*1.Narben*
Melanie Neubauer:
Hier sitz ich nun. Auf dem weich gepolsterten Sofa umgeben von schlichten Möbeln, welche sowieso nur dekorationsbedingt hier stehen. "Möchtest du mir dieses Mal erzählen was damals passierte?" höre ich ihre Stimme wie aus der Ferne. Damals. Es ist kein Tag vergangen an dem ich nicht daran denken musste. Damals. Wie kann sie es erzählen als wäre es Jahrzehnte her?
Aus dem Augenwinkel bekomme ich mit, wie sie sich etwas notiert und wahrscheinlich ihre nächste Frage formuliert, aber ich versuche gar nicht, mich mehr auf sie zu konzentrieren. Vorsichtig streiche ich über meine Vernarbten Hände. Von weit entfernt höre ich die Männer schreien. "Wenn du jetzt aufhörst weißt du wo du landest" knurrten sie bedrohlich.
Es ist nicht real. Zumindest nicht mehr. Ihr verachtendes Lachen, als sie sahen, wie ich mir meine eigenen Finger an dem Stein den ich tragen musste brach, höre ich noch immer wenn es zu still ist.
"Melanie?" Ich zucke zusammen und sehe die Frau an. "Möchtest du mir sagen woran du gerade denkst?" versucht sie es erneut. Ich sehe bloß wieder auf meine Hände und höre sie leise seufzen."Wir können dir nicht helfen, wenn du nicht mit uns redest" sagt sie sanft, aber man kann deutlich hinaushören, dass sie langsam genervt ist.
Es hat auch noch keiner darüber nachgedacht, dass ich vielleicht gar nicht hier sein möchte. "Wenn du mir etwas mehr über dich erzählst, können wir vielleicht deine Familie finden." fügt sie an. "Sie sind tot" sage ich trocken. Es ist das erste Mal, dass ich hier wirklich spreche. Aber wenn sie noch einmal meine Familie erwähnt, dann breche ich zusammen und das will ich um jeden Preis verhindern.
Alle meinen, der Krieg sei vorbei, aber wir stecken noch mitten drin. Er wird niemals enden. Sie werden andere Orte finden, wo sie uns Juden hinschieben. Wenn es kein KZ ist, wird es möglicherweise etwas Schlimmeres sein, in dem sie uns zu Tode foltern. Ich höre sie wieder wie aus weiter Entfernung eine Entschuldigung sprechen. Als würde so etwas ausreichen,um irgendetwas wieder gut zu machen.
Ich nehme mir die Tasse Tee, welcher für mich bereitgestellt wird. Im Stiel des Löffels ist eine Spiegelung von mir zu erkennen, doch ich blicke in Fremde Augen. Langsam sinkt mein Blick zu meinen vernarbten Lippen. Zu oft sind sie aufgerissen. Auf meinen Wangen sieht man ebenfalls viele Narben und halb verheilte Schnittwunden. Ich bin entstellt worden. Narben, welche niemals verschwinden werden, zieren mein Gesicht. Sie zeigen nach außen hin einen winzigen Bruchteil meiner inneren Narben. Gedanken, welche mich Tag und Nacht plagen.
"Ich bitte dich. Wenn du nicht reden willst, um dir selbst zu helfen, dann tu es, um all den anderen Opfern zu helfen" versucht sie es erneut. Ich glaube, sie kann einfach nicht verstehen, dass ich mich niemandem anvertrauen werde. "Okay warte kurz hier" sagt sie auf mein weiterhin bestehendes Schweigen, steht auf und verlässt den Raum.
Etwas ängstlich warte ich auf ihre Rückkehr. Was ist, wenn sie mich zurück in eins der KZ bringen. Ich würde so gut wie alles dafür tun, um nicht zurück nach Ravensbrück zu müssen.Als sie wenig später mit einem jungen Mann hereinkommt, welcher ähnlich viel vernarbt ist wie ich, bin ich erst etwas verwirrt bis ich ihn erkenne.
"Ihr kennt euch aus dem Jugendschutzlager" versuchte sie zu erklären. Wir schliefen dort zusammen auf einem Zimmer und waren, soweit man das in einer solchen Anstalt sein kann, Freunde. Er brachte mich in diesem Lager oft zum Lachen, auch wenn es absolut der falsche Ort für so etwas war. Er half mir immer, wenn ich wieder angeschrienen wurde, sie mich schlugen oder ich an meine Eltern denken musste.Niemals hätte ich gedacht ihn wieder zu sehen und das sogar lebend. Viel zu viele waren gestorben. Nur er nicht.
"Hallo Melanie" sagt er zögernd. Ich nicke nur leicht und sehe ihn an. Er setzt sich mit etwas Abstand neben mich. "Erinnerst du dich noch?" fragt sie mich. Ich nicke leicht. Ich könnte es eh niemals vergessen.
"Ich lasse euch mal alleine reden" sagt sie vorsichtig und geht wieder raus. Ein paar Minuten schweigen wir uns einfach an. Bis er dann vorsichtig fragt wie es mir geht. Ich räuspere mich, da sich mein Hals unangenehm zuschnürt. "Ganz okay glaube ich" antworte ich leise. "U-und dir?"."Mir geht's tatsächlich relativ gut. Bin dem tot gerade so von der Schippe gesprungen" meint er leicht lachend.
Er ist immer noch wie der Junge, welchen ich damals kennenlernte. So glücklich und positiv. Leicht muss ich auch schmunzeln. "Ja das sind wir wohl alle" sage ich leise. Er nickt schmunzelnd. "Du warst in Ravensbrück?" fragt er dann etwas ernster. Ich nicke. "Also nur von Uckermark nach Ravensbrück gebracht worden, hm?" erneut nicke ich. Ich habe das Gefühl noch nie eine andere Gegend gesehen zu haben. "Ich war in Buchenwald. Das hat man mir aber erst bei Kriegsende mitgeteilt" sagt er.
"Alles fiel so plötzlich. Die Soldaten verschwanden so schnell. Es war alles so unwirklich" erzählt er. Wir unterhalten uns noch etwas, bis die Frau wieder reinkommt."Melanie? Möchtest du mir das vielleicht auch mitteilen?" fragt sie sanft. Ich sehe unsicher zu ihm. Er lächelt mich aufmunternd an.
Und so fange ich, mit vielen Unterbrechungen, an zu erzählen. Alles. Von dem Tag, an dem sie uns im Keller entdeckten, trennten und mitnahmen. Als ich zusah wie sie mir meine Eltern nahmen. Als ich im Jugendschutzlager Uckermark Strafarbeit leisten musste und ein Jahr später, mit 16, in das KZ Ravensbrück gebracht wurde. Als ich Teppiche in der winzigen Fabrik mit zig anderen Frauen herstellen musste. Als sie uns stundenlang auflaufen ließen, ohne Schuhe. Uns schlugen, für jeden mucks, den wir machten. Wie abgemagert wir alle waren.
Ich erzähle alles. Und ich weine. Weine, obwohl ich mir geschworen hatte es niemals wieder zu tun. In irgendeiner Form fühlt es sich jetzt leichter an als zuvor
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