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Dein Herz blieb stehen, als du die ersten Schritte durch das eisige Wasser watetest, und du bereutest deine Entscheidung. Fenrir jedoch stand bereits bis zu den Knien in den Fluten. Ihm schien die Kälte nicht im Geringsten etwas auszumachen. Doch die schwarzen Linien auf seinem Rücken lenkten doch rasch von deinen absterbenden Füßen ab: zuerst hieltst du es für Tintenflecke, bis die Striche ein Bild ergaben und der majestätische Wolf sich über seinen ganzen Rücken erstreckte. Es war keines dieser Tattoos, die billig aussahen und ausgelutschte Motive duplizierten. Noch nie hattest du so etwas Schönes gesehen. Es war gleichzeitig vollkommen wie auch unperfekt. Ein Kontrast an sich und aufgrund der dunklen Farbe auch zu seiner bleichen Haut.
Du beeiltest dich, ihn einzuholen. Auch wenn das kalte Nass sich brennend um deine Beine krallte. »Dein Tattoo ist echt schön«, sagtest du, als du auf Fens Höhe warst.
»Danke.« Ein Lächeln umspielte seine weichen Lippen.
»Welche Bedeutung hat es, wenn ich fragend darf?«, erkundigtest du dich und zwangst dich eisern, ein Bibbern zu unterdrücken. »Also das Motiv. Warum ausgerechnet ein Wolf?«
Er blieb stehen, als das Wasser bis zu seinem Bauchnabel reichte und ihn seicht umspülte. Noch immer schien Fen kein bisschen zu frieren. »Ich liebe Wölfe. Wir haben viel gemeinsam. Auch ich streife lieber durch die Wälder. Ich hatte schon immer eine besondere Bindung zu diesen Tieren. Vielleicht, weil es mir in die Wiege gelegt wurde.«
Du bliebst stehen, als sich auch deine Boxershorts mit Wasser vollgesogen hatte und er nur noch ein paar Hand breit von dir entfernt war. Es kostete dich deine gesamte Beherrschung, in diesem Eisbad zu stehen. Alles brannte und schrie nach Wärme. »Wie meinst du das?«
»Fenrir bedeutet großer, böser Wolf«, antwortete Fen dir leise, seine roten Augen leuchteten wie glühende Kohlen. »Ich weiß nicht, wie sehr du mit der nordischen Mythologie vertraut bist.«
»Das ist voll schön.« Etwas klingelte bei dir. »Fenriswölfe.«
»Exakt. Ich mag es, die Bedeutungen von Namen zu kennen«, gestand der junge Mann. »Weißt du, was deiner bedeutet?«
Traurig schütteltest du deine Kopf. »Leider nein.«
»Noí ist Isländisch und bedeutet kleines Boot.« Er hob seine Finger zu deiner Brust und zeichnete zärtlich den Umriss deines heftigen Hämatoms auf deiner Brust nach. »Ich kenne dich kaum, aber dieser Name passt perfekt zu dir. Als ich dich da an der Bar zwischen all den Menschen habe sitzen sehen, wirktes du genauso verloren wie ein winziges Schiffchen auf hoher See. Und bis jetzt bin ich dieses Gefühl nicht losgeworden. Ich wollte vorhin nur nicht fragen, weil ich nicht der Meinung war, dass die Antwort für alle Ohren gedacht ist. Wer hat dir das angetan?« Seine Stimme war zum Ende hin leiser geworden und Wut hatte sich mit jeder Silbe mehr in den Worten manifestiert.
Eine spitze Eisscherbe drängte sich zwischen euch hindurch - erst dachtest du, es wäre ein Eiszapfen von bestimmt zwanzig Zentimetern Länge - und ließ dich kurz zusammenzucken. »Mein Vater. Er hat gestern herausgefunden, dass ich auf Männer stehe.«
»Väter können grausam sein«, seufzte Fen mitfühlend. »Es tut mir leid, dass du das durchmachen musstest.«
Du versuchtest du an einem Lächeln, während die Kälte sich durch deinen Körper fraß und selbst die panische Gänsehaut nichts dagegen tun konnte. »Ist schon okay, du kannst ja nichts dafür.«
»Wenn du meinst.« Seine Augen begannen zu glühen. Diesmal sah es wirklich so aus, als würden sie Licht absondern.
Ein komisches Gefühl beschlich dich. »Sag mal, warum ...« Jäh durchschnitt ein quälender Schrei die Nacht und ließ dich zusammenzucken. Es klang, als würde ein Wolf schreckliche Qualen leiden. Nur, dass dieses Tier keine natürlichen Feinde hatten. »Was war das?« Deine Augen huschten energisch zum Ufer - Und blieben an einem ebenso rot glühenden Augenpaar hängen, wie Fen es hatte. Nur dass der Körper der Kreatur von der Dunkelheit verschluckt wurden. Dir wurde schlecht.
Die Stimme des anderen Mannes war leise, als er zu sprechen begann. »In der Dunkelheit lauern Gefahren, die du nicht erkennen kannst. Doch sie existieren - und ich bin eine davon.«
Panik ergriff dein Herz und du fuhrst zu ihm herum. »Was meinst du damit?«
»Komm schon, ich bitte dich.« Fen rollte spöttisch mit den Augen. Beim Lachen entblößte er nadelspitze Fänge, die dir bis dato nicht aufgefallen waren, und es wirkte um einiges irrer als die Male davor »Dachtest du wirklich, ich würde dich mögen? Hast du nicht mal für einen Moment mit dem Gedanken gespielt, dass ich etwas anderes wollen würde?«
»Was willst du von mir?« Innerlich verfluchtest du dich für deine Naivität und versuchtest langsam, Abstand zwischen dich und das Monster zu bringen.
Doch der Mann hatte andere Pläne. In einer unmenschlich schnellen Bewegung hatte er zu der scharfen Eisscherbe gegriffen und sie dir zwischen die Rippen gerammt. »Du bleibst schön hier.«
Der Schmerz explodierte in dir und überdeckte kurz sogar die beißende Kälte. Keuchend erstarrtest du und glotztest ihn entsetzt an. Dein Gehirn verweigerte augenblicklich den Dienst. »Was willst du?«, würgtest du erneut hervor. Langsam senktest du den Blick und stiertest den gefrorenen Dolch an, der zentimetertief in dir steckte; unfähig, irgendetwas zu tun.
Allerdings packte Fenrir wenige Sekunden später die Scherbe. Mit einem für dich qualvollen Ruck zog er sie aus deinem Fleisch - und leckte die eiskalte Lebensessenz zu deinem entsetzen mit der Zunge ab. »Dein Blut natürlich.«
Bevor du auch nur reagieren konntest, sprang die Kreatur auf dich und und versenkte seine Fänge in deiner Kehle. Kreischend schlugst du um dich; die Schmerzen, die inzwischen durch jede Zelle deines Körpers zuckten, ignorierend. Doch Fenrirs Griff war eisern. Es war, als merkte er gar nicht, dass du dich mit aller Kraft gegen ihn wehrtest. Du konntest keinen klaren Gedanken fassen und schafftest es noch nicht einmal, zu verstehen, was hier gerade vor sich ging. Alles in dir schrie nach dem Überleben. Doch egal, wie heftig du um dich tratst und ihm kratztest, du merktest rasch, wie deine Kräfte schwanden. Das Prickeln, das seine Nähe vorhin noch in dir ausgelöst hatte, war einer schrecklichen Todesangst gewichen. Dir wurde klar, dass deine Schreie hier draußen niemand hören würde und Tränen der Hilflosigkeit rannen dir brennend über die Wangen. Deine Gegenwehr schwand schneller, als es dir lieb war, während das Monster dir dein Blut aus der Arterie sog.
Nur wenige Minuten später, als du dich nicht mehr rühren konntest und nur noch wie eine leblose Puppe in seinen Klauen hingst, lockerte er seinen Griff und ließ dich in das eiskalte Wasser sinken. Wärst du noch ganz bei dir, wäre dir das Herz stehen geblieben. So warst du nun dankbar für die lindernde Kühle.
»Eigentlich bist du fast zu schade dafür. Vielleicht hätte ich dich doch wandeln sollen. Aber was soll's«, drang Fens Stimme dumpf zu dir durch.
Aber dein Blick hing an seinen Augen, welche dir auf einmal wie rote Kristalle vorkamen. Das gläserne Eis glitzerte stumpf in der blutroten Flüssigkeit. Matte Mondlichtstrahlen versuchten stetig flackernd den Kristall zu erreichen und zwischen den schimmernden Flächen zu tanzen, doch das Liquid bremste die bunte Begeisterung und erschwerte die Reise. Umso schöner war das leise Farbenspiel zwischen den geschliffenen Kanten. Jede Seite der Kristalle ebenso glatt wie klar. Dir wurde die geradezu geisterhafte Erscheinung der scharfen Spitzen bewusst, wie sie da in der dunklen Flüssigkeit schwammen. Andächtig umschlugen die schillernden Finger den Kristall, schmiegen sich um ihn, schützend wie unterdrückend. Ein Kampf zwischen dem festen Eis und dem weichem Nass, dessen Unschuld schon lange genommen war. Ein Kampf zwischen messerscharfer Macht und schwindenden Lebens.
Einen Kampf, den du verlorst.
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