Ocean-Force
Nicolas wusste im Endeffekt nicht, was er sich dabei gedacht hatte. Kyra Ocean Nachhilfe geben? Gut, er war in Französisch Klassenbester – wie in den meisten anderen Fächern auch – doch er wusste nicht, ob er dazu im Stande war, in ihrer Gegenwart auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Und, auch wenn er sich freute, dass sie ihn angesprochen hatte, hatte ihm ihr Blick überhaupt nicht gefallen. Sie hatte ihn angesehen, so voller Neugierde, Verständnis und... Finsternis. In ihren Augen lag Finsternis, die gleiche die auch er tief in seinem Herzen spürte. Es war ein merkwürdiges Gefühl. Er fürchtete sich davor, dass sie wusste was geschehen war, doch gleichzeitig erhoffte er es sich auch. Von jedem Menschen auf dieser Welt würde sie es wahrscheinlich am ehesten verstehen. Sie würde nachvollziehen können, wieso ich solche Angst habe. Bei jedem Schritt, den er durch den Tag ging, fürchtete er sich davor, dass ein Polizist ihn ansprach und er sich verplapperte. Oder noch schlimmer, dass seine Klassenkameraden Wind davon bekommen würden. Dann würden sie mich umbringen! Ganz sicher, sie hassen mich so schon. Tief durchatmend setzte Nicolas sich an seinen Schreibtisch, nicht einen Gedanken an die Hausaufgaben oder seine Mutter verschwendend. Er betrachtete kurz die sauber aufgeräumte Tischoberfläche, dann schloss er die Augen und rief sich noch einmal Kyras bohrenden Blick in Erinnerung. Er wurde das Gefühl nicht los, dass sie etwas wusste oder zumindest ahnte, denn dumm war sie alle mal nicht, dass sah er schon am blitzen ihrer Augen. Und wenn sie etwas wusste, würde sie es melden? Bestimmt, oder? Wieso denn auch nicht? Nick wusste, dass er herausfinden musste, ob sie einen Verdacht hatte. Mit einem Blick auf die Uhr stellte er fest, dass es bereits 17:00 Uhr war. Er beugte sich hinunter und zog eine kleine Schraube aus der Unterseite seines Schreibtisches. Ein versteckter Hohlraum klappte auf, aus welchem er eine kleine Kiste hervor holte und diese vor sich abstellte. Dann schaltete er das große Deckenlicht aus, die helle Schreibtischlampe an und zog sich eine Konstruktion heran, welche an eine große Standlupe erinnerte. Manchmal fühlte er sich wie in einem Labor bei der Kriminalpolizei, fehlte nur noch der weiße Kittel. Er öffnete das Kästchen und nahm einen Ausweis hervor. Es war ein zweiter Perso, welcher er sich mal anfertigen lassen hatte – Er war zum Amt gegangen und hatte angegeben, dass er seinen Ausweis verloren hatte und sie hatten ihm einen Neuen ausgestellt. Diesen hatte er im Nachhinein in seinem eigenen kleinen „Labor" bearbeitet, wobei es gar nicht so einfach war, die schwarze Schrift mit dem Skypell weg zu kratzen und ein falsches Geburtsdatum so wie Alter hinauf zu drucken. Laut diesem falschen Ausweis war Nicolas neunzehn und nicht erst siebzehn. Er überprüfte noch mal alles ganz genau, bevor er in seinem Schrank nach dem schicksten Anzug grub, den er hatte. Ein kleiner Ausflug zum Abend hin kann niemanden schaden.
„Ihr Ausweis bitte, Sir." Nicolas hielt dem Türsteher den falschen Personalausweis hin und zwang sich, seine Aufregung zu verbergen. Es war nicht das erste mal, dass er sich so in etwas hinein schlich, was nur für „Volljährige" war, doch nun wo er vor dem Ocean–Force stand, wurden ihm die Knie weich. Der Mann warf nur einen kurzen Blick darauf, zu kurz um die Fälschung erkennen zu können und winkte ihn durch. Erleichtert aufatmend betrat Nicolas den Club durch einen kurzen Korridor, welcher in schwarzen Farben gehalten wurde, wobei oben und unten Stangenlampen in blau leuchteten. Der Club selbst hatte einen weiten runden Raum, mit einer angrenzenden Bar und einigen Stangentänzerinnen, welche den Gästen verführerische Blicke zuwarfen. Es war gut belebt im Innenraum und Nicolas staunte bei den vielen gut gekleideten Menschen, welche den Tänzerinnen zu jubelten oder den Sängern, welche auf einer ovalen Bühne aktuell beliebte Lieder sangen. Ich will gar nicht wissen, wie viel das alles kostet, dachte Nicolas sich. Und wie viel Geld es einbringt. Automatisch suchten seine Haselnussaugen nach dem schneeweißen Haarschopf Kyras, doch weder sie noch ihr Vater waren zu sehen. Kurz kramte Nick sein Handy hervor – der blaue Anzug in dem er steckte, war nicht gerade sehr bequem – und rief den Sceenshot des Clubs wieder auf, auf dem auch Kyra und ihr Vater – Oswald Ocean – zusehen waren. Er blinzelte ein paar mal, denn seine Brille steckte in der Innentasche, während sein Haar etwas hochgesteckt war. Ich soll ja auch schließlich erwachsen aussehen. Es fiel ihm schwer, genaueres auf dem Foto zu erkennen, doch es musste vor der Bühne entstanden sein. Nicolas warf dieser einen Blick zu und erkannte die Abbildung eines bläulich leuchtenden Wals – Nach Form und Farbe wahrscheinlich ein Blauwal – welcher in einer geringelten Position auf jedem Tisch und Tresen abgebildet war. Auch auf dem Foto war er zu sehen – vermutlich eine Art Logo oder sogar Familienwappen. Er lächelte. Ein Blauwal zum Namen Ocean. Wie passend. Wobei, wenn er an Kyra dachte, ihm eher das Bild eines Delfins durch den Kopf segelte. Nicolas packte das Handy wieder weg, straffte den Kragen seines Anzugs und lief die gewundene Treppe hinab. Zwischen den ganzen anderen fiel er nicht auf, so konnte er sich in Ruhe umsehen und vor allem, Ausschau halten nach dem Mädchen wegen dem er hier war. Die dröhnende Musik war ganz anders als die laute Playlist seiner Mutter. Es wirkte alles viel lebendiger, viel farbenfroher und schöner. Eigentlich war er nie der Typ für Partys oder Clubs, doch er konnte sich vorstellen, dass dieser hier sehr beliebt war. Nicolas drehte sich einmal auf der Stelle und seine Augen blieben an einer gegenüberliegenden Treppe hängen, vor der ein Absperrband war, mit zwei Türstehern. Vermutlich durfte dort niemand hin und doch stand sie dort auf der Treppe, eine Hand aufs Geländer gelegt, wie in den ganzen Hollywood–Filmen. Aber sie ist alles andere als das Klischee, dachte Nick und beobachtete, wie sie die Stufen herab schritt. Die beiden vom Sicherheitsdienst lösten die Kette kurz damit sie hindurch konnte und ihre strahlend blauen Augen wirkten wie zwei Eissplitter in einer wunderschönen Schneelandschaft. Ihr Körper war in ein blaues Parjettenkleid gehüllt, während die Haare hochgesteckt waren. Sie schien jeden einzelnen Gast mit einem Lächeln zu begrüßen, während sie sich durch die Menge drängte auf einen großgewachsenen Mann zu. Nicolas ließ sich an der Bar nieder und beobachtete aus dem Augenwinkel, wie sich die beiden unterhielten. Ganz klar, es war der Mann vom Foto. Oswald Ocean, ihr Vater und Leiter dieses Clubs. „Was darf's sein?", fragte er Kellner ihn höflich. „Sherry, bitte", antwortete er in einer geübt sicheren Stimme, welche nichts von seinem Nerd–Opfer–Darsein in der Schule preisgab. „Kommt sofort", erwiderte dieser und goss ihm ein Glas ein. Zu Nicks Erleichterung verschwand er darauf wieder um andere Gäste zu bedienen und er blickte wieder zurück zu seiner Klassenkameradin. Kyra lachte gerade über irgendwas, doch ihre Augen sagten etwas anderes. Etwas das nach Ich–will–hier–weg aussah. Am liebsten wäre er hinüber gegangen und hätte sie angesprochen, doch sie wusste bestimmt, dass er nicht volljährig war und daher illegal dort war. Ob sie mich verraten würde?, dachte Nick, während sein Blick zu einer etwas ruhigeren Ecke glitt. Zwei dunkle Gestalten sprachen dort mit einem dritten – ihre huschenden Augen sagten ihm, dass er nicht der einzige war, der etwas illegales in diesem Club tat. Natürlich, was denke ich mir auch? Mit Sicherheit hat Mr Ocean auch noch andere Geschäfte am Laufen. Vielleicht Drogenhandel? Nicolas rieb sich die Augen, denn wieder kamen die schrecklichen Bilder hoch, welche ihn auch am Tage auf Schritt und Tritt verfolgt hatten. Nein, ich darf nicht die Nerven verlieren! Doch er wusste, das er irgendwas tun musste. Connors Eltern hatten bestimmt schon eine Vermisstenanzeige angefertigt und wenn seine Klassenkameraden aussagten, dass er ihn zuletzt verfolgt hatte... Sie werden bestimmt die Gassen durchsuchen und ihn finden! Nein, ich kann nicht in den Knast, was wird aus meiner Mutter? Er wusste nicht so recht, ob diese Frau seine Sorge überhaupt verdient hatte, doch er war sich sicher: die Leiche musste verschwinden, und zwar noch heute Abend!
***
Über die Jahren hinweg hatte Kyra ihr künstliches Lachen perfektioniert und niemanden in der kleinen Runde an Geschäftsleuten fiel auf, dass es nicht echt war. Sie hatte ein Glas in der Hand und schüttete den Inhalt hinunter als wäre es etwas stark alkoholisches. Doch in Wirklichkeit war es nur sprudelndes Wasser, denn sie hasste diesen scharfen Geschmack der Getränke, welche die anderen in den Hände hielten. Sogar ihr Vater, welcher den anderen das Glas hob, jedoch unberührt von der starken Wirkung blieb, jedenfalls augenscheinlich. Der Gehstock, welcher an der Spitze einen gebogenen Walkörper hatte, lag in seiner einen Hand, während die andere ordentlich auf seinem Bein abgelegt war. Kyra beobachtete die kleinen Blubberblasen in ihrem Glas, während sie den Gesprächen ihrer Gäste lauschte. Es ging meistens um Wetten, die geschlossen wurden oder privatere Angelegenheiten, doch die eigentlichen Geschäfte, wegen denen einige dort waren, wurden durch Schlüsselworte verschleiert. Ky schmunzelte bei dem Gedanken daran, dass einige etwas völlig anderes verstanden und dachten, es ginge um „die Neue Salamipizza, welche für eine ganze Familie reicht". Manchmal fand sie diese Unterhaltungen sogar zu einfach zu entschlüsseln und das nicht nur, weil sie es gewohnt war. Wenn sich hier Polizisten in Zivile rein schleichen, werden sie es bestimmt durchschauen. Sie drehte automatisch den Kopf herum, als könne sie sehen wer eine unsichtbare Uniform trug oder vielleicht ein Konkurrent war, welcher über die neusten Geschäfte informiert sein wollte. Doch niemand verhielt sich auffällig. Die Menge unterhielt sich in kleinen Gruppen, jubelten den Tänzerinnen und Sängern zu und die an der Bar... Das kann doch nicht wahr sein! Kyra hob ihr Glas und tat so, als würde sie dem Trinkspruch beitreten, doch ihre Augen flogen zu dem jungen Mann, welcher ihre Aufmerksamkeit erregte. Er hat sich durchaus Mühe gegeben, dass muss ich ihm lassen, dachte sie als ihre Augen Nicolas' Anzug betrachteten. Dazu noch das brillenlose Gesicht und die Neue Frisur ließen ihn wie einen vollkommen anderen Menschen aussehen. Doch sie mochte sein Antlitz mit Brille irgendwie lieber, es gab ihm eine charakteristische Note. Sie hörte ihrem Vater kaum noch zu, sondern konzentrierte sich darauf, die Züge ihres Klassenkameraden zu entschlüsseln. Er spielte wahrscheinlich wieder das Augenwinkel–Spiel, in dem Glauben, sie habe ihn nicht bemerkt. Nebenbei trank er ein Glas Sherry und starrte wie gebannt auf einen unsichtbaren Punkt vor ihm. Und auch wenn eine weite Strecke zwischen ihnen lag, so sah Kyra den Schatten in seinen Augen und das leichte Zittern seiner Hände. Sie runzelte die Stirn, als er sich zwei weitere Gläser bestellte und die brauen Flüssigkeit ohne zu zögern hinunter stürzte. Entweder er will seinen Frust beseitigen, oder sich Mut antrinken. Beides passte irgendwie nicht zu ihm, doch das tat diese Finsternis auch nicht. Als er sich erhob, dem Kellner das Geld zuschiebend, drehte sie schnell den Kopf zur Seite und bedachte seine Siulette, welche sich in der Stange einer Tänzerin spiegelte. Er verließ den Club. Kyra erhob sich sobald er durch den Korridor verschwunden war und meinte an ihren Vater gewandt: „Ich hab noch Hausaufgaben auf, entschuldige mich." „Natürlich", erwiderte dieser mit einem warmen Lächeln und sie drehte sich um. Als sie die Treppe hinauf stieg, ging sie unauffällig eine Runde, stieg an der gegenüberliegenden wieder hinunter und drückte sich schließlich durch den Ausgang. Frische Nachtluft stieg ihr entgegen und die Ruhe, nur unterbrochen von Stimmengemurmel und dem fernen Verkehr, war ein Segen für ihre Ohren. Kyra suchte mit den Augen die Menschen ab, welche sich vor dem Club tummelten und erblickte Nicolas schließlich, wie er in ein Taxi stieg. Ohne zu zögern merkte sie sich das Kennzeichen, hechtete über den Parkplatz – zum Glück hatte sie schon vor einiger Zeit gelernt, auch mit Hackenschuhn schnell laufen zu können – und öffnete ihr eigenes Auto mit dem Schlüssel, welchen sie aus ihrem Dekolleté hervor zog. Das Gewicht des Taschenmessers war dort ebenfalls vertreten und sie knallte die Tür zu. Mit einem Ruck hatte sie ihren Wagen zum starten gebracht und fuhr vorsichtig auf die Straße, dass schwarze Taxi im Auge habend. Gut das ich nichts getrunken habe, dachte sie sich, während sie die Straßenseite wechselte. Kyra wusste, dass es Nicolas auffallen würde, wenn ein anderes Auto ihm folgte, so schaltete sie das Navi ein um zu gucken, wo genau sie sich befand. Nach einigen Momenten wurde der Verkehr ruhiger und es ging auf die etwas abgelegeneren Straßen. Die Riverstreet ist ganz in der Nähe. Sollte ich vielleicht... Sie musste, denn ihr Klassenkamerad würde sonst Verdacht schöpfen. Drum bog Ky in eine Seitenstraße ab, darauf achtend immer einen Blick aufs Navi zu haben und parkte schließlich eine Straße vor ihrem Ziel. Schnell stieg sie aus, schloss ab und rannte die letzten Meter zur Riverstreet, von der aus sie das Taxi erblickte. Kyra hielt sich im Schatten und beobachtete wie Nicolas ausstieg und dem schwarzen Auto noch hinterher winkte. Das Angels war nicht weit entfernt und kurz dachte sie, er wollte sich dort hinein setzen. Jetzt dürfte niemand aus der Klasse da sein, dachte Ky, doch der Nerd lief am Eingang vorbei, einen flüchtigen Blick hinein werfend. Er blieb alle paar Meter stehen und sie sah, wie er versuchte seine zitternden Hände zu verbergen. Ein dumpfer Verdacht schlich sich bei ihr ein, doch sie hielt sich weiter im Verborgenen. Nicolas ging weiter und nur zwanzig Meter vom Angels entfernt, bog er in eine Seitengasse ein. Kyra erstarrte für einen Moment. Das dumpfe Bauchgefühl sagte ihr, dass ihr nicht gefallen würde was sie dort sah. Oder doch? Vielleicht wird es mir gefallen, wie beim letzten Mal. Instinktive fingerte sie nach ihrem Taschenmesser und umklammerte es, denn sie kannte den Trick sich in einer Gasse zu verstecken und hervor zu springen um seinen Verfolger zu überraschen, nur zu gut. Hat er mich denn entdeckt? Zuzutrauen ist es ihm, oder nicht? Und wenn ja, würde er versuchen mir etwas anzutun? Vorsichtig und geduckt lugte sie um die Ecke in die Gasse hinein, bereit jederzeit hoch zu wirbeln und das Messer durch weiches Fleisch schneiden zu lassen. Sie konnte nicht verhindern, dass dabei ein wildes Wohlgefühl in ihr aufstieg. Die Gier nach dem Wissen, wie Nicolas im Angesicht des Todes reagierte, ob er auch ein Feigling war, oder gar jemand, der sich den Tod wünschte. Doch es lauerte niemand in der Dunkelheit auf sie. Kyra blinzelte um etwas erkennen zu können. Die Schemen von Nicolas waren zu sehen, wie er vor einem Müllcontainer stand, die Hände am Hinterkopf verhakt und schnell atmend. Er murmelte leise vor sich hin und Kyra sah im schwachen Licht, dass er wieder seine Brille auf hatte. Er starrte auf etwas, was unter den Müllsäcken hervor lugte und plötzlich war sich Kyra in ihrem Verdacht bestätigt. Im Schutze der Schatten schlich sie näher, das Taschenmesser noch immer in der Hand und die Gesichtszüge ihres Klassenkameraden beobachtend. Dieser wirbelte plötzlich aufgeschreckt herum und wurde blass, als er in ihre Eisaugen sah. Diese fielen in diesem Moment auf Connors lebloses Gesicht.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro