Kapitel 3 - I kissed a boy
"Hallo Magnus", sage ich. Zögerlich habe ich die Tür geöffnet. Zuerst wollte ich ihn nicht sehen, stand eine halbe Ewigkeit mit der Stirn gegen das kühle Glas der Tür gelehnt da und lauschte seinen Worten. Er sprach ruhig und dennoch laut genug, damit ich jedes Wort verstehen konnte. Magnus gab mir Zeit und ich glaube, ihm ist nicht einmal ansatzweise bewusst, wie viel mir das bedeutet. Mein Herz schlägt bis zum Anschlag und die verräterische Ader an meinem Hals pulsiert unablässig. Magnus lächelt mich liebevoll an. Mit der linken Hand balanciert er zwei Kartons von unserem Lieblingsitaliener. Ich kann die Schärfe der Salami und das verführerische Aroma der würzigen Tomatensauce bereits auf meiner Zunge schmecken. In der anderen Hand hält Magnus eine Flasche vollmundigen Rotwein und sein Telefon droht ihm aus den Fingern zu gleiten. Kurz beobachte ich den Weg des goldenen Gerätes welches langsam an dem dunklen Glaskörper der Weinflasche entlanggleitet.
"Gib mir das. Komme rein", sage ich kurzerhand und greife nach den beiden Pappkartons. Hitze empfängt mich und wieder einmal überrascht mich Magnus unerschütterliche Miene. Er sieht so aus, als komme er frisch und gutgelaunt aus dem Urlaub und hätte sich nicht durch den Dschungel von Alicantes Feierabendverkehr gequält, um dann heldenhafterweise zwei dampfend heiße Pizzakartons und eine Flasche Wein stundenlang zu balancieren.
"Lass uns schnell essen, bevor die Pizza kalt wird. Du weißt das ich kalte Pizza hasse. Ich soll dich von Giovanni grüßen. Er hat mich gefragt, ob bei dir alles okay ist. Ich habe ihm was von Stress und einer Diät erzählt. Natürlich hat er mir nicht geglaubt. Wie lange warst du nicht mehr bei ihm? Du gehst doch regelmäßig in seine Pizzeria um dir die lebensnotwendige Dröhnung Kalorien zu holen. Was ist los? Ach, weißt du was? Das erzählst du mir gleich. Und ich muss dir unbedingt von meinem letzten Elternabend erzählen. Das war so schrecklich. Ich saß drei Stunden zwischen frustrierten Helikoptermüttern und habe mir einen Vortrag über vegane Ernährung und wie wichtig es doch ist, dass unsere Kinder frei von dem tierischen Müll der Fastfood Industrie aufwachsen, angehört. Das Biobrokkoli unverzichtbar für das Hirnwachstum ist und nur Wasser aus den Quellen der Schweizer Alpen dafür sorgt, dass aus unseren Kindern die nächsten Einsteins und Bill Gates werden. Ich wurde in meinem Sitz immer kleiner und hoffte das niemand bemerkte, dass ich uns zum Abendessen eine große Portion gebratene Nudeln mit Schweinefleisch und als Nachtisch Schokoladeneis in der XXL-Familienportion geholt hatte. Ich liebe meine Nichte, die Kleine ist mein Engel und ich bin sehr gerne ihr Vormund bis mein Bruder seine derzeitige Behausung mit wunderschönen Stahlgardinen vor den Fenstern, wieder verlässt. Aber solch einen Elternabend überstehe ich nicht noch einmal. Wenn ich daran denke, dass ich fünf Jahre vor mir habe, ist der Gedanke mit meinem Bruder zu tauschen doch ganz reizvoll. Immerhin sehen wir beide gleich aus. Kein Wunder, gleiche Fruchtblase. Also Alexander, kommst du mich im Staatsgefängnis besuchen?"
Magnus redet ohne Punkt und Komma, läuft geschäftig zwischen meiner kleinen Küche und dem Wohnzimmer hin und her. Er holt zwei Teller aus dem Küchenschrank, stellt sie auf den kleinen Tisch neben die Weingläser, welche ich soeben aus dem Schrank neben der Tür zum Badezimmer geholt habe. Magnus verteilt Pizzastücke und ich höre einfach nur zu. So ist er. Magnus redet immer und überall, bringt jedes Eis zum Schmelzen und mit seiner witzigen charmanten Art, ist er ein gerngesehener Gast auf jeder Feier. Nicht umsonst ist Magnus Bane einer meiner besten Freunde. In seiner Gegenwart fühle ich mich wohl. Seine tiefe männliche Stimme verzaubert mich und der bronzefarbene Ton seiner Haut war schon immer ein Magnet bei vielen Männern.
"Danke", sage ich, setze mich neben Magnus auf das Sofa und lasse meinen Gedanken einfach freien Lauf. Er greift sich ein Stück Pizza, beißt genüsslich von dem vor Fett und Käse triefenden Teigfladen ab und verdreht stöhnend die Augen. In meinem Magen bildet sich ein fester Knoten und ich habe das Gefühl, mich jeden Moment zu übergeben. Viel zu sehr liegt mir mein Outing und die Tatsache, dass Magnus mich um ein Date bat im Magen. Schwer, tonnenschwer. Keine Armee Schmetterlinge, sondern ein bläulich-grauer Klumpen Osmium. Das schwerste und seltenste Metall auf unserem Planeten. Und genauso fühle ich mich. Schwer. Unsagbar schwer belastet. Wir müssen über so viele Dinge sprechen. Mein Herz ist nicht frei und meine Seele befindet sich irgendwo zwischen Akzeptanz und Angst.
"Ich habe lange überlegt, wie ich es euch sage. Und ich habe noch länger überlegt, es überhaupt zu tun. Du weißt, dass ich Beziehungen zu Frauen hatte. Meine letzte Freundin, Lydia du erinnerst dich? Sie hat mich ermutigt diesen Schritt zu gehen", sage ich. Das Herz klopft mir bis zum Hals und ich habe Angst vor Magnus Reaktion. Mein Leben war stets eine Lüge. Dass die Wahrheit nun endlich ans Tageslicht kam, ist auf der einen Seite beruhigend. Doch auf der anderen, viel größeren Seite, ist es auch beängstigend. Es belastet mich, denn natürlich waren nicht alle Reaktionen so wie ich es mir wünschte. Auch wenn ich tief in meinem Herzen wusste, dass meine Eltern es nie verstehen und akzeptieren würden, so hegte ich doch die Hoffnung, dass es anders kommen könnte. Das sie mich mit offenen Armen und einem entschuldigenden Lächeln empfangen und ich ihnen vergebe. Ich wusste es. Und doch ist es die Hoffnung, die bleibt, uns in dunklen Tagen nicht noch mehr in die Finsternis treibt und wenigstens etwas Licht am Ende des eisigen schwarzen Tunnels spendet. Das mein Bruder auf die Worte von dem alternden Prediger unserer Gemeinde vertraut, schmerzt mehr als die Erkenntnis, dass meine Eltern nicht einen Millimeter von ihrer Weltanschauung abrücken. Maryse und Robert Lightwood sind angesehene Mitglieder der Idris Church of heavenly fire und ein schwuler Sohn kommt einer Kreuzigung gleich.
"Lydia. Die kleine Blonde? Die Intelligente?", überlegt Magnus.
"Genau. Meine Kollegin aus der Kanzlei. Sie ist großartig. Auch wenn ich ihr das Herz gebrochen habe. Lydia sah uns schon vor dem Traualtar und in einem schicken Häuschen in der Vorstadt." Nervös knete ich meine Hände, rutsche von einer Pobacke auf die andere und finde doch keine bequeme Position.
"Ja ich erinnere mich an sie. Du hast uns nur kurz einander vorgestellt. Bei Jace Geburtstag, oder? Ihr wart schnell wieder weg. Entschuldige, ich hatte schon ordentlich Gin Tonic in mir. Und ich glaube auch auf mir", sagt Magnus kichernd. Ich erinnere mich. Magnus war betrunken und Lydia musterte ihn skeptisch. Jace Party hatte ein Motto. 'Sei der Held deiner Kindheit.' Magnus ließ es sich nicht nehmen und kleidete sich standesgemäß in einem bordeauxfarbenen Gehrock und rüschenbesetzten weißen Hemd. Die enge schwarze samtige Hose und der antike Gehstock seines Großvaters rundeten das perfekte Bildnis ab. Er stellte eine Figur aus seinem Lieblingsroman dar. 'Das Haus der verborgenen Seelen' Ein Oldschool Fantasy Klassiker mit einem schillernden Hexenmeister, blutdurstigen Vampiren und einem jungen Helden von göttlicher Schönheit. Schmunzelnd setzte ich ihm den Zylinder auf den Kopf welchen Magnus theatralisch durch den Raum schwenkte. Meine Finger strichen über das leicht raue Material des Mantels, richteten den Kragen und verweilten einen Moment auf seiner Brust, welche sich langsam hob und senkte. Das grelle Weiß des Rüschenhemdes schmerzte in meinen Augen und dennoch schaffte ich es kaum meinen Blick von ihm zu nehmen. Ich erinnere mich an das Funkeln seiner Augen und den leichten Geruch nach Wacholder als sein Atem meine Lippen traf.
"Und danach hat sie mich gefragt, wie lange ich schon weiß, dass ich auf Männer stehe. Das war wie ein Schlag ins Gesicht und wir hatten einen sehr aufwühlenden und weinhaltigen Abend. Es gab einige Tränen, auf beiden Seiten. Und ja verdammt, ich habe geheult wie ein Baby. Aber es war so befreiend und ich habe ihr Dinge erzählt, über die ich mit euch niemals sprechen wollte. Das war vor über einem Jahr", antworte ich und Magnus schiebt mir ungefragt ein Glas Wein über den Tisch.
"So wie jetzt?", fragt er leise.
"So wie jetzt", antworte ich nickend und schlucke den dicken Kloß in meinem Hals hinunter. Magnus lächelt sanft und stößt sein Glas gegen das meine. Die feine Vibration und das Klingen des Glases durchbrechen die Stille.
"Es ist viel passiert in den letzten Jahren. Mit mir", sage ich und nehme einen großen Schluck des schweren Rebensaftes. Säure und die Weichheit der Tannine legen sich auf meine Geschmacksknospen. Man sollte Wein genießen, in kleinen Zügen auf der Zunge und dem Gaumen zergehen lassen. Doch gerade brauche ich die betäubende Kraft und Stärke der uralten Rebsorten. Intensiv, extraktreich, vergessend.
"Möchtest du darüber reden?", fragt er und ich zucke mit den Schultern. Magnus ist mir gegenüber immer ehrlich und offen gewesen. Er hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass ich der Typ Mann bin, welcher in seiner Vorstellung für den Rest seines Lebens neben ihm steht. In einer verregneten Sommernacht saßen wir auf dem Balkon seiner Wohnung, aßen Pizza von Giovanni und tranken schweren Rotwein. Unsere Zungen lockeren sich, die Themen unserer Gespräche wurde schlüpfriger und Magnus sprach über einen jungen Mann in seinen Träumen und wie gerne er ihn einmal küssen möchte. Ich erinnere mich noch genau, der Rotwein benebelte meinen Verstand nicht so sehr wie den von Magnus. In meiner Zeit als Teenager habe ich einige Wochenenden damit zugebracht, mich auf Partys meiner Freunde oder irgendwelchen flüchtigen Bekanntschaften aus der Schule, regelmäßig meinen Verstand mit Alkohol zu betäuben. Des Öfteren brachte Jace und sogar Simon mich ungesehen von meinen Eltern in mein Zimmer. Noch heute ist es mir ein Rätsel. Ich habe keine Ahnung wie sie es schafften, den strengen Augen meiner Mutter und dem scharfen Gehör meines Vaters zu entkommen. Meine Dankbarkeit war groß und meine Scham noch gewaltiger.
"Erinnerst du dich daran, wie wir uns kennengelernt haben?", frage ich und beginne somit ein längst überfälliges Gespräch und auch Geständnis.
"Natürlich. Auf dem Spielplatz im Park. Bei den Schaukeln. Ich habe dich gefragt, ob du mir hilfst in den Himmel zu fliegen."
"Und ich habe dir geholfen. Und wie ich dir geholfen habe. Ganz hoch bist du geflogen", sage ich lachend und gemeinsam versinken wir in der Erinnerung an eine so weit zurückliegende Zeit, dass es sich fast wie die Erinnerung eines anderen Menschen anfühlt.
"Ich war nie glücklicher als an den Nachmittagen im Park. Mit dir. Ich habe dir von meinen Träumen erzählt. Das ich Astronaut werden und ganz weit weg von der Erde nach der Liebe suchen möchte."
"Und ich habe deine Hand gehalten während wir nebeneinander auf den Schaukeln saßen", spricht Magnus plötzlich dazwischen.
"Ich habe deine Hand gehalten und dir gesagt, dass ich immer für dich da bin und dich sehr liebhabe."
"Weißt du noch was dann geschah?", frage ich, blicke Magnus fest in seine Augen und gedanklich sitze ich wieder auf der Schaukel im Park. Die Sonne brennt auf uns hernieder, Kinder laufen kreischend an uns vorbei. Die Vögel singen in den Bäumen und ich spüre Magnus kindliche Präsenz.
Wir waren acht Jahre alt und kannten uns erst ein paar Wochen. Aber für uns fühlte es sich an wie Jahre. Mehrmals die Woche trafen wir uns bei den Schaukeln, flogen gemeinsam durch das Universum, bekämpften böse Schurken mit grüner Haut und Hörnern, die von Flammen umwoben aus ihrem fischähnlichen Kopf wuchsen. Unsere Fantasie war grenzenlos, wir reisten jeden Tag an einen anderen Ort und entdeckten neue Welten. Bis zu diesem einen Tag, der mein ganzen Leben verändern sollte. Magnus war mein einziger Freund außerhalb des Kirchenlebens. Auch wenn Jace und Simon ein Teil dessen waren, so lebten sie nicht in solch strengen und eingeengten Verhältnissen wie ich. Sie hatten viel mehr Freiheiten und beider Familien verließen fast zeitgleich die Gemeinde. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, dann erscheint es mir nicht wie ein Zufall. Simons Schwester lebt mit einer Frau zusammen. Jace Schwester.
"Du hast mich geküsst", haucht Magnus. Der achtjährige Alexander nahm seinen ganzen Mut zusammen, verließ die Schaukel, stellte sich neben seinen besten Freund und Astronautenpartner und gab dem achtjährigen Magnus einen unschuldigen, aber dennoch warmen und kribbelnden Kuss auf seine weichen Lippen. Der laute Schrei meiner Mutter hallt noch heute, siebzehn Jahre später, laut in meinen Ohren. In meiner Erinnerung verstummte das Kreischen der Kinder, das Zwitschern der Vögel und auch die Geräusche der Stadt. Stille senkte sich über uns wie ein Kokon, plötzliche Kälte und eine tiefdunkle schwarze Wolke zog sich über unseren Köpfen zusammen. Magnus lächelte und ich erwiderte. Seine Augen fand ich vom ersten Moment unserer Begegnung an faszinierend. Sie waren nicht nur braun wie bei allem anderen asiatischen Menschen. In den Iriden tanzten funkelnde grüne Smaragde und je euphorischer er über etwas sprach, umso mehr erwachte das Feuer und ich schmolz regelrecht dahin. Wie ein Ertrinkender hing ich an seinen Lippen, Magnus war mein Gott und egal ob mein jungenhaftes Alter und die Kirche meiner Eltern etwas anderes sagten, für mich war Magnus Bane die Welt.
"Ich fühlte mich gut, frei und unendlich glücklich. Der Schlag meiner Mutter traf mich unvorbereitet. Wie könnte er auch nicht? Ich war ein Kind. Ein unschuldiges Kind und ging einfach einem tief verankerten Gefühl in mir nach. Ihre flache Hand hinterließ einen brennend heißen Abdruck. Es tat so weh. Ich erinnere mich daran. Der körperliche Schmerz verging bald. Aber der seelische, blieb bis heute. Und es war laut. Ihr Schrei war so laut und der Aufprall ihrer flachen Hand auf meiner Wange noch lauter. Ich habe geweint. Mir war nicht klar was geschehen war. Warum hatte sie mich geschlagen? Was hatte ich Falsches getan? Ich wusste es nicht und ich weinte und schrie und sie zog mich laut schimpfend aus dem Park. Die ganze Fahrt über hielt sie mir einen Vortrag über Gott und seine Kinder. Dass die Liebe zu Männern meinen Tod bedeutet. Das der Teufel seine heimtückische Brut in Form dieses Jungen geschickt hat um mich zu verführen. Und ich saß verängstigt und verwirrt im Wagen und wollte zurück zur Schaukel und in den Weltraum fliegen. Sie fuhr direkt zum Pastor unserer Gemeinde und erzählte ihm, dass ich einen Jungen auf den Mund geküsst hatte. Er wedelte mit seinen Händen über meinem Kopf herum, sprach in einer mir fremden Sprache, bespritzte mich mit einer übelriechenden Flüssigkeit und betete. Er betete und betete, seine Worte verstand ich nicht. Aber mir war klar, dass das nicht gut enden wird. Meine Mutter weinte und flehte Jesus an, die Krankheit von mir zu nehmen. Ich war acht Jahre alt und befand mich ab diesem Tag in den Fängen verschiedener Psychologen und sogenannter Experten. Sie wollten meine Dämonen austreiben, mich auf den rechten und einzig richtigen Weg zurückbringen. Viele Jahre lang habe ich gehört, dass mein Verhalten unnormal war. Dass Männer keine Männer lieben und Frauen keine Frauen. Sünde. Sex mit dem gleichen Geschlecht ist Sünde und endet im Fegefeuer, mit dem Tod. Stundenlang psalmodierte der nach Weihrauch und billigem Scotch stinkende Priester mit seinen Händen über meinen Kopf irgendwelche Stellen aus der Bibel und versuchte den Teufel aus meinem Körper zu vertreiben. Ich sah Videos von Männern die sich küssten und hörte gleichzeitig die Stimmen der Mitglieder unserer Gemeinde wie sie aus der Bibel rezitierten. In der Mitte stand der Fernseher, davor saß ich und musste mir die Bilder von sich liebenden Männern ansehen. Die Worte Gottes passten nicht zu dem, was ich sah und immer lauter wurden die Stimmen in meinem Kopf die mir sagten, dass ich einen Fehler machte und nun dafür büßen muss. Siebzehn Jahre Konversationstherapie und doch schafften sie es nicht meinen Geist vollständig zu manipulieren. Es gab dunkle Zeiten, Verletzungen und der Wunsch zu sterben. Und dann gab es helle strahlende Momente und dein sanftes Lächeln."
"Warum hast du nie etwas gesagt?", fragt Magnus mit Tränen in den Augen. Die Pizza ist bereits kalt und auch die Flasche Wein steht halbleer auf dem Tisch. Seine Hände zittern, nicht vor Kälte, sondern meinen Worten.
"Was hätte ich denn sagen sollen? Ich war ein Kind. Und später gehörte es einfach dazu", antworte ich.
"Keine Ahnung. Entschuldige." Magnus wirkt müde, erschöpft. Er streicht sich mit der flachen Hand über das Gesicht, verteilt eine Spur aus salzigen Tränen.
"Wer weiß noch davon?" Wieder ein Schulterzucken meinerseits.
"Niemand. Ich weiß nicht ob Izzy... keine Ahnung. Zuhause wurde nie darüber gesprochen. Das alles fand in einem geschützten Kreis statt. Unsere Gemeinde war immer sehr verschwiegen. Es waren immer die gleichen Personen beteiligt."
"Was war der Auslöser? Warum hast du gerade jetzt mit Lydia darüber gesprochen? Du hättest es nicht sagen brauchen", fragt Magnus interessiert. Seine Worte sind nicht anklagend. Er will es nur verstehen. Genauso wie Lydia kommt es mir in den Sinn. Auch sie saß mit vom Weinen geröteten Augen auf diesem Sofa, auf der gleichen Stelle wie Magnus.
"Wegen dir. Und der Art wie du mich an diesem Abend bei Jace angesehen hast. Du hattest etwas verletzliches in deinem Blick als du Lydia und mich gesehen hast. Sie war nicht meine erste Freundin. Aber irgendwie war es diesmal anders", sage ich ehrlich und hoffe auf eine Erklärung von Magnus.
"Weil auch ich euch bereits vor dem Altar habe stehen sehen. Und den Gedanken konnte ich nur schwer ertragen. Eigentlich gar nicht und mir wurde klar, dass jede deiner Freundinnen einen schmerzenden Stich in meinem Herzen hinterlassen hatte. Du weißt, dass ich nie viel auf Beziehungen gegeben habe. Ich hatte Dates und Kerle. Aber nie etwas Festes oder Ernstes. Sie waren alle nur für den Moment gut genug und langweilten mich bald. Denn es waren nicht diese Kerle aus den Clubs oder von fragwürdigen Dating Portalen, welche mein Herz zum Rasen brachten. Es warst du. Es warst immer du", gesteht Magnus.
"Ich bin so kaputt", sage ich leise. Magnus stellt unsere Weingläser auf den Tisch und greift sogleich nach meinen Händen. Warm und weich fühlt es sich an. Anders als die Hand einer Frau. Magnus Hände sind größer und haben einen festen Griff. Der Druck soll mir zeigen, dass er hier ist, bei mir. Dass er mich nicht mit meinem Outing und den daraus folgenden Konsequenzen allein lässt.
"Nein. Das bist du nicht. Du hast dich geoutet. Vor uns, deinen Freunden. Und auch deiner Familie. Das war sehr mutig und muss dich wahnsinnig viel Kraft gekostet haben."
"Das hat es", antworte ich erschöpft. Und wie es das hat.
"Lydia hat mir eine Freundin von sich vorgestellt. Sie ist Psychologin und beschäftigt sich mit Patienten wie mir. Ich gehe einmal die Woche zu ihr und ich versuche das Erlebte hinter mir zu lassen. Es ist nicht leicht. Aber ich bin auf einem guten Weg meint sie. Das Outing war eine Kurzschlussreaktion von mir. Es sollte eigentlich viel später stattfinden. Wenn ich emotional gefestigter bin."
"Warum? Was ist passiert?", fragt Magnus.
"Es wurde eine Erinnerung geweckt, die ich verdrängt hatte", gestehe ich.
"Sex?", fragt er sogleich und ich kann ihm seinen Gedanken nicht verübeln.
"Nein", sage ich kopfschüttelnd.
"Ich hatte nie Sex mit einem Mann. Mit Frauen ja. Aber ich empfand es immer als Mittel zum Zweck. Es muss halt getan werden um Kinder zu bekommen. Aber Spaß hatte ich dabei nie. Es fühlte sich immer falsch an. Oft dachte ich an einen Mann um etwas in mir zu regen. Und dann hörte ich wieder die Stimmen und war acht Jahre alt."
"Oh glaube mir Alexander, Sex ist so viel mehr", sagt Magnus und der warme Ton in seiner Stimme lässt mich schmunzeln. Magnus hatte in den Jahren seit seinem Outing viel Sex. Es war auch mal eine Frau unter diversen Liebhabern. Aber wenn ich mich recht erinnere, dann gehörte besagte Dame zu einem erotischen Abenteuer mit einem anderen Mann und Magnus.
"Vielleicht. Aber der Sex mit Männern liegt für mich noch in der Zukunft. Meine Mum erwischte mich beim Masturbieren. Da war ich fünfzehn. Sie machte eine Riesenszene. Es ging nicht nur um die Selbstbefriedigung. Ich starrte auf das Bild eines bekannten Musikers und stöhnte seinen Namen als ich kam. Und meine Mutter hat alles gesehen. Die treuesten Anhänger unseres Pastors wurden versammelt und ich musste stundenlang auf dem harten Boden unserer Kirche knien. Meinen Kopf gesenkt, die Augen auf die Steine gerichtet in denen Kreuze eingeritzt waren. Und dann ging es wieder los. Das beten und flehen um Erlösung meiner Seele. Ich weinte stumme Tränen und verfluchte mich und meinen Körper. Irgendwann waren sie fertig und ich auch. Jeder ging nach Hause und ich verließ für drei Wochen nicht mehr mein Zimmer. Sie sperrten mich regelrecht ein. Ich versuchte während dieser Zeit zu fliehen. Aber es gelang mir nicht. Izzy fand mich in der Badewanne, bevor die Schnitte an meinen Armen sämtliches Blut aus meinem Körper fließen lassen konnten. Ich bin ihr nicht böse. Nur frage ich mich manchmal, ob es nicht besser gewesen wäre, sie hätte mich einfach da liegen gelassen. Und dann denke ich wieder, Gott hat für jedes seiner Kinder einen Plan. Auch für mich und dich. Du hast mich nie nach dem Kuss gefragt. Wir haben nie darüber gesprochen. Und irgendwann war es nur noch eine schmerzhafte Erinnerung."
"Haben sie dich geschlagen?", fragt Magnus mit zittriger Stimme und ich nicke. Es ist viel. Für ihn und für mich. Doch es gibt jetzt kein Zurück mehr und auch wenn die Wahrheit unheimlich schmerzt, so ist sie auch befreiend.
"Ja. Das haben sie. Ich kann dir auch sagen, wer es war, und danach wirst du einige Leute in einem anderen Licht sehen. Denn du kennst sie. Also ist es besser, ich behalte es für mich."
"Alexander. Ist das der Grund, warum ich dich nie bei dir zuhause besuchen durfte? War ich dein Geheimnis?", fragt Magnus.
"Ja. Du warst immer mein Geheimnis. Erst als ich neunzehn war habe ich meinen Eltern erzählt, dass wir befreundet sind. Ich war damals mit Maria zusammen. Daher war es für sie nicht relevant. Das dachte ich zumindest. Aber ich glaube, sie haben dem ganzen nie getraut. Du warst immerhin als Kind vom Teufel besessen. Und das geht ohne Exorzismus nicht wieder vorbei."
"Du machst mir Angst", sagt Magnus und reibt sich fröstelnd über die Arme.
"Das sind nicht meine Worte und ich denke nicht so. Nicht mehr. Eine Zeitlang habe ich das. Ich wollte ein gutes Kind sein. Das Mummy mich wieder lieb hat. So ist das."
"Du bist noch immer mein Astronautenpartner", sagt Magnus lächelnd.
"Und du meiner. Da gibt es noch eine Sache." Ich brauche Kraft für diese Erinnerung, atme einmal tief ein und entlasse einen Schwall warme Luft aus meiner schmerzenden Lunge. Magnus streicht beruhigend über meinen Handrücken und allein diese kleine Geste fühlt sich so gut an.
"Meine Sommerferien verbrachte ich in einem Camp. Da waren Jungs und Mädchen wie ich. Sie alle hatten Fantasien von Männern oder Frauen. Manche von ihnen waren sogar schon jenseits der Altersgrenzen. Und damit meine ich erwachsene Männer. Und eine Frau. Sie waren verheiratet, hatten Kinder und lebten eine Lüge. Jeden Tag und ihre Familien zwangen sie dazu, in dieses Camp zu fahren und die Sünden loszuwerden. Ich war dreizehn als ich das erste Mal von meinen Eltern dorthin geschickt wurde. Es war furchtbar. Ich weinte und schrie und bekam sogleich die erste Strafe. Wir mussten alle die gleiche Kleidung tragen. Streng nach Vorschrift. Uns wurde gezeigt was männlich ist. Ein Mann geht anders wie eine Frau, die Beine werden beim Sitzen nicht überschlagen, denn das machen nur Tunten. Das Sportprogramm war krass. Für die meisten von uns die Hölle auf Erden. Gruppensitzungen und Gebetskreise. Das sprechen über Sünden und fehlerhafte Gedanken. Das alles kotzte mich so an. Ich bat meine Eltern mich abzuholen. Doch es war ihnen egal. Jedes Jahr sah ich die gleichen Gesichter und irgendwann fehlte eines. Troy. Ein bildhübscher blonder Junge in meinem Alter. Ich erwischte ihn ein paar Mal beim Rauchen. Das war verboten und für mein Schweigen, teilte er seine Zigaretten mit mir. Und nicht nur das", sage ich leise, beiße mir nervös auf die Unterlippe. Ich schmecke Blut und entlasse meine Lippen aus den Fängen meiner Zähne.
"Du bist nicht mein einziger Kuss Magnus", hauche ich. Er sieht mich liebevoll an, verarbeitet alle Informationen und mein schlechtes Gewissen ihm diese Bürde aufzuerlegen, reicht von hier bis zum Mars und wieder zurück.
"Das ist doch schön. Oder?", fragt er und ich zucke wieder nur mit den Schultern.
"Es hat mir gefallen. Aber danach war mein einziger Gedanke, dass es unnormal ist, was wir getan haben. Ein Jahr später, dass vierte Jahr meiner Ferien, kam er nicht mehr. Ich habe einen Betreuer gefragt, wo er bleibt, und ich bekam eine kurze Erklärung. 'Schwach. Sein Fleisch war willig und sein Geist schwach.' Ich habe vor kurzem erfahren, dass er sich mit einem Kerl, den er anscheinend in einer Bar traf, zum Sex auf einem Parkplatz verabredete. Doch dieser Mann kam nicht allein. Es war eine Falle. Sie verprügelten ihn und er starb an seinen Verletzungen. Die Täter konnten gefasst werden und haben eine Strafe bekommen. Ob sie gerecht ist? Ich finde nicht. Aber es steht mir nicht zu über andere zu urteilen. Ich bin kein Strafrichter. Ich bin spezialisiert auf Erbrecht. Ich überlege die Fachrichtung zu wechseln. Keine Ahnung, etwas Gutes für die Community erwirken."
"Das finde ich gut. Ich bin da, wenn du mich brauchst. Weißt du, ich würde unheimlich gerne mit dir ausgehen. Nur wir zwei. Ohne den Rest der Gruppe", sagt Magnus lächelnd. Und ohne groß darüber nachzudenken, ohne Angst und Zweifel und den mahnenden Stimmen in meinem Kopf die ununterbrochen das Höllenfeuer in bunten Farben beschreiben, nicke ich.
"Okay. Lass uns ausgehen", antworte ich und als wären dies die erlösenden Worte, verändert sich die Stimmung augenblicklich. Magnus Lächeln verschwindet, zurück bleiben leicht gespaltene Lippen, seine Zungenspitze, welche sich langsam hindurch und wieder zurückzieht. Magnus Hände verlassen meine, streicheln sanft über meine Arme. Es ist schön und mir wird warm. Ich spüre die Wirkung des Wein und die Berauschung meiner Sinne durch tastende Fingerspitzen. Ich schließe meine Augen, spüre die Liebkosung und den Pfad über mein Kinn und die Wangenknochen. Die Kuppe seines Daumen streicht über meine Unterlippe und ich öffne meine Augen. Magnus ist mir näher als zuvor. Das aufgeregte Schlagen meines Herzen vermischt sich mit dem Kribbeln auf meiner Haut.
"Und ich glaube, wir müssen gar nicht durch das Universum reisen und die Liebe suchen. Denn ich glaube fest daran, dass sie nur einen Kuss entfernt ist", flüstert Magnus und bevor sich unsere Lippen vereinen, sehe ich ein letztes Mal in seine funkelnden Augen und das wild lodernde Feuer aus flüssigen Smaragden.
~ Ende ~
Konversationstherapie
* Am 27. August 2018 stellte der Vatikan klar, dass Homosexualität keine Krankheit sei und daher Konversionstherapien nicht befürwortet werden.
* Deutschland - Am 12. Juni 2020 wurde das Gesetz zum Schutz vor Konversionsbehandlungen erlassen. Es verbietet Konversionstherapien bei Minderjährigen bis 18 Jahre und beinhaltet ein Werbeverbot. Es schützt auch Erwachsene, insofern dass auch bei ihnen Konversionstherapien verboten sind, wenn ihre Einwilligung aufgrund eines Willensmangels zustande gekommen ist.
* Bißchen spät liebes Deutschland, aber immer noch besser als die USA. Nur 7 von 50 Bundesstaaten verbieten die sogenannte "Homo-Heilung". Zudem haben 17 Städte die Konversationstherapie bei unter 18-jährigen untersagt. Es ist ein Anfang. Aber diese Art der "Therapie" betrifft nicht nur Jugendliche, sondern auch Erwachsene Männer und Frauen.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro