Henry und der Tod - 4
„Wir haben einen stabilen Puls, aber er ist sehr, sehr schwach", drang eine unbekannte Frauenstimme ernst an Henrys Ohren. „Ich halte es für unwahrscheinlich, dass er den heutigen Tag überlebt. Bei einem so alten, müden Herzen hilft auch der Strom nur noch begrenzt." „Ich verstehe." Silvias Stimme klang belegt, aber gefasst. „In ein paar Minuten wird meine Nichte hier eintreffen, wissen Sie? Sie möchte sich so gern noch von ihrem Grandpa verabschieden..." Die Geräusche schienen auf einmal aus weiter Ferne zu kommen. Die Antwort der anderen Frau hörte Henry zwar noch, aber so leise und undeutlich, dass er kein Wort mehr verstand.
Wieder sah Henry vor sich die Treppe. Er hatte die letzten beiden Male nicht das Gefühl gehabt, irgendetwas unscharf zu sehen, aber jetzt erschien ihm alles noch viel klarer und gestochen scharf. Diesmal nahm er sich nicht die Zeit, den Kopf in den Nacken zu legen und die schiere Größe der Treppe und das helle Rechteck oben zu bestaunen, sondern begann gleich mit dem Aufstieg. Er war bereits weiter als je zuvor, da glaubte er, über sich auf der Treppe eine Gestalt ausmachen zu können. Eine menschliche Gestalt. Marilyn...? Er nahm jetzt immer zwei Stufen auf einmal, kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Ja, das war definitiv ein Mensch – und wer immer da oben stand, er oder sie wartete auf ihn, winkte ihm zu. Plötzlich spürte Henry wieder das Ziehen. Etwas zerrte an ihm, wollte ihn aufhalten, mehr noch: zurückholen. Doch es war so viel schwächer als beim letzten Aufstieg, er brauchte nur nach dem Geländer zu greifen und konnte der unsichtbaren Kraft mühelos widerstehen. Diesmal, jawohl, diesmal würde er es schaffen. Er würde die Treppe hinaufsteigen und die wartende Gestalt begrüßen – seine Frau, Marilyn, sie musste es einfach sein. Doch auf einmal hallte eine Stimme, laut und klar vernehmbar, aber von Schluchzern verzerrt, durch die Dunkelheit um die Treppe herum: „Nein! Grandpa, nein! Er darf nicht tot sein, bitte, bitte nicht! Grandpa, bitte, nicht sterben! Nein... nein... Grandpa, komm zurück! Bitte... komm doch zurück..." Dann war nur noch Weinen zu hören. Henry blieb stehen; die Stimme stach ihn mitten ins Herz. Es war Isabel, die da so herzzerreißend schluchzte, seine kleine Enkelin. War es nicht furchtbar selbstsüchtig, sterben zu wollen, wo sie ihm doch so sehr hinterhertrauerte? Wie konnte er sich freuen, endlich die Schwelle des Todes überschritten zu haben, wenn er dabei ihren Schmerz hören konnte? Konnte er denn guten Gewissens weitergehen, wenn sie ihn so anflehte, zurückzukommen? Tief in sich wusste Henry, dass seine Zeit gekommen war. Er würde immer und immer wieder zur Treppe zurückkehren, bis sein Aufstieg irgendwann nicht mehr aufhaltbar war. Aber er wusste auch, dass seine Familie ihm das Wichtigste überhaupt war, weit wichtiger als seine eigenen Bedürfnisse. Er konnte nicht bei ihnen bleiben, so sehr sie sich das auch wünschten. Aber wenn er noch einmal zurückkehrte... vielleicht konnte er Isabel ein Zeichen geben wie vorhin Silvia. Für ihn war es nichts, für sie könnte es so viel bedeuten. Henry blickte hoch zu der Silhouette – sie hatte aufgehört zu winken und schien dem Weinen zu lauschen. Dann, als hätte sie seinen Blick gespürt, drehte sie sich zu ihm und nickte ihm langsam zu. Das gab den Ausschlag. Schweren Herzens drehte Henry sich um. Alles in ihm wehrte sich, schrie danach, der eigenartigen Anziehung, die von der leuchtenden Tür ausging, zu folgen, doch er stieg die Treppe unbeirrt wieder hinunter, zuerst unsicher und schwankend, dann immer schneller. Zu schnell, denn mit einem Mal glitten seine Füße ab, er stolperte nach vorne und fiel mit dem Gesicht voran in die Schwärze. Fiel... fiel... fiel...
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