Rondo Capriccioso - Der Kindheits Klang
Früher war er ein eher armes Kind gewesen, hatte sich gerne in den Wäldern nahe dem Schloss versteckt, um die wilden Tiere zu beobachten, die sein Interesse geweckt hatten. Dabei hatte er schnell ein mieses Hungergefühl bekommen und schlich sich vielleicht sogar das ein oder andere Mal ins Schloss, um in der Orangerie des Parks, einige Früchte zu stehlen. Dies funktionierte einige Male wie am Schnürchen, wurde aber von Mal zu Mal gefährlicher, je freundlicher das Wetter draußen war.
Manchmal stahl er sich an den Wachen vorbei, manchmal achtete er auf Gäste, doch besonders auffällig war das junge Mädchen, das es des Öfteren in die kunstvoll angelegte Orangerie verschlug. Sie war in kostbaren, feinen Kleidern gehüllt, trug Schmuckstücke, die sich Ash in dem Alter niemals hätte leisten können und die honigblonden Haare waren mit größter Sorgfalt in einen Zopf verflechtet worden, den sie gerne mit den Blumen schmückte, die sie sich unter den Nagel riss.
Das Mädchen hielt sich mit der Zeit immer öfters in diesem Abteil der Schlossanlage auf, sodass Ash kaum noch unbeachtet durch die vielen Büsche und Pflanzen streifen konnte. Es war nur noch eine Frage der Zeit gewesen, bis er entdeckt wurde. Und es dauerte wirklich nicht lange, bis seine Deckung fiel, da sich ein kleines Rotkehlchen allen Ernstes dazu entschieden hatte, sich mit lautem Gezwitscher auf ihn zu stürzen und das junge Mädchen von ihren Büchern ablenkte, die sie mit sich trug. Der Junge mit dem rabenschwarzen Haar zuckte vor Schreck zusammen, spürte sein Herz in seiner Brust rasen wie noch nie. Seine Ohren rauschten wie die, an der Brandung aufpreschende Flut, das Blut in seinen Adern schleuderte das Adrenalin wie Zucker durch seinen Körper und es stellte ihm jedes einzelne Härchen auf, je näher das Mädchen - die Prinzessin - ihm kam. Aus Angst gefunden und verpetzt zu werden stolperte er einige Schritte zurück, trat dabei auf eine wild gewachsene Wurzel und verlor hoffnungslos den Halt. Er wedelte panisch mit den Armen, bemühte sich verzweifelt, nicht hinzufallen. Vergebens.
Ash krachte unsanft auf die wurzelige Erde, erntete dabei den ein oder anderen blauen Fleck und kniff schmerzerfüllt die Augen zusammen. Verdammt, hatte er sich damals gedacht, warum gerade jetzt? Nicht wissend, welches Schicksal ihm nun widerfahren würde, malte er sich bereits die ärgsten Horrorszenarien aus, die ein Kind hätte erfinden können. Er machte sich dazu bereit, geschimpft zu werden, hielt seine Arme beschützerisch über seinen Kopf und wagte es nicht aufzusehen. Vielleicht war dies ja ein Traum gewesen, der ihn an der gefährlichsten Stelle aufwachen ließ. Doch anstatt ansatzweise auch nur eine Strafe oder auch nur ein Rufen zu hören, spürte der kleine Ash, wie jemand seine Schulter antippte und leise vor sich hin stammelte.
"Nanu? Was machst du denn hier?"
Die Stimme war weich und kristallklar, fast schon engelsgleich. Hätte Ash damals schon sein musikalisches Talent entdeckt, hätte er in diesem Moment seine neue Muse entdeckt, ein Goldkehlchen ausfindig gemacht, das den perfekten Klang zu einer seiner Klaviersonaten bilden konnte, wenn sie ihre Singstimme einsetzen würde. Nur konnte er dies zu dieser Zeit nicht wissen, gar verstehen, sodass er kein einziges Wort rausbrachte und nur stotternd auf das junge Fräulein gaffen konnte, das mit ihren zart bestickten Seidenhandschuhen den Ast des Orangenbaumes zur Seite schob.
Ash war fasziniert von dem feinen Mädchen und dachte, zunächst einen Engel getroffen zu haben. Dass sie in Wahrheit nur ein Prinzesschen war, blendete seine jugendliche Dummheit sofort aus. Für seine acht Jahre brauchte er manchmal ein bisschen zu lange, um etwas zu begreifen. Das sagte ihm selbst seine Mutter, die meinte, er habe es von seinem Vater geerbt.
Lautlos bewegte er seinen Mund, brachte kein einziges Wort, geschweige denn eine Entschuldigung raus. Die Prinzessin musste ihn für einen wahnsinnigen Einbrecher halten!
Plötzlich hörte man lautes Getrampel und ein metallisch klingendes Scheppern, das einen darauf deuten ließ, dass einer der Wachen seine Patrouille in der Orangerie absolvierte und seine Runde drehen wollte. Ash hielt die Luft an. Wenn er jetzt erwischt wurde, war er sowas von dran. Er blickte zur Prinzessin, die ihn immer noch verdutzt musterte, doch als sie Ashs Angst in seinen haselnussbraunen Augen erkennen konnte und diese mit der näher kommenden Wache verband, verschwand sie überraschenderweise ebenfalls hinter den vielen Pflanzen, um sich von der Wache zu verstecken. Sie wollte, nicht, dass jemand misstrauisch oder auf den Jungen im Versteck aufmerksam wurde. Deshalb machte sie sich, so gut es eben ging, klein und drückte den vielen Stoff ihres Kleides nah an ihren Körper, um ja nicht aufzufallen. Leider verhedderte sie sich dabei einige Male in den Ästen und stolperte kleine Schritte nach vorne, nur um dann beinahe Ash zu erdrücken, als sie auf die Knie fiel und nun, in gefühlt tausend Rockschichten umhüllt, im Zitrusfrüchtebeet kauerte.
Ash sah die Honigblonde ungläubig an und biss sich auf die Lippe. Was machte sie nur?
Das hätte er sie gerne gefragt, musste aber schweigend warten, bis der Wachmann wieder abgezogen war und sie ihre Ruhe hatten. Aber...weshalb hatte sich die Prinzessin versteckt, anstatt ihn zu melden? Für Ash ergab das keinen Sinn.
Für das neugierige Mädchen allerdings schon.
Sie lauschte den Schritten ihres Schlossangestellten, lugte vorsichtig hinter den vielen Ästen und Blättern hervor, um zu beobachten. Sie spürte die Erde an den dünnen Handschuhen, roch den Geruch von Orangen, Mandarinen und Zitronen noch um Einiges stärker, als vorhin. Allem voran aber, war ihr wachsendes Interesse an dem fremden Jungen. Sie hatte selten Kontakt mit Gleichaltrigen, wenn man ihren Bruder Kalem ausschloss, weswegen jede Chance auf neue Freundschaften ein Lichtblick für die Prinzessin von Kalos war.
Als die alte Wache endlich abgezogen war und die beiden Kinder Zeit zum Durchatmen hatten, war das Mädchen die Erste, die wieder zur Sprache fand.
"Hallo! Ich bin Serena und wer bist du?"
Ash war noch immer überfordert mit der Situation, weswegen sein Bauch schneller mit einem lauten Knurren antworten konnte als er selbst. Peinlich berührt umklammerte er seinen Bauch und sah zu Boden. Natürlich musste das genau jetzt passieren.
Serena lächelte nur und pflückte eine Mandarine, die sie ihm in die Hand drückte, aber dabei nur perplexe Blicke erntete. "Du musst Hunger haben, so viel wie dein Bauch knurrt. Nimm ruhig so viel du willst."
Ashs Augen leuchteten auf. So nett war schon lange keiner mehr zu ihm gewesen und dass er nun nicht mehr heimlich stehlen musste, erleichterte ihn ungemein. Auch er hatte endlich den Mut gefunden, zu reden. "Danke, ich bin übrigens Ash." Er verbeugte sich kurz und ließ dabei die Mandarine aus seinem Schoß purzeln, die er flink wieder aufhob und abputzte. "Ups."
Diese Tollpatschigkeit brachte Serena zum Lachen. Er kam ihr irgendwie sympathisch vor.
Plötzlich wurden die Schritte von vorhin wieder lauter, schienen sich direkt auf sie zuzubewegen. Das Knirschen der Kieselsteine ging eindringlicher an ihre Ohren, worauf sie schließen konnten, dass die Wache wohl wieder zurückgekehrt sein musste. Serena biss sich auf die Unterlippe. Wenn er ihre Bücher mutterseelenallein auf den Marmorbänken liegen sah, würde er nach ihr suchen und das halbe Schloss auseinander reißen. Denn in so einer gigantischen Schlossanlage wäre es ein Leichtes, verloren zu gehen und als Kind der Königsfamilie, konnte sie es nicht leisten, den ganzen Hofstaat in Aufruhr zu bringen.
Geschwind stand sie auf, stolperte mehrmals durch die vielen Lagen ihres Rockes, ehe sie Zeit hatte, diesen kurz abzustauben. "Ich muss los und du solltest auch bald von hier verschwinden, oder du wirst geschnappt. Sehen wir uns demnächst einmal wieder?" Sie lächelte den Jungen an und legte dabei den Kopf schief. Einige Strähnen fielen ihr dabei ins Gesicht, die in der Sonne wie Gold schimmerten. Ash nickte nur stumm, wurde von Serenas niedlichem Lächeln angesteckt. "Ich werde es versuchen!" Er sprang auf, klopfte sich auf die übertrieben herausgestreckte Brust und bemühte sich, groß und stark zu wirken. Vielleicht hatte er aus Instinkt versucht, ihr zu imponieren oder es war einfach kindliche Angeberei gewesen, um sich ihr ebenbürtig zu zeigen. So oder so, die kleine Serena fand es urkomisch und lustig, sodass sie leise auflachen musste und sich ein strahlendes Lächeln zusammen mit einem sanften Rotschleier auf ihr Gesicht malte.
Es war eine Seltenheit für sie, so unbeschwert und ohne jegliche Hemmungen mit Fremden zu sprechen, doch etwas war anders an Ash. Seine gesamte Präsenz wirkte so...einladend, so freundlich und aufrichtig, sodass die Prinzessin jegliches Hofprotokoll für den Moment vergaß und sich sicherer als jemals zuvor fühlte. Freiheit und die Leichtigkeit, als würde sie über Wolken schweben, machten sich in ihrer Brust breit, ließen sie glücklich fühlen. Dieses glückliche Gefühl, sie wollte es immer bei sich behalten.
Dieses sofortige Sympathieempfinden faszinierte sie, wollte es verstehen lernen. Ebenso ging es Ash, der dieser offenen Tür ins Auge sah. Es war neu, ebenso wie das Kennenlernen nur zufällig geschah, aber auch er genoss die kurze Gesellschaft Serenas und hätte sich noch etwas mehr Zeit zur Unterhaltung gewünscht. Leider lief ihm die Zeit davon, wenn er nicht am Hof angeprangert und zur Rechenschaft gezogen werden wollte.
Geschwind nahm er sich die letzten paar Mandarinen, Orangen und Zitronen, die um ihn herum wuchsen und verschwand nach einer kurzen Abschiedsverbeugung in den Büschen, ehe er wieder außerhalb des Palastgartens landete und in die Freiheit gelangte, ohne erwischt zu werden. Die Prinzessin dagegen schaffte es, dem Wachmann, der sie aus dem Zitrusfrüchtebeet steigen sah, weiß zu machen, dass sie Heißhunger auf Mandarinen hatte und die beste heraussuchen wollte, weswegen sie mit ein paar Erdflecken am Kleid zurückkehrte.
***
Ash pausierte kurz, behielt die Finger knapp über den Klaviertasten.
Damals schon...als Kind...hatte er sie gekannt, konnte aber nicht mehr wie versprochen zurückkehren.
Der letzte angespielte Ton klang aus, hallte durch den totenstillen Ballsaal.
Und doch hatte sie später wiedergefunden.
Nun sammelte der Pianist ein weiteres Mal seine Gedanken, begann ein neues Lied von Herzen zu spielen, ganz ohne Noten.
Nun erinnerte er sich wieder daran. An die Nacht, in der er sie das zweite Mal sah. An die Sommernacht vor dem Unglück. An die Nacht, an die er sich schon vorhin mit allen Einzelheiten erinnern wollte...An seinen eigenen Sommernachtstraum.
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