Vier Minuten
Wie jeden Morgen sitze ich in der Bahn. Kopfhörer in meinem Ohr, die mich vom allgemeinen Lärm fernhalten sollen.
Da die Nacht mal wieder zu kurz war, lehne ich meinen Kopf an die Fensterscheibe und schließe noch einmal die Augen.
In meinem Kopf herrscht komplette Leere.
In Gedanken zähle ich die Stationen mit. Ich seufze, bald muss ich raus.
Plötzlich steigt ein seltsamer Geruch in meine Nase. Nicht unbedingt eklig, aber sonderbar. Neugierig öffne ich meine Augen und sehe den Mann, der mir nun gegenübersitzt. Er sieht ungepflegt aus.
Die feine Dame neben ihm verzieht das Gesicht, steht auf und wechselt den Platz.
Der Mann schaut schuldbewusst zu Boden und seine müden Augen scheinen gleich zuzufallen.
Da fällt mir auch die Narbe im Gesicht auf, die seine Wange ziert und der dreckige Mantel, der mal wieder eine Wäsche nötig hätte.
"Wie kann man nur so das Haus verlassen?" flüstert die feine Dame mit einer anderen Frau.
Als der Zug wieder langsam weiterfährt, lässt der Mann ebenfalls erschöpft seinen Kopf gegen die Scheibe kippen. Während wir beide gegen die Scheibe gelehnt dasitzen, treffen sich plötzlich unsere Blicke.
Keiner von uns sagt etwas, doch seine traurigen Augen könnten Geschichten erzählen.
In das Gemurmel der anderen Fahrgäste hinein, höre ich ein deutliches Magenknurren. Es muss sein Magen sein, denn er schaut mich entschuldigend an.
Ich zögere nicht lange und hole mein Frühstücksbrötchen aus der Tasche. Mit einem aufmunternden Lächeln übergebe ich es ihm. Ich kann mir nachher ein Neues beim Bäcker kaufen.
Dankbar nimmt er das Brötchen entgegen, lächelt ebenfalls und beißt genussvoll hinein.
Ich kann ihm ansehen, wie sehr er dieses Brötchen wertschätzt.
Wortlos holt er ein zerknittertes Bild aus seiner Manteltasche und streckt es mir entgegen. Ich nehme es und betrachte das Foto. Es ist ein kleines Mädchen zu sehen. Es sitzt lachend im Gras und winkt fröhlich in die Kamera.
Es ist ein schönes Bild. Als ich es jedoch umdrehe, sehe ich ein Geburtsdatum und … ein Todesdatum!
Die Daten sind lediglich fünf Jahre auseinander und letzteres ist sogar erst ein paar Wochen her. Leicht geschockt blicke ich zu dem Mann. Er nickt nur traurig.
Ich starre nochmals auf das Bild. Die Nase gehört eindeutig dem Mann, ist sie also seine Tochter?
Als ich prüfend seine Nase betrachte, nickt er wieder.
Ich gebe ihm das Bild mit einem mitleidigen Blick zurück. Er steckt es wieder ein und schaut mich dankbar an.
Obwohl wir bisher kein Wort gesprochen haben, habe ich ihn kennengelernt. Ein völlig fertiger Mann, der seine kleine Tochter verloren hat. Das muss schrecklich sein.
Der Zug wird wieder langsamer und hält schließlich an. Der Mann erhebt sich und nickt mir lächelnd zu. Seine Lippen formen ein stummes "Danke", dann verlässt er den Zug.
Ich lehne meinen Kopf wieder an die Scheibe.
Er scheint ein guter Mann zu sein, auch wenn sein Schicksal ein Arschloch ist.
Ich schließe wieder meine Augen.
Von der feinen Dame, die mir schon von Anfang an gegenübersaß, habe ich nichts erfahren, aber diese vier Minuten mit diesem Mann, haben gerade mein Leben verändert - nichts ist, wie es scheint! Und auch kleine Geschenke können Menschen glücklich machen.
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