Weihnachtstra(u)m
Ich wünsche Dir auf diesem Weg wundervolle Weihnachten zusammen mit deinen liebsten Mensche.
Leider haben nicht alle das Glück die Festtage im Kreise ihrer Familie verbringen zu können, weil sie vielleicht zu weit weg von ihren Freunden oder Verwanten wohnen. Aber am meisten tun mir jene leid, die über Weihnachten arbeiten müssen. Ärzte, Krankenpfleger, Feuerwehr, Polizisten, Bus- und Zugfahrer... all jene die zur Aufrechterhaltung des Systems beitragen und für uns alle essentiell wichtig sind. Sie sind für mich leuchtenden Engel die immer für uns da sind und ihre persönlichen Bedürfnissen unterordnen.
Darum denk vielleicht daran, wenn ihr über die Feiertage in den Bus einsteigt, dem Fahrer ein warmes, freundliches "Danke" zu sagen.
Die nachfolgende Kurzgeschichte entstand im Ramen des 24 Lichter 2023 Adventskalenders von @JSM1292
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Reflexartig schnellte der rechte Fuss wie von selbst nach vorne. Gewillt, das Fahrzeug sofort zum Halten zu bewegen. Eine Kollision zu vermeiden!
Das laute, hektische und schrille Gebimmel einem Feuerwehralarm gleich, liess mich schlagartig realisieren, dass ich hier ja gar kein Auto fuhr. So sehr der Fuss auch das runde Pedal runterdrückte, würde es das 30 Tonnen schwere Gefährt nicht zum Stehen bringen.
Unbewegt ruhte der Joystick in der linken Hand. Mit einer schwungvollen Bewegung riss ich ihn nach hinten bis zum Anschlag.
Ein ruck ging durch das schlangenartige Gefährt. Wie ein Bügelbrett klappte ich zusammen. Küsste beinahe die Frontscheibe.
Mit dem Ellenbogen holte ich mir dabei am Bedienpult einen blauen Fleck.
Das alles geschah im Bruchteil einer Sekunde.
Im letzten Augenblick hatte ich den schwarz gekleideten Passanten erkannt, der plötzlich zwischen geparkten Autos hervorgekommen war. Trotz der Strassenlaternen war die dunkle Gestalt im Schatten fast so unsichtbar in der Finsternis als sei er ein Dämon.
Scheisse, das reicht nicht!
Förmlich spürte ich wie die metallenen Räder wie Kufen eines Schlittens über die vereisten Schienen rutschten. Es roch leicht verbrannt. Hätte mich nicht gewundert wenn die Bremsklötze Funken gesprüht hätten. Aber mit den neuen magnetischen Schienenbremsen passierte das zum Glück nicht mehr.
Überrascht drehte sich der Mann mit vor Schreck geweiteten Augen zum drohenden Unheil um. Einem Känguru gleich sprang er zur Seite. Gerade noch rechtzeitig!
Etwa zwanzig Zentimeter von der Stelle wo er soeben gestanden hatte, kam die Strassenbahn quitschend zum Stillstand.
Ein Glück!
Die Scheinwerfer liessen das überraschte Gesicht erstrahlen. Der Mann erinnerte mich, mit seinem Bart, ein bisschen an Knecht Rubrecht.
Erleichtert atmete ich aus.
Dass ich die Luft angehalten hatte, hatte ich gar nicht bemerkt.
Noch völlig unter Schock sass ich da. Das Herz schlug mir bis zum Hals.
Hatte sich der Mann etwas getan?
Hastig öffnete ich das kleine Fenster. Eisiger Wind schlug mir ins Gesicht.
"Alles in Ordnung?" fragte ich den Mann besorgt. Ich wollte mir gar nicht ausmahlen was passiert wäre, wenn die Schnauze vom Fahrzeug ihn mit den hier erlauben 40 km/h erwischt hätte.
Verwirrt schaute mich der Mann an.
Da begann er plötzlich zu toben, fuchtelte wild mit den Armen und schmetterte wütend Wörter um sich. Verstehen konnte ich kein einziges Wort. Dass es aber sehr unfreundlich war, konnte wohl jeder erahnen.
Mit vernichtenden Medusa Augen starrte er mich hasserfüllt an, ehe er den Finger hob. Ein Zeichen, welches über sämtliche Sprachbarrieren hinweg unmissverständlich zu verstehen war...
Der Pfeil traf mit voller Wucht!
Ohne mich weiter eines Blickes zu würdigen zeigte mir der Typ die kalte Schulter und ging weiter seiner Wege.
Was war das jetzt bitte?
Nachdenklich blickte ich ihm nach.
Gemurmel im Hintergrund riess mich aus meinem Albtraum und erinnerte mich daran, gar nicht alleine durch die weihnachtlich geschmückte Stadt zu fahren. Und vor allem was ich da durch die Gegend kutschierte...
Die wertvollste "Fracht" die man transportieren konnte!
Ein Blick in den Rückspiegel verriet, dass die Fahrgäste über das Manöver ebenfalls erschrocken waren. Auf den ersten Blick erkannte ich niemanden der gestürzt war. Trotzdem machte ich eine kurze Durchsage per Lautsprecher "Ich entschuldige mich für die Gefahrenbremsung aufgrund eines Passanten auf der Strasse. Falls sich jemand verletzt hat bitte beim Fahrer vorne melden." Angespannt wartete ich. Wenn heute jemand wegen mir im Krankenhaus landete, könnte ich mir das niemals verzeihen!
Es kam jedoch niemand. Erleichtert löste sich die Anspannung ein klein wenig.
Zitternd, wie die klirrende Kälte draußen, legte ich den Hebel um. Gemächlich setzte sich die Bahn wieder in Bewegung.
Adrenalin rauschte noch immer durch die Adern, erhöhte die Sinne und Aufmerksamkeit. Die Weihnachtsbeleuchtung an den Bäumen, Laternen und in den Schaufenstern konnte ich gar nicht mehr genießen.
War ich froh hatte ich bald Pause.
Nach zwei weiteren Haltestellen war es endlich soweit und fröhlich winkte mir meine Ablösung entgegen.
Per Lautsprecher verabschiedete ich mich von den Fahrgästen, damit auch die Personen im hinteren Bereich meinen Gruss mitbekam und wünschte ihnen schöne Festtage. Die wenigsten Fahrer taten das, was ich sehr schade finde.
Hastig verstaute ich meine Sachen im Rucksack. Beinahe hätte ich das Diensttablet vergessen. Oh man, ich war echt neben der Spur.
Meine Knie fühlten sich an wie Wackelpudding als ich die Tür der Fahrerkabine öffnete und die drei Treppenstufen hinunter ging. Beim hohen Absatz knickte ich leicht ein und konnte mich gerade noch an der Stange festhalten. Mein ganzer Körper fühlte sich an wie Gummi.
Der ältere Mann streckte mir die Hand entgegen. Sein von leichten Falten gezeichnetes Gesicht mit den wachen, braunen Augen schauten mich erwartungsvoll an. Verwirrt blinzelte ich, ehe mir in den Sinn kam was er von mir wollte. "Der Schlüssel steckt im Fahrzeug." erklärte ich schnell, was mit einem vorwurfsvollen Blick meines Gegenübers quittiert wurde.
"Alles okay?" fragte der Kollege besorgt. Mein Gesicht musste wohl Bände sprechen. Ich seufzte "Hätte fest jemanden abgeschossen." antwortete ich tonlos. Mitleidig schaute mich mein Arbeitskollege an.
"Ist ziemlich rutschig auf den Schienen." setzte ich ihn in Kenntnis und versuchte dabei professionelle zu klingen.
"Dafür hat die alte Dame ja Sand..." mit einem Zwinkern tätschelte er über die grün lackierte Karosserie der Strassenbahn, dessen alter man an der leicht verbleichten Farbe erahnen konnte. Bei den so eben gesprochenen Worten des erfahrenen Wagenführers hätte ich mir am liebsten an die Stirn geschlagen. Natürlich der Sand! Wie dämlich konnte man eigentlich sein!
Bei neuen Fahrzeugen wurde ein bisschen Sand automatisch auf die Schienen gegeben, wenn die Räder durch Blätter oder bei Nieselregen durchdrehen. Da musste man nichtmehr dran denken!
Dass die älteren Modelle aber immer auf einen manuellen Sprühstoss des Fahrers warteten, hatte ich in der Hektik ganz vergessen.
Wir verabschiedeten uns und ich lief die fast menschenleere Strasse entlang.
Ein kühler Wind streifte mich.
Unwillkürlich schlang ich den Schal noch enger um mich. Keine Ahnung ob das Zittern von der Kälte kam oder vom Schock, welcher mir noch in den Knochen sass. Mein erster Unfall wäre das gewesen... ausgerechnet an Weihnachten! Der Typ hatte echt einen Schutzengel gehabt.
Es glitzerte am Boden, wie hunderte winzig funkelte Sterne am Nachthimmel, auf dem dunklen Asphalt. Als hätten Engel ihren Glitzerstaub verstreut. Aber der Schein trügt...
So setzte ich meinen Weg vorsichtigen Schrittes fort.
Sterne waren am Himmel keine zu sehen. Dicke Wolken hatten sich vor den Mond geschoben.
Mal wieder ein verregneter 24. Dezember...
Mein Ziel war ein schlichtes Gebäude, welches von vielen schnell übersehen wurde. Auch ich hatte es früher nie als das wahrgenommen was es wirklich war: Die Betriebszentrale. Das Herzstück des ÖPNV Umternehmens.
Ich konnte es immernoch kaum glauben, dass ich es vor ein paar Monaten tatsächlich geschafft und meinen Kindheitstraum erfüllt hatte.
Es war dunkel im Gebäude.
Um diese Uhrzeit war nurnoch die Leitstelle im vierten Stock anwesend. Die beleuchteten Fenster, unter dem Dach, verrieten es. Alle anderen Mitarbeitenden hatten anscheinend schon Feierabend gemacht und sassen jetzt vermutlich bei ihren Liebsten am üppigen gedeckten Esstisch.
Im Foyer begrüßte mich ein kleiner, geschwächter Tannenbaum mit bunten, wild durcheinander gehängten Kugeln und viel zu kurzer Lichterkette. Schmerzlich musste ich an meine Familie danken. An meine 4 jährige Tochter, die heute ihr erstes Weihnachtsfest ohne Papa feiern muss. Aber das war eben der Preis von 365 Tagen Schichtbetrieb...
Den anderen Fahrern, Polizisten und jene im Gesundheitswesen ging es schließlich gleich... Dieser Gedanke tröstete etwas.
Weh tat es trotzdem.
Vor allem als ich ihr sagen musste, dass Papi dieses Jahr nicht beim Geschenke auspacken dabei war.
"Gäll Papi, du musst die Oma's und Opa's zu ihren Familien bringen." hatte sie darauf geantwortet. Ich war so perplex gewesen, dass ich sie einfach in den Arm genommen hatte. Meine Liebe kleine Chantal...
Immer wieder überraschte sie mich. Wie ein kleines Mädchen schon so erwachsen sein konnte.
Mit der Schlüsselkarte meines Dienstausweises öffnete ich die einzige vorhandene Tür, neben der Schiebetür. Hier lag einer der Pausenräume für uns Fahrerinnen und Fahrer. Es war ein kleiner Raum nur mit dem Nötigsten, einem grossen Holztisch in der Mitte des Zimmers, eine kleine Kochinsel mit Mikrowelle und grosser Kaffeemaschine, zwei viel zu harte Sessel standen an der Wand und es gab eine winzige Toilette. Mein Weg führte mich zielstrebig zum wuchtigen Gerät, das gut die Hälfte der Kochinsel einnahm. Ich war sonst nicht so der Kaffeetrinker, aber heute brauchte ich einfach Koffein.
Wärend die braune Flüssigkeit in die Tasse tropfte, sah ich mich gelangweilt im Raum um. Etwas enttäuscht war ich schon. Ich hätte mir schon etwas mehr Weihnachtsdeko gewünscht. Zumindest heute. Weder Nüsse noch Kekse standen auf dem Tisch bereit.
Aus dem Rucksack kramte ich das vor der Arbeit besorgte Thunfischsandwich hervor und schnappte mir die mittlerweile volle Tasse mit dem dampfenden Gebräu.
Es war zwar weniger Lecker als Gänsebraten, aber Hauptsache etwas zwischen die Zähne.
Die eine Stunde Pause verging wie immer viel zu schnell und ich musste mich wieder auf den Weg machen.
Insgeheim hatte ich gehofft mir würde jemand Gesellschaft leisten.
Der 2 Stockwerke hohe Weihnachtsbaum, mitten auf dem Platz, verstrahlte schon von weitem ein warmes Licht.
Neben mir wartete eine ältere Dame mit vollbeladenem Einkaufswagen.
Mir taten die alten Leute immer so leid, die sich mit den hohen Trittstufen abmühen mussten. Oftmals war ich am Anfang noch ausgestiegen und hatte ihnen eine helfende Hand gereicht, welche sie dankbar angenommen hatten. Nur hatten sich dann an der darauffolgenden Haltestelle Fahrgäste bei mir beschwert, weil ich 2 Minuten zu spät war. Verständnis zeigten die wenigsten. Darum war ich froh stellte das Unternehmen langsam auf Fahrzeuge ohne Treppen um.
Und so eines kam gerade um die Ecke gebogen: ein Niederflurfahrzeug.
Die Nummer auf dem Fahrzeug stimmte mit jener auf meinem Dienstplan überein.
Mein fahrbarer Arbeitsplatz! Wer kann das schon von sich behaupten?
Immerhin hatte mir das Unternehmen mit meiner lieblings Linie ein kleines Weihnachtsgeschenk gemacht. Die einzige, die aufs Land hinaus führt.
Ich liebte es fast genau so sehr wie die Weihnachtsbeleuchtung zu bewundern, über die schier unendlich weiten Felder zu blicken, was sich bei 60 km/h fast wie fliegen anfühlte. So Frei...
Weil die Kollegin noch etwas Zeit brauchte, half ich der Dame mit ihrem Einkaufswagen in die Strassenbahn. "Danke junger Mann" bedankte sie sich, was ich mit einem lächelten "Gerne doch" erwiderte.
Ich ging nach vorne, wo mir die Kollegin sofort den Schlüssel in die Hand drückte.
Mit einem kurzangebundenen "Frohe Weihnachten" zog sie von dannen. Kopfschüttelnd betrat ich die Fahrerkabine, setzte mich auf den gemütlichen Sitz und steckte den Schlüssel ins Schloss. Ein letzter Blick in den Seitenspiegel zum Tannenbaum, der mir zum Abschied zuzuwinken schien, fuhr die Bahn mit fröhlichen Glöckchenbimmel fort.
Bald schon liessen wir die beleuchtete Stadt hinter uns.
Vor mir erstreckte sich nichts ausser Wälder, Felder und Hügel. Zumindest sah es am Tag so aus. Jetzt war es stockdunkel. Lediglich die Schienen und Masten der Fahrleitung war im Licht des Scheinwerfers zu erkennen.
Etwas landete auf der Windschutzscheibe. Ein kleiner, unscheinbarer Fleck, der schon bald von Seinesgleichen Gesellschaft bekam.
Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen.
Ich war so von Tanz am Himmel fasziniert, dass ich gar nicht bemerkte wie wir allmählich langsamer wurden. Ein schrilles piepen katapultierte mich schlagartig zurück in die Realität. Mist, der Totmann! Das Fahrzeug dachte wohl, mangels Reaktion meinerseits, ich sei Ohnmächtig geworden und leitete deswegen die automatische Bremsung ein. Schnell umfasste ich mit starkem Händedruck den Berührungssensor auf dem Joystick und schob diesen weiter nach vorne. Doch die Strassenbahn beschleunigte zu meinem Erstaunen nicht, im Gegenteil.
Auch das durchdringliche Piepen einem Tinnitus gleich, verstummte nicht.
Was zum?
Hilflos konnte ich nur dabei zusehen wie der Zeiger des Tochos unaufhörlich gegen Null sank und die Bahn im dichten Schneegestöber mitten im Nirgendwo zum Stillstand kam.
Eine durchgestrichene Batterie blinkte auf dem Bildschirm auf. Hä?
Aufjedenfall bedeutete es nichts gutes...
Zum Glück waren sämtliche Fehlermeldungen auf dem Tablet erklärt. Schnell fand ich die Bedeutung des Symbols "Kein Stromfluss von der Fahrleitung zur Batterie der Strassenbahn möglich."
Hm, war der Stromabnehmer heruntergefallen? Obwohl es von aussen sehr robust aussieht, war die Sprungfeder des scherenähnlichen Stromleiters sehr empfindlich.
Hastig zog ich die dicke Jacke an, öffnete die erste Tür direkt bei der Fahrerkabine und hüpfte hinaus in den Schneesturm, um mir selber ein Bild zu machen. Der Sprung wurde von einer weichen, weissen Decke abgefedert. Hier war der Wind gefühlt sehr viel eisiger als in der Stadt und auch stärker. Gierig suchte sich die kalte Luft durch die Fasern der Kleidung und kroch in jede Faser meines Körpers. Schneeflocken wirbelten umher, als ob sie miteinander Fangen spielten.
Die einzige Lichtquelle weit und breit war die Innenbeleuchtung der Strassenbahn.
Wie ein langer auf dem Boden liegender Weihnachtsbaum.
Auf die Schnelle konnte ich nichts erkennen und eine Leiter hatte ich natürlich keine dabei. Bei den dicken Flocken konnte ich sowieso nicht viel sehen und zog mich deshalb schnell wieder ins trockene Fahrzeug zurück.
Einem Hund gleich schüttelte ich den Schnee von mir ab.
Das silberne gestickte Logo vom Verkehrsunternehmens auf meinem schwarzen Capi war kaum noch zu erkennen.
Jetzt standen wir also da... mitten in der Pampa. Grossartig!
Alle Augen der Fahrgäste waren auf mich gerichtet "Los Herr Wagenführer, schnips mit dem Finger und Fahr gefälligst weiter!" schienen ihre Blicke drohend zu sagen. Hach, wenn ich nur könnte...
Mit hängenden Schultern zog ich mich fast schon fluchtartig in die Fahrerkabine zurück.
Ich war ziemlich planlos. Alleine konnte ich das nicht schaffen. Ich brauchte Hilfe!
Also stellte ich die Funkverbindung zur Leitstelle her.
"Ich stehe hier ohne Strom mitten auf der Strecke" schilderte ich schnell die Situation. "Ist doch klar", kam es mürrisch vom anderen Ende "dass auf dem Land bei dem Wetter die Leitungen einfrieren"
Und weswegen lasst ihr mich da durch fahren, wenn euch das schon im Vorfeld klar ist?
Ich biss mir aber im letzten Moment auf die Zunge. Als Neuling im Unternehmen konnte ich mir sowas nicht leisten.
"Und die Fahrgäste?" fragte ich stattdessen "Was soll mit denen sein?"
"Naja, die müssen doch nach Hause... " - "Und?" - "Also, kann nicht ein Bus als Ersatz..." - "Markus!" wurde ich barsch unterbrochen. So wie er meinen Namen aussprach klang es wie ein Vater der sein aufmüpfiges Kind tadelt "Es ist keiner mehr im Betriebshof! Keine Ersatzfahrer und erstrecht niemand vom Streckenservic. Alle sind zuhause." - "Und jetzt? Die Leute können doch nicht stundenlang in der Strassenbahn warten!" Langsam wurde ich ungeduldig. Der Gedanke, dass die Leute jetzt viel zu spät oder gar nicht zum ihren Familien zum Weihnachtsfest gehen konnten, schmerzte sehr. Wenn schon ich an diesem Fest der Familie und Freude nicht teilnehmen konnte, wollte ich wenigstens alles daran setzen für meine Fahrgäste.
Ein genervtes schnauben war zu hören. Es könnte aber auch das Rauschen vom Funk gewesen sein.
"Dann sollen die eben zu Fuß gehen!"
Damit wurde die Verbindung getrennt.
Resigniert starrte ich den Boardcomputer an. Soll die Leitstelle nicht eigentlich für uns Fahrer da sein?
Jetzt war ich noch ratloser als vorher.
Der Schneesturm tobte draußen noch heftiger, wirbelte unkontrolliert weisse Flocken umher, als würde er mein Gefühlschaos widerspiegeln.
Tief durchatmen... nur nicht aufregen!
Es klopfte an die Scheibe der Tür. "Wenn das noch länger dauert laufe ich!" sprach der Mann ungeduldig, kaum hatte ich das kleine Fenster geöffnet. "Sind Sie sicher? Es ist eiskalt und ein Schneesturm tobt." Der Gedanke gefiel mir gar nicht die Leute in den Sturm zu lassen. Hatte ich doch die Verantwortung für sie....
Der Mann ließ sich aber nicht umstimmen und so zog er also mit ein paar anderen Fahrgästen zu fuss los. Schon bald konnte ich sie im Nebel der Schneeflocken nichtmehr sehen, was meine Sorgen nur wachsen ließ.
Als würde der Wind meine Gedanken in die Ferne blasen war ich plötzlich bei meiner Familie. Was war Zuhause gerade los? Kam Kirsten mit den Vorbereitungen gut voran? Hatten es die Schwiegereltern pünktlich zu uns nach Hause geschafft? Freute sich Chantal über den Schnee und spielte schon im Garten?
Kopfschüttelnd versuchte ich die Gedanken zu vertreiben. Trotz der Heizlüftung wurde mir innerlich kalt.
Ich musste mich ablenken! Also ging ich nach hinten zu den Fahrgästen.
Viele starrten wie gebannt aufs Smartphone, einige ältere Leute hatten miteinander ein Gespräch angefangen. Wieder andere wurden kreativ und hatten ihr Smartphone oder Tablet auf den gegenüberliegenden Sitz gestellt und waren per Video mit ihren Familien verbunden.
Bei der älteren Frau, der ich vorhin mit dem Einkaufswagen geholfen hatte, blieb ich stehen. Sie zitterte leicht. "Alles Gut bei Ihnen?" Erst jetzt viel mir auf wie dünn sie mit ihrem schicken Kleid angezogen war. "Es geht schon..." wehrte sie ab. Ihr Versuch misslang. Mein Herz zog sich zusammen beim Anblick der frierenden älteren Dame. Ohne gross zu überlegen holte ich meinen Schal und die dicke Jacke und reichte sie ihr. Verblüfft und verwirrt schaute sie mich an.
Eine melodische Melodie erklang, welche mich jedesmal an jene im Einkaufszentrum erinnerte, wenn Sonderangebote ausgerufen wurden oder ein Kind verloren gegangen war.
"Liebe Fahrgäste. Der Fahrbetrieb auf allen Linien wird aufgrund des Schneesturms per sofort eingestellt!
Wir bitten Sie um Verständnis."
Die ältere Dame schien sich ihrem Schicksal zu fügen und nahm mit einem lächelten seufzen mein Angebot an.
Kaum hatte ich die Kleidungsstücke übergeben vibrierte mein Handgelenk.
Meine Smartwatch!
Als hätte der Nikolaus gerade Geschenke gebracht, rannte ich durch den Flur der Strassenbahn nach vorne zur Fahrerkabine, wo mein Handy in Rucksack gerade einen Anruf vermeldete. Kirsten! "Schatz, ist alles in Ordnung bei dir?" Die Frage wollte ich ihr eigentlich gerade stellen. Kirsten ruft eigentlich nie an, es seiden es war ein echter Notfall... meist mit Chantal. "Im Radio haben sie gesagt, dass der komplette Verkehr wegen dem Schneesturm zum Erliegen gekommen ist!" Ein Stein viel mir vom Herzen, dass es nur darum ging. "Mach dir keine Sorgen! Ich steck hier nur mitten im Niergendwo fest." versuchte ich meine Frau zu beruhigen.
Wir sprachen noch kurz zusammen, bis sie weiter kochen musste.
Jetzt war ich wieder allein.
Okay, ich war nicht wirklich allein, aber es fühlte sich trotzdem so an.
Ein bisschen Weihnachtsstimmung soll trotzdem verbreitet werden. Viel dabei hatte ich nicht. Auf einmal hatte ich die Idee...
Am Diensttablet stellte ich das Radio mit Weihnachtslieder ein und ließ sie über das Mikrofon im Fahrzeug spielen. Die Menschen freuten sich sehr ab diesem kleinen Geschenk. Einige sangen sogar lauthals mit.
Etwa eine Stunde verstrich und nichts passierte. Ich sass bei meinen Fahrgästen und hörte mir ihre Geschichten an. Als der Schneesturm endlich nach ließ gingen ein paar Kinder nach draußen und machten eine Schneeballschlacht.
Auf einmal riefen einige der Weihnachtsmann käme.
Neugierig ging ich nach hinten zum grossen Panoramafenster und spähte hinaus.
Mehrere Lichter schimmerten in der Dunkelheit. Wie Sterne.
Ich konnte nicht glauben was ich da sah. Aber das konnte nicht sein. Das musste ein Traum sein!
Ein Weihnachtstraum!
Ungeduldig drückte ich den Haltewunschknopf und noch während sich die Schiebetür öffnete, sprang ich hinaus. Knöcheltief landete die Füße im Schnee. In dem Moment war mir das egal. Meine Aufmerksamkeit galt einzig und allein den Personen vor mir.
Zwei vollbeladene Schlitten wurden gezogen und jeder der Erwachsenen trug grosse Rucksäcke, als würden sie eine drei tägige Wanderung machen. Mühsam kämpften sie sich durch den Schnee.
Konnte das wirklich sein? Hatten sie wirklich den weiten, beschwerlichen Weg auf sich genommen?
Ein ruf schalte durch die Nacht. Zunächst unverständlich, doch dann erkannte ich die engelsgleiche Stimme, welche mir sofort ein breites Lachen ins Gesicht zauberte "Papi"
In dieser Sekunde hätte ich echt heulen können vor Freude.
Das kleine Mädchen kletterte vom Schlitten und watete durch den Tiefschnee auf mich zu.
Schnell hob ich sie hoch.
"Wir dachten wenn du nicht zum Weihnachtsfest kommen kannst, bringen wie das Weihnachtsfest zu dir." Wie ein Honigkuchenpferd strahlte Chantal mich an. Obwohl es so kalt war wurde mir innerlich sogleich warm. Wie ein Kaminfeuer wärmer sie mich, breitete sich bis in die kleinsten Fasern meines Körpers aus und verdrängte die unangenehmen Gefühle. Liebe und Wärme im Herzen vertreibt jegliche Kälte.
Ich trug sie zu Kirsten und drückte ihr einen liebevollen Kuss auf die Wange.
Dicht schmiegen wir uns aneinander. Vater, Mutter und kleines Kind. Meine wunderbare, perfekte kleine Familie.
Gemeinsam stapften wir zur Strassenbahn und wuchteten alles ins Fahrzeug.
Ich staunte was sie alles angeschleppt hatten.
Ein kleiner, künstlicher Weihnachtsbaum stellten wir auf die hinterste Sitzbank, ganz am Ende der Bahn und dieser wurde eifrig mit den mitgebrachten Kugeln geschmückt. An die Haltestangen wurden Lichterketten gewickelt. Kürbissuppe, Weihnachtskekse und andere Leckereien verteilten meine Schwiegereltern an dir Fahrgäste. Es wurde richtig Weihnachtlich gemütlich.
Ein bisschen enttäuscht war ich als irgendwann die Meldung kam, dass der Fahrbetrieb langsam wieder aufgenommen wurde und der Schneepflug auf dem gegenüberliegenden Gleis an uns vorbei fuhr.
Also konnte es jetzt nichtmehr lange dauern und ich ging langsam wieder nach vorne zu meinem Arbeitsplatz.
Die durchgestrichene Batterie auf dem Bildschirm war unterdessen auch verschwunden.
Anscheinend war es draussen wieder etwas wärmer geworden, sodass der Strom in der Leitung das Eis von selber zum Schmelzen gebracht hatte.
Ich winkte Chantal zu mir, die unsicher zur Tür herein schaute und hob sie auf den Schoß. "Möchtest du auch mal fahren?" Mit grossen Augen schaute sie mich staunend an. Eifrig nickte sie. "Frohe Weihnachten meine Kleine!" flüsterte ich ihr lächelnd zu.
"Da oben Anfassen" ich zeigte auf die schwarze Kugel auf den Joystick "und langsam nach vorne schieben, bis dieser Zeiger bei dem Strich ist" erklärte ich und zeigte beim Tacho auf den dicken Strich bei 60 km/h. Ungläubig schaute sie mich an "Aber was wenn wir umfallen?" Ich musste lachen "So schnell fällt eine Strassenbahn nicht um." Aufmunternd nickte ich ihr zu. Da schien das kleine Mädchen zu begreifen und ihre Augen strahlten vor Freude mit der Lichterkette um die Wette. Zögerlich streckte das Mädchen den Arm aus.
Die Kugel war fast etwas zu gross für die kleine Hand. "Fest zudrücken!" Wies ich sie an, weil ich fürchtete der Berührungssensor würde die kleine Kinderhand nicht erkennen und deswegen der Sicherheitsmechanismuss das Anfahren verhindern würde.
Lautes Jubeln kam von hinten, als sich das Fahrzeug langsam in Bewegung setzte.
Doch nach wenigen Metern gab es plötzlich einen ruck und das Fahrzeug stoppte ohne Vorwarnung.
Erschrocken ließ Chantal den Stick los "Hab ich etwas falsch gemacht? Ist die Strassenbahn böse auf mich?" fragte sie jammernt und war sichtlich den Tränen nah. "Nein, nein, du hast es sehr gut gemacht" versuchte ich sie hastig zu beruhigen. "Was ist passiert?" fragte jetzt auch Kirsten verwirrt. Fehlermeldung wurde dieses mal keine angezeigt. An einem technischen Problem konnte es also nicht liegen.
Hastig trug ich Chantal zum kleinen Sims beim seitlichen Fenster und beugte mich über das Bedienpult, bis meine Stirn die Frontscheibe berührte. Vor und unter mir befand sich ein gleichmäßiger, weisser Teppich. Aber weit und breit keine Gleise!
Kraftlos sank ich im Sitz zusammen. Was konnte ich jetzt nur tun?
"Wir helfen Ihnen Herr Wagenführer!" kamen entschlossene Rufe von hinten.
Alle Fahrgäste halfen, gruben mit blossen Händen den Schnee zur Seite, damit die Schienen langsam frei wurden und ich Stück für Stück vorwärts fahren konnten. Sand unterstützte ebenfalls. Endlich kamen die Scheinwerfer des Schneepflugs in Sicht.
Erleichterung machte sich in mir breit.
Ich hielt an und rief den helfenden Menschen draussen durch das Fenster zu, dass sie jetzt wieder einsteigen konnten.
Die Schaufel der grossen Maschine wischte den restlichen Schneehaufen zur Seite. Endlich war die Strecke wieder frei!
Mit Vollgas schossen wir durch die mit puderzucker verzierte Landschaft. Chantal's fröhliches Kinderlachen steckte mich an. In der Ferne blitzen die Lichter vom Dorf auf. Wie der Stern von Bethlehem folgte die fahrende Karawane seinem hellen Schein. Licht der Hoffnung in der kalten Finsternis.
Umso mehr erschreckte mich Kirsten's plötzlichen "STOP!" schrei. "Was ist?" empört drehte ich mich zu ihr um. "Ich glaube da ist etwas draussen." flüsterte sie und zeigte aus dem Fenster. Wärend ich die Geschwindigkeit reduzierte, folgten meine Augen ihrem Finger. Tatsächlich war neben den Schienen etwas schemenhaft zu erkennen. Auf den ersten Blick hätte ich es in der Dunkelheit für einige Büsche gehalten... doch halt! Büsche bewegten sich doch nicht?!
Die Fahrgäste, die zu Fuss los gezogen waren!
Mit lautem Glockengebimmel machte ich sie auf mich aufmerksam.
Ich half den halb durchgefrohrenen Personen in das erhöhte Fahrzeug hinein.
"War doch nicht die Beste idee" hörte ich jemanden aus der Gruppe murmeln. Dem musste ich zustimmen. Zumal sie auch nicht wirklich weit gekommen waren!
Froh war ich zu sehen, dass es allen gut ging und sie wieder an Board waren.
In vollständiger Fahrgastbesetzung erreichten wir das Dorf. Vorbei zogen beläuchtete Häuser und geschmückte Gärten. Aber keine Autos oder Menschen waren auf den verschneiten Strassen. Ausser eine einzige Person.
Diese schob bei der Haltestelle mit einer Schaufel den Schnee an den Rand zu einem kleinen Berg zusammen.
Unsere Blicke trafen sich.
Augenblick versteifte sich der ganzer Körper.
Hastig stellt er die Schaufel zur Seite und eilte zur Frau mit dem Einkaufswagen, welcher gerade aus der Bahn stieg und er ihr abnahm. Kritisch betrachtete er die etwas zu grosse Winterjake, welche sie noch immer über den Schultern trug. Mit dem Finger fuhr er gedankenverloren die eingestickte, geschwungene Gravur meines Verkehrsunternehmens nach. Nervös trommelten meine Finger auf dem breiten Sitz herum.
Angst kroch allmählich hoch. Jetzt wird der Typ bestimmt wie ein Silvesterkracher explodieren!
Schlimme Geschichten hatte ich schon von Kollegen gehört, die grundlos Krankenhausreif geprügelt wurden.
Innerlich betete ich, dass ich nur mit einem blauen Auge davonkommen würde.
Die ältere Dame sagte etwas zu ihm. Er wirkte kurz überrascht. Da schaute er mich erneut an und ich meine ein Lächeln unter seinem langen schwarzen Bart erkennen zu können.
Eigentlich wollte ich gar nicht aussteigen, aber ich musste leider meine Jacke holen, sonst würde ich Ärger mit dem Unternehmen bekommen.
Schlurpfend kam mir die Frau entgegen.
"Vielen, vielen Dank junger Mann. Sie sind wirklich ein Engel!" Mit einem Lächeln gab sie mir die Jacke zurück.
Leider ein Engel ohne Flügel. Wie ein schützenden Schild drückte ich die Daunenjacke an meine Brust, die vermutlich diese gestutzten Flügel enthielten.
Am liebsten wäre ich zurück in meine schützende Kabine gerannt, doch meine Füsse schienen an Ort und Stelle am Asphalt festgefrohren zu sein. Wenn jetzt Knecht Rubrecht einen Besen holt war es um mich geschehen!
Aber nichts dergleichen geschah.
"Danke, dass Sie sich um meine Mutter gekümmert haben" die Stimme das Mannes klang, trotz Akzent, gar nicht mal so hart wie ich befürchtet hatte. Erst Sekunden später begriff ich seine Worte.
"Und sorry wegen vorhin in der Stadt... war im Stress" fügte er kleinlaut hinzu.
"Schon gut" murmelte ich, immernoch ganz perplex ab diesem plötzlich Stimmungswechsel. Der Zauber von Weihnachten erhellt selbst das dunkelste Herz.
Die Frau winkte mir zum Abschied zu und ich winkte zurück. Der Mann tat es ihr etwas zögernd gleich.
Im Rückspiegel konnte ich erkennen, wie der bärtige Mann der Dame eine Hand über die Schulter legte und sie gemeinsam die Strasse entlang liefen.
Es erfüllte mich mit großer Freude.
Dafür war ich schließlich da: Menschen sicher zu ihren Liebsten zu bringen.
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