Henry und der Tod - 3
Henry wartete und wartete, solange, bis die Tür wieder auf und zu schlug und jemand keuchend ins Zimmer stürzte. „Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte. Wie geht es ihm denn?" Silvia war eingetroffen. Henry spürte plötzlich eine unbestimmte Wut in ihm hochsteigen. Die ganzen letzten beiden Jahre hatte seine einzige Tochter keine Zeit für ihn gehabt, immer war ihre plötzlich boomende Karriere wichtiger gewesen. Nicht, dass er ihr es nicht gönnte, ganz im Gegenteil, es war sein größter Wunsch gewesen, dass Silvia endlich einmal Erfolg im Leben hatte. Aber er fand es schade, sehr, sehr schade, dass sie im Zuge dessen für die Familie überhaupt keine Zeit mehr hatte und das hatte er ihr auch offen und in aller Deutlichkeit gesagt. Sie war ziemlich wütend geworden, hatte ihm vorgeworfen, er wäre egoistisch und würde sich nicht für sie freuen, und jetzt plötzlich hieß es, „ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte"? Er hörte, wie Lennard aufstand und ihr den Stuhl am Bett freimachte. „Den Umständen entsprechend, würde ich sagen. Vitalzeichen momentan stabil." Während Silvia sprach, näherte sich ihre Stimme Henrys Bett und kam dann neben ihm zum Halten: „Was ist denn überhaupt passiert?" Das würde er auch gerne wissen. „Er war im Schwimmbad – du weißt schon, er hat doch das Wasser zuletzt so geliebt, weil es seine Schmerzen lindert – und beim Schwimmen hat sein Herz wohl plötzlich einfach aufgehört zu schlagen. Das sei in seinem Alter nicht ungewöhnlich, sagen sie hier. Dem Bademeister ist es aufgefallen, er hat sofort den Rettungsdienst gerufen, Dad aus dem Wasser gezogen und ihn reanimiert. Ohne ihn würde er vermutlich nicht mehr leben. Man hat ihn identifiziert und mich angerufen, und seitdem bin ich hier. In dieser Zeit ist nichts passiert, Dad atmet, sein Herz schlägt weiterhin, aber er gibt kein Lebenszeichen von sich." Das erklärte einiges – und Henry erinnerte sich wieder. Er war im Schwimmbad gewesen, und dann war da auf einmal diese Treppe erschienen. Ja, die Treppe... was hatte das zu bedeuten? Sie war ihm sehr real vorgekommen. Führte sie vielleicht... irgendwohin? In den Himmel? Ins Paradies, ins Nachleben generell? Zu seiner Frau? In die ewige Leere? Oder vielleicht in ein neues Leben? Henry wusste es nicht. Er wusste nur: er wollte diese Treppe hinaufsteigen und herausfinden, wohin sie führte. Es war ja auch schon dabei gewesen, als ihn dieses Etwas zurückgerissen hatte. War das die Reanimation gewesen? „Wo hast du Isabel gelassen?", fragte da Silvia und holte ihn aus seinen Überlegungen. „Bei der Nachbarin. Ich wusste ja nicht, in welchem... Zustand Dad sich befindet, das wollte ich ihr nicht zumuten. Jetzt rufe ich sie vielleicht mal an und frage sie, ob sie sich von ihrem Grandpa verabschieden möchte." Lennard seufzte schwer. Plötzlich schluchzte jemand laut auf. „Lenny, wenn er jetzt stirbt und ich konnte ihm nicht sagen... habe ihm nicht gesagt... dass es mir leidtut und dass... dass ich... das letzte, was ich zu ihm gesagt habe, war, dass er sich mir meine Karriere nicht gönnt und sich gefälligst um seinen eigenen Kram kümmern soll!", weinte Silvia. „Oh, Silvy..." Lennard kam zum Bett zurück und den jetzt gedämpften Schluchzern zufolge nahm er sie in den Arm. „Ich habe Dad doch so lieb, Lenny." „Ich weiß, Silvy, ich weiß. Und ich bin mir sicher, er weiß es auch." „Glaubst du?" „Ganz sicher." Sie schniefte und fragte dann zögernd: „Meinst du, er kann uns hören?" „Das kann ich dir nicht beantworten. Er lebt, soviel ist sicher, aber was um sich herum er wahrnimmt... keine Ahnung. Wahrscheinlich nicht." Lennard verabschiedete sich, um seine Tochter anzurufen und gegebenenfalls abzuholen. Silvias Atem zitterte noch ein wenig von ihrem Weinkrampf, beruhigte sich aber langsam. Henry hörte, wie sie in ein Taschentuch trompetete – diese lautstarke Art des Naseputzens hatte sie von ihm – und spürte dann ihre kalte, schmale Hand in die seine gleiten. „Ich weiß, Lenny sagt, du hörst mich wahrscheinlich gar nicht", wisperte Silvia. „Aber ich glaube, du kriegst das sehr wohl mit." Sie schwieg einen Augenblick, als wartete sie auf eine Reaktion seinerseits – vergeblich – und begann dann, anfangs stockend, dann immer flüssiger und schneller zu reden: „Es... es tut mir so leid, Dad... ich weiß, ich... ich war ganz furchtbar zu dir. Wahrscheinlich zu euch allen. Es war nur – ich hatte mir so sehr gewünscht, auch mal mehr als nur die Krümel vom Kuchen des Lebens abzubekommen. Und dann ist es endlich eingetreten, und ich wollte um jeden Preis verhindern, dass ich meinen Platz auf der Karriereleiter wieder verliere. Da seid ihr viel zu kurz gekommen, ich weiß es. Und es tut mir unglaublich leid. Ich habe mir immer eingeredet, wenn ich mein Unternehmen fertig aufgebaut habe, habe ich auch wieder mehr Zeit für euch. Es wäre nur die stressige Anfangsphase. Ich habe gedacht, ihr lauft mir schon nicht davon. Nur..." Jetzt begann sie wieder zu weinen. „Nur ist mir die Zeit mit dir davongelaufen. Ich hätte sie nutzen sollen! Ich hätte wissen sollen... Mir hätte klar sein sollen..." Silvia schluchzte leise auf und eine Träne fiel auf Henrys Handrücken. Er war gerührt. Natürlich kam diese Reue hauptsächlich von dem Schock, ihn im Sterben liegen zu sehen, aber er hörte den Worten seiner Tochter an, dass sie aus tiefstem Herzen gesprochen hatte. Vielleicht hatte es dieses einschneidende Erlebnis gebraucht, um Silvia ihrer Familie wieder näherzubringen, bevor es zu spät war. Henry strengte sich unglaublich an, er wollte seiner geliebten Tochter so gern ein Zeichen geben! Und tatsächlich, mit äußerster Mühe und Kraft brachte er einen schwachen Händedruck zustande. Silvia stockte der Atem. „Dad?", fragte sie, Unglauben in der Stimme. „Warst du das? Kannst du mich hören – hast du mich reden gehört?" Er drückte nochmals zu. Sie keuchte auf vor Erstaunen. „Das ist ja... unglaublich!" Sie schien kolossal froh zu sein, nicht umsonst mit ihm gesprochen zu haben. „Ich liebe dich, Dad. Kannst du mir verzeihen?" Henry drückte die Hand seiner Tochter ein drittes Mal, doch so schwach, dass er wusste, ein viertes Mal würde er es nicht schaffen. Silvia lachte erleichtert auf. „Danke!" Man hörte ihr an, wie erleichtert sie war, sich den Ballast von der Seele geredet zu haben. Henry lächelte innerlich. „Jetzt habe ich mich mit meiner Tochter ausgesöhnt", dachte er glücklich. „Jetzt hält mich hier wirklich nichts mehr. Das wäre doch jetzt ein guter Moment, um in die ewigen Jagdgründe einzugehen, oder etwa nicht?" Doch abermals wartete er vergeblich. Silvia hatte sich erhoben und schritt im Zimmer auf und ab, sonst war nichts zu hören. Vom Warten wurde Henry müde – es war ja auch so anstrengend gewesen, mit Silvia zu kommunizieren – und dämmerte schließlich weg.
Plötzlich stand er wieder vor der Treppe. Sie ragte diesmal nicht aus dem Wasser, sondern wuchs einfach so vor ihm in die Höhe. Und wieder befand sich hoch, hoch über ihm dieses leuchtend helle Viereck gleich einer Tür aus Licht, das ihn anzulocken schien. Er wünschte sich in diesem Moment nichts sehnlicher, als die Treppe zu erklimmen und nachzusehen, was ihn oben erwartete. Also begann er mit dem Aufstieg, und wie schon beim letzten Mal waren seine Schmerzen mit einem Mal verschwunden und er fühlte sich stark wie ein junger Mann, ach was, wie Herkules! Fast schon übermütig hüpfte er die Stufen hinauf. Er kam diesmal weiter als beim letzten Mal, doch auf einmal spürte er wieder, wie ihn etwas nach hinten zerrte. Reflexartig griff er nach dem soliden Treppengeländer, klammerte sich fest, doch es schien sich unter seinen Händen aufzulösen. Stromstöße jagten durch seinen Körper, er wollte nicht, er wollte nicht! Doch der Kampf war aussichtslos, Henrys Hände rutschten ab, er fiel nach hinten. Fiel... fiel... fiel...
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