verdient.
Wütend betrete ich das Gebäude und suche sie. Sie ist von ihren Freundinnen umgeben und mir ist in dem Moment alles egal.
"Jacky!", rufe ich durch den Flur.
Sie dreht sich um und sieht mich erwartungsvoll an.
"Was ist, Loser?" Sie lächelt mich süffisant an.
Ich rolle mit den Augen und räuspere mich.
"Hör auf, so mit Rapahel umzugehen."
"Wie gehe ich denn mit ihm um?" Sie kommt schlendernd näher und hat inzwischen ein breites Grinsen im Gesicht.
"Du weißt, was ich meine. Raphael ist kein Stück Scheiße."
"Ach ja? Findest du das auch, Raphael? Gibt es etwas, das du mir sagen möchtest?" Ihr Blick ruht nun auf etwas - oder jemandem? - hinter mir und mir wird gleichzeitig heiß und kalt.
Als ich mich umdrehe steht Raphael hinter mir und sieht mich mit Feuer in den Augen an. Seine Augen sprühen vor Hass und Wut und ich muss schlucken.
"Nein, alles gut. Aileen bildet sich das nur ein."
Und mein neugewonnener Mut ist verloren.
2. Akt.
Raphael steht mit dem Rücken zu mir. Sein breiter Rücken nimmt mir die Sicht auf die Person, die vor ihm steht und mit ihm redet. Aber ich weiß, dass es Jacky ist. Sie schubst ihn weg, aber er bleibt bei ihr stehen.
Seit dem Vorfall im Schulflur haben wir kein Wort mehr gewechselt und mir brach es das Herz. Es brach mir das Herz, ihn so verloren zu sehen. Und mir brach es das Herz, die Wut mir gegenüber in den Augen zu sehen. Sobald er einen Blick in meine Richtung warf und merkte, dass ich ihn ansah, drehte er sich weg.
"Aileen?" Saskia winkt vor meinem Gesicht herum, um meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
Erwartungsvoll sehe ich sie an und ziehe meine Augenbrauen hoch.
"Sprich mit ihm."
"Er ignoriert mich, Kia."
"Dann sei nervig und sprich mit ihm. So geht das nicht weiter. Es macht ihn doch nur kaputt. Ich verstehe nicht, warum er noch mit ihr redet."
Jacky lässt Raphael alleine auf dem Schulhof stehen und Mut fließt durch meine Adern. Kurzerhand mache ich mich also auf zu ihm.
"Raphael."
Er dreht sich neugierig um. Aber sobald er sieht, wer vor ihm steht, fällt die Neugierde in sich zusammen und zurück bleiben nur Abneigung und Arroganz.
"Was willst du?" Seine Stimme tropft vor Ungeduld.
"Mit dir reden. Du weißt, dass das, was sie mit dir macht nicht gut ist. Bitte löse dich von ihr. Du hast so etwas nicht nötig."
"Und das weißt du ... woher?"
"Weil du ein guter Mensch bist. Und sie ist es nicht. Sie hat dich nicht verdient, nicht, wenn sie dich so behandelt."
Sein Blick wird ruhiger, weniger lodernd und ruht inzwischen auf mir.
"Du kennst mich doch gar nicht, Aileen."
"Doch. Ich kenne dich zumindest so gut, dass ich weiß, dass du ein guter Mensch bist. Du teilst deinen Nachtisch immer mit Stefan. Du gibst Trinkgeld, wenn wir in einem Café sitzen. Du hilfst älteren Menschen beim Tragen von Taschen. Du lächelst jeden an, der dir begegnet und du wünschst jedem einen guten Morgen. Und deine Umarmungen sind herzlich, keineswegs kurz. Und wenn du denkst, dass niemand guckt, dann starrst du manchmal minutenlang in die Luft und denkst nach. Und dann lächelst du. Und wenn du dann aufsiehst und Jacky vor dir steht, werden deine Augen traurig, weil sie wieder etwas zu dir gesagt hat, das dir das Herz bricht. Du musst ihr aus dem Weg gehen, Raphael."
Der Schulhof ist inzwischen wie leer gefegt. Es hat schon das zweite Mal geklingelt und wir kommen zu spät zum Unterricht. Aber es ist mir egal. Denn das erste Mal seit Wochen bin ich zu ihm durchgedrungen.
"Aileen."
Aber es ist zu spät. Die Worte purzeln mir aus dem Mund, ehe ich es stoppen kann.
"Du hast etwas viel Besseres verdient. Jemanden, der aufmerksam ist. Der dich so achtet, wie du bist. Jemand, der gut ist und nett. Und freundlich. Jemanden, der hinter dir steht. Jemanden, der für dich kämpft und nicht gegen dich. Jemanden, der dich respektiert. Jemanden, der die kleinen Dinge sie-"
Ehe ich weitersprechen kann, spüre ich seine Lippen auf meinen. Und ich werde starr.
Und mein neugewonnener Mut ist verloren.
3. Akt.
"Du musst es ihm sagen. Jetzt bist du diejenige, die ihm aus dem Weg geht, Aileen." Saskia sitzt mir gegenüber auf der Wiese und trinkt ihren Kaffee aus dem Becher.
"Er hat mich geküsst, Kia. Er hat mich einfach geküsst. Aus dem Nichts. Ich war einfach sprachlos."
"Ja, aber ihn von dir zu schubsen und wegzulaufen ... das ist ... nicht nett. Vor allem, wie viel Überwindung ihn das gekostet haben muss."
Es ist inzwischen zwei Monate her. Ich schlage betreten die Augen nieder und reiße einige Grashalme aus, die ich auf Saskias Beine werfe.
Sie sieht mich an, zieht eine Augenbraue hoch und schürzt die Lippen.
"Ja, na gut. Aber ich habe Angst."
"Spring über deinen Schatten."
Als ich etwas sagen will, unterbricht sie mich. "Aileen. Du bist mutig."
Ich hole tief Luft, nicke und springe auf.
Er steht bei Jacky, die mit dem Rücken zu mir steht. Sie redet, sein Blick liegt auf ihr. Aber als er merkt, dass sich ihnen jemand nähert, sieht er auf. Als er sieht, dass ich es bin, tanzen Schatten und Licht über sein Gesicht. Er müsste sie unterbrechen, um sich von ihr zu lösen. Und ich bin mir nicht sicher, ob er das kann.
Abwartend stehe ich da, aber es geschieht nichts. Sein Blick liegt wieder auf ihr. Mich verlässt der Mut. Gerade als ich mich umdrehen will, höre ich ihn.
"Entschuldige mich, Jacky."
Und ich spüre seine Hand an meinem Arm.
"Aileen?" Sein Blick ist fragend.
Ich wünsche mir in diesem Moment, ich könnte die gebrochenen Scherben seines Herzens zusammenbauen. Und ich denke an diesen Wunsch, als ich sein Gesicht zwischen meine Hände nehme und ihn küsse.
Als er den Kuss erwidert und Jacky anfängt, lauthals zu schimpfen, muss ich grinsen. Und als ich merke, dass auch er in unseren Kuss grinst, löse ich mich kurz von ihm und sehe ihn an.
Und in seinen Augen tanzt der Mut und ich weiß, dass es der Mut in meinen Adern ist, der mit Raphaels Mut Tango tanzt.
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