Papierwände - Kapitel 1
Dieser Moment, als mir bewusst wird, was in den letzten drei Stunden geschehen ist, erscheint so unwirklich. Als hätte ich es nicht am eigenen Leib erfahren. Nein, eher als würde ich meinem Ich als Außenstehender zusehen. Wie es einfach nur dasitzt und fassungslos seine Hände anstarrt. Eingesperrt in einem Hotelzimmer, wo es nie hätte sein sollen.
Noch immer spüre ich die festen Griffe auf meiner Haut. Wie sie mich grob in das Zimmer gedrängt hatten, als wäre ich nur ein Möbelstück. Ihre weißen Anzüge hatten mit jedem Schritt geraschelt und ihre Helme wirkten wie unheimliche Insektenköpfe. Die Szene in meinem Kopf stellt mir die Nackenhaare auf und kalter Schweiß läuft mir den Rücken herunter.
Ich starre die fleckige Wand an und versuche, meine innere Angst zu bekämpfen. Es muss sich um ein Missverständnis handeln. Schließlich können sie mich hier nicht festhalten. Immer wieder murmle ich diese Wörter vor mich hin. Doch der Test ist positiv. Verdammt, er ist positiv!
Ich atme scharf die Luft aus und greife nach meinem Handy. Meine Hände zittern so sehr, dass es mir beinahe herunterfällt. Hastig scrolle ich durch die Kontakte und finde Josh. Erleichtert seufze ich auf, als er nach dem dritten Klingeln abnimmt.
»Und wie ist es gelaufen? Ich hoffe, du konntest sie mit unserem Angebot überzeugen.«
Seine Stimme klingt so freudig, dass ich ein Stechen in meiner Brust spüre. Nur seinetwegen bin ich überhaupt in dieser Situation! Er sollte sich eigentlich mit den Geschäftskunden treffen und nicht ich.
»Liv?«
Ich beiße mir auf die Lippe. Die kurze Stille zwischen uns habe ich nicht wahrgenommen. Viel zu sehr denke ich daran, dass ich nicht hier sein sollte. Dass ich so große Angst habe, falls der vorläufige Test die Wahrheit sagt.
»Wir haben den Deal«, antworte ich, wobei ich mich kaum wiedererkenne. Meine Stimme klingt merkwürdig fremd, doch Josh scheint es nicht zu bemerken.
»Das ist ja ausgezeichnet!« Er jubelt vor Freude und ich halte instinktiv das Handy auf Abstand.
»Ich bin so erleichtert. Ich hatte schon Sorge, dass sie die kurzfristige Änderung der Teilnehmer abschreckt. Aber ich konnte Elly so kurz vor dem Geburtstermin nicht allein lassen. Weißt du, wie schön unser Tommy aussieht? Ein wahrer Prachtkerl, er hat ganze viertausend Gramm auf die Waage gebracht.«
Ich stelle mir vor, wie Josh als frischgebackener Vater den kleinen Wonnebrocken in seinen Armen hält. Wie er über beide Ohren grinst und diese Grübchen auf seinen Wangen erscheinen, auf die ich schon immer neidisch war. Ich fluche leise. Dieses Bild ist zu viel. Der Gedanke, dass ich sowas vielleicht nie selbst erfahren werde, treibt mir die Tränen in die Augen und ein erstickter Laut kommt über meine Lippen. So gerne will ich mich zusammenreißen, doch ich kann nicht anders. Hemmungslos überkommt es mich und ich schluchze erneut.
»Liv? Was ist los? Warum freust du dich denn gar nicht?«
»Sie halten mich hier fest.«
»Was? Wer?«
Angespannt streiche ich mir eine Strähne aus dem Gesicht, die durch die Tränen an meiner Wange klebt und unangenehm juckt.
»Die russische Regierung.«
»Aber wieso?«
»Sie denken, dass ich krank bin.« Ich schlucke heftig. »Sie denken, dass ich ... Meros habe.« Diese Worte laut auszusprechen, verursacht Panik in mir. Meine Brust hebt und senkt sich stürmisch, als wäre ich vor einem Tiger davongelaufen. Es ist nicht nur ein Gedanke. Nein, es könnte tatsächlich die Wahrheit sein. Eine Wahrheit, die mir die Zeit raubt.
Warum bin ich dieses Risiko eingegangen? Es ist es überall in den Nachrichten gewesen, wie riskant derzeit die Lage in Russland ist. Doch der Deal ist wichtig für meine Firma. So verdammt wichtig, dass es nicht länger hätte aufgeschoben werden können. Niemand schien es für besorgniserregend zu halten. Schließlich geht die Welt der Geschäftsleute weiter und die russische Regierung bemüht sich das Ausmaß unter Kontrolle zu bringen. Anfangs verlief alles wie geplant. Ich habe gar nichts davon mitbekommen. Bis jetzt. Bis ich für krank erklärt wurde.
»Oh, Scheiße«, murmelt Josh. »Aber das ist doch gar nicht gewiss, oder? Ich meine, haben sie das überhaupt ausreichend getestet?«
Ich schüttle den Kopf, bemerke jedoch, dass Josh es nicht sehen kann. »Nur der Schnelltest ... aber er ist positiv, er ist verdammt nochmal positiv!« Mein Kinn zittert unaufhörlich, als ich dies sage. Fast so, als wäre ich draußen im Schneesturm und bibbere vor Kälte. Aber doch sitze ich hier im klimatisierten Hotelzimmer und bin eingesperrt.
»Wo bist du jetzt?«, fragt Josh und holt mich aus meinen Gedanken.
»Ich weiß nicht ... ich ...« Krampfhaft versuche ich, mich an die letzten drei Stunden zu erinnern. Ich hatte gerade das Geschäftsgebäude unserer neuen Partner im Straßenviertel Primorsky verlassen und kramte in meiner Tasche, als ich die Vielzahl von Seuchenschutzmitarbeitern in meinen Augenwinkeln bemerkte. Zielstrebig liefen sie auf das Gebäude zu und ehe ich mich versah, saß ich in einem Kleintransporter und musste mehrere Abstriche über mich ergehen lassen. Sofort steigt eine lähmende Angst in mir auf, wenn ich daran zurückdenke. Wieder spüre ich diesen Schockmoment, als mir die Ergebnisse mitgeteilt wurden.
»Miss Green?« Der russische Beamte sprach mich mit akzentvollem Englisch an, obwohl ich ihm mehrfach gesagt habe, dass ich Russisch fließend sprechen kann. »Ihr Test ist positiv.« Er schaute mich mit seinen braunen Augen so ausdruckslos an, als hätte er die Botschaft schon dutzende Male an diesem Tag übermittelt.
»Die Regelungen der Regierung sind in einem solchen Fall eindeutig. Aufgrund der begrenzten Kapazitäten in den Krankenhäusern werden Sie in ein Hotel gebracht. Dort verbringen Sie eine vierzehntägige Quarantänezeit. Sie dürfen weder das Zimmer verlassen, noch mit Personen ohne Schutzkleidung Körperkontakt haben, um eine Übertragung zu vermeiden. Pfleger werden Ihnen in der Zeit zur Seite stehen. Nach vierzehn Tagen haben wir die Gewissheit und nun ja ...«
Er winkte zwei Mitarbeiter zu sich, die mich grob an beiden Armen packten und aus den Wagen zogen. Vermutlich dachten sie, ich würde mich wehren. Doch in diesem Moment war ich einfach nur überrumpelt. Wortwörtlich wurde mir der Boden unter den Füßen weggezogen und ich wäre sicherlich umgefallen, wenn mich nicht die beiden Männer so stark festgehalten hätten. Es musste ein schlechter Witz sein. Doch noch immer sitze ich hier im Hotelzimmer und erzähle Josh, was geschehen war.
»Sie können dich doch nicht einfach so einsperren! Das geht doch nicht!«, brüllt er. Ich höre das Beben in seiner Stimme. Wie recht er hat, aber es ändert nichts an meiner Situation.
»Hör zu, Liv. Ich kümmere mich darum. Ich werde dich da rausholen und wenn ich eigenständig herüberschwimmen muss.«
Ich bringe eine leise Zustimmung über meine Lippen und kann mir vorstellen, dass er die britische Botschaft kontaktieren wird. Aber was sollen sie machen? Was ist, wenn ich tatsächlich das Virus in mir trage? Ich würde alle anstecken! Doch ich will hier nicht allein sein. Nicht wenn ich weiß, dass es meine letzten Tage sein könnten.
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