"Käpt'n, ein Schiff ist am Horizont aufgetaucht", rief Leon Smith, der erste Maat und oberste Offizier der Burning Witch.
"Wo?" Yara Morgan sprang auf. Ein Schiff kam ihr ganz gelegen, denn seit Wochen war nichts Spannendes vorgefallen und die Crew fing an, sich zu langweilen. Und das musste um jeden Preis verhindert werden. Yara schätzte ihrer Crew, jedes der Mitglieder hatte sie selbst bestimmt und in einem Kampf würde sie jeden von ihnen ihr Leben anvertrauen. Und trotzdem - wenn Langweile das Schiff heimsuchte, würde es nur zwei Möglichkeiten geben: entweder sie setzten Yara als Captain ab oder sie fingen an, zu trinken und Kartenzuspielen. Beides war schlimm.
"Hier", Leon Smith zeigte auf einen kleinen Punkt am Horizont. "Tia hatte es entdeckt."
Yara musste schmunzeln. Natürlich hatte es Tia entdeckt. Die kleine Zehnjährige saß den ganzen Tag über im Mastkorb und hielt Ausschau. Sie war die jüngste, aber hatte bei weitem die besten Augen. Sie sah Dinge aus der Ferne schon Minuten bevor jemand mit Fernrohr sie überhaupt erst bemerkte. Also ein ziemlicher Gewinn für Yaras Mannschaft.
Das Schiff, dass zuerst nur ein kleiner Punkt am Horizont gewesen ist, kam näher.
"Engländer!", rief Tia vom Mastkorb hinunter.
"Und?" Leon Smith hatte eine Hand bereits an seinem Säbel, er freute sich schon auf neue Beute, ebenso wie die restliche Crew. Diese hatte sich schon bereitgestellt, alle mit Dolchen, Säbeln, Pistolen oder Entermessern bewaffnet.
"Wir entern es!", verkündete Yara. Sie war immerhin Piratin, auch wenn sie selbst den Begriff Freibeuterin bevorzugte.
Die Piraten jubelten auf.
"Los!", ordnete Yara an.
Ihre Crew reagierte sofort. Die Jolly-Roger Fahne wurde über das schwarze Segel gehisst, gleich daneben Yaras eigene Fahne, die einen brennenden Säbel zeigte, Kanonen wurden bereitgemacht, auch wenn sie nicht benötigt werden würden, und Joey, der afrikanische Steuermann, ein ehemaliger Sklave und einer von Yaras engsten Vertrauten, steuerte die Burning Witch in Richtung der englischen Galeone.
Yara schickte Tia unter Deck, sie wollte nicht, dass die Kleine einen Kampf mit ansehen musste. Dann zog sie ihren eigenen Säbel hervor, ein Geschenk ihres Ziehvaters. Yara griff kurz nach ihrer Kette, ein Geschenk ihrer Mutter und seitdem ihr ständiger Begleiter und Glückbringer, dann rannte sie hinunter zur Reling.
Die Männer auf der Galeone erkannten offenbar erst jetzt die Gefahr, denn sie wendeten das Schiff. Aber sie hatten keine Chance, denn Yaras Schiff war viel kleiner, schneller und wendiger, außerdem hatten die Piraten die Überraschung auf ihrer Seite.

Schon nach kurzer Zeit hatte die Burning Witch das englische Schiff eingeholt. Dieses war zwar bewaffnet, Joey steuerte das Piratenschiff aber so, dass die Kanonen der Galeone es unmöglich treffen würden. Zwar könnte dann auch Yaras Crew nicht schießen, aber das war ohnehin nie der Plan gewesen. Dann würde das Schiff nur sinken, und die ganze Beute würde am Meeresboden verstreut sein.
Und nun geschah der Teil, den die Piraten schon so oft gemacht haben, der eigentlich schon zur Routine gehört: Ein paar Piraten warfen Enterhaken und zogen so das Schiff näher heran, während die anderen sich bereitmachten, um das Schiff zu entern. Yara selbst band sich ihre wilden schwarzen Locken im Nacken zusammen und ging zu ihrer Crew hinunter. Sie hörte, wie Chris, der Schiffsjunge, auf eine Trommel schlug, die er sich selbst mit seinem Lohn gekauft hatte, und die sein ganzer Stolz war. In einem anderen Leben wäre er sicher Musiker geworden.
"Bereitmachen!", rief Yara über das Lärmen der Trommeln hinweg.
Und dann hörte sie das Gebrüll der Engländer.