Henry und der Tod - 5
„Das ist unmöglich. Unsere Versuche, ihn wiederzubeleben, waren allesamt erfolglos", eine völlig konsternierte Frauenstimme war das erste, das Henry hörte. „Aber wie Sie sehen, lebt er", entgegnete Silvias Stimme ein wenig barsch, doch Henry hörte deutlich ihre Erleichterung heraus. „Mein Vater ist eben nicht so nah am Tode, wie Sie denken – vorhin hat er ganz eindeutig meine Hand gedrückt, als ich mit ihm gesprochen habe!" „Silvy... das ist kaum möglich", schaltete Lennard sich so behutsam ein, dass man glauben könnte, er hielte seine jüngere Schwester immer noch für ein zart besaitetes Kind, das die Wahrheit vielleicht nicht vertrug. „Vielleicht nimmt er das Geschehen um sich herum wahr, das mag schon sein, aber dass er auf einen Reiz seiner Umgebung mehr oder weniger bewusst reagiert, das ist ausgeschlossen!" „Wenn ich es doch ganz deutlich gespürt habe!", versetzte Silvia mit leisem Trotz in der Stimme. Wenn er gekonnt hätte, hätte Henry jetzt wohl belustigt gegluckst. Seine Tochter ließ sich von niemandem so einfach Paroli bieten, das hatte sie von ihrer Mutter. Ihre Mutter... Marilyn... ob die Gestalt hoch oben auf der Treppe wirklich sie gewesen war? Und wenn ja, würde sie noch immer dort stehen und auf ihn warten, wenn er zur Treppe zurückkehrte? Oder hatte er die falsche Entscheidung getroffen? Ein leises Wispern neben seinem Ohr riss Henry aus seinen Gedanken: „Grandpa? Grandpa, bist du da? Bist du nicht tot?" Isabel. Ihretwegen war er doch überhaupt wieder ins Diesseits gekommen! Henry spürte ihre langen, krausen Locken über seine Wange streichen und hörte den Lattenrost leise quietschen, als das kleine Mädchen sich mühsam zu ihm auf das Bett hievte und über ihn beugte. Anders als Silvia vorhin machte sie allerdings keine Anstalten, seine Hand zu nehmen, also musste er sich etwas anderes überlegen. „Dad? Warum macht Grandpa die Augen nicht auf?", fragte Isabels Stimme kummervoll. Die Augen auf! Das war es! Wenn er das fertigbrachte... Henry verschwendete keine weitere Zeit damit, der Antwort seines Sohnes zu lauschen. Es dauerte ja schon einige Sekunden, bis er überhaupt lokalisiert hatte, wo seine Augenlider lagen – es fühlte sich an, als müsse er jeden einzelnen Muskel bewusst und mit voller Willenskraft selbst steuern, um irgendetwas bewegen zu können. Zuerst brachte er nur ein schwaches Flattern der Lider zustande, was Isabels kindlich-flüchtiger Aufmerksamkeit natürlich entging. Dann jedoch, wenn er sich so fest wie möglich anstrengte, mit aller zur Gebote stehenden Kraft daran dachte, wie sehr er Isabel dieses Zeichen geben wollte, wie glücklich und befreit er dann zur Treppe zurückkehren könnte, schaffte er es. Er schlug die Augen auf. Das erste, was er sah, war jede Menge Licht. Nachdem er so lang nur die Dunkelheit seiner Lidinnenseiten gesehen hatte, blendete ihn das krankenhaustypische Neonlicht, das den Raum in kaltes, weißes Licht tauchte, fast so stark wie die Sonne. Langsam kristallisierte sich jedoch eine schattenwerfende Silhouette in seinem Blickfeld heraus, die er nach einem Moment eingehender Betrachtung als Isabels Kopf identifizierte. Ihre schwarzen Haare baumelten wie ein Vorhang auf ihn herab und fegten knapp über Henrys Nasenspitze hinweg, als sie ihr Gesicht wieder zu ihm drehte. In den kindlichen, großen dunklen Augen seiner Enkelin schimmerten Tränen und ihre Nase lief, doch für Henry war es der schönste Anblick auf Erden. Besonders, als sie seine geöffneten Augen wahrnahm und sich ihr kleiner Kindermund zu einem verblüfften O formte. „Grandpa", flüsterte Isabel glücklich und legte ihre kleine Hand an seine Wange, als wolle sie sich davon überzeugen, dass er auch tatsächlich real war. Dann jedoch wurde ihr Tonfall wieder bedrückt: „Du musst sterben, oder?" Eine Antwort wartete sie gar nicht erst ab, sondern fuhr gleich fort: „Ich weiß das. Dad hat es mir gesagt. Aber ich wollte mich verabschieden. Dad sagt, da, wo du hingehst, siehst du Granny wieder und dir tut dann auch der Rücken nie wieder weh, also geh da jetzt hin, ja? Ich hab dich ganz dolle lieb, Grandpa." Henry wollte etwas erwidern, sich verabschieden, seiner Enkelin danken, aber alles, war er zustande brachte, war ein kaum wahrnehmbares Lächeln. Isabel allerdings schien es zu reichen, denn sie flüsterte „Tschüss, Grandpa" und eine kleine Träne tropfte aus ihrem Augenwinkel auf Henry hinab. Noch mit dem Lächeln auf den Lippen schloss Henry die Augen in Zeitlupe wieder.
Kaum sah er die Treppe, als er auch schon darauf zu stürzte und die Stufen in Windeseile erklomm. Diesmal würde er nicht zurückkehren, das wusste er ganz sicher. Die Versuche der Ärzte und Pflegekräften, ihn ins Leben zurückzuholen, spürte er fast nicht mehr, sie beeinflussten ihn nicht mehr als ein hauchzarter Wind. Und da, da stand auch die Gestalt! Er beschleunigte sein Tempo nochmals, es fühlte sich an, als käme er endlich nach Hause.
Ein paar Schritte und er erkannte, dass sie ihm genau wie vorhin zuwinkte.
Ein paar Schritte und er erkannte, dass es tatsächlich eine Frau war, die ganz oben auf dem Treppenabsatz stand.
Ein paar Schritte und er erkannte, dass sein Herz ihn richtig geleitet hatte.
Ein paar Schritte und er stand vor ihr, vor seiner geliebten Marilyn. Sie lächelte ihn voller Liebe an. „Marilyn..." Er wusste nicht, was er sagen sollte. Ihr Lächeln vertiefte sich und sie legte den Finger an die Lippen, also ergriff er nur stumm ihre ausgestreckte Hand und gemeinsam schritten sie durch die strahlende Tür aus Licht, bereit, allem, was dahinter liegen mochte, gemeinsam zu begegnen.
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