Nichts als die Wahrheit
„Was hast du da?" Nicolas hob den Kopf und blickte zu Kyra, welche mit einem Nicken auf seinen Kiefer deutete. Er seufzte leise, wusste er doch das sie die blaue Stelle meinte, welche ihm Ronald verpasst hatte. „Nichts relevantes", erwiderte er leise. Er hatte ein ungutes Gefühl dabei, ihr von seiner familiären Situation zu erzählen. Du wirst keine Wahl haben, widersprach die Stimme. Schließlich hast du ihr die Wahrheit versprochen. Kyra lachte nur leise. „Verzeih mir meine Neugierde." Sie drückte auf das Gas, als sie auf die Autobahn kamen. Nick blickte aus dem Fenster, denn er kannte diese Strecke, die sich in sein Gehirn gebrannt hatte, obwohl es beim letzten Mal spät Abend und dunkel war. Als der Wagen schneller wurde und einige Autos überholte, musste Nicolas schmunzeln. „Wo hast du deinen Führerschein gemacht?" „In Cardith." „Cardith? Das ist ein gutes Stück weg." „Ich weiß..." Bei dem Blitzen ihrer eisigen Augen machte sich ein merkwürdiges aber auch irgendwo, Wohles Gefühl in Nicolas breit. Es war dieser Ausdruck von Licht und Schatten, der bei dem er sich nicht sicher war, ob er es genießen oder um sein Leben fürchten sollte. „Lass uns ein Spiel spielen", meinte Kyra dann. „Ich stelle dir eine Frage und du antwortest wahrheitsgemäß, und dann stellst Du mir eine Frage." Nicolas richtete sich auf und betrachtete ihr bleiches Gesicht von der Seite. Seine Haselnussaugen leuchteten. „Fangen wir an." „Gut. Was ist mit deinem Kiefer passiert?" Ah, cleverer Schachzug, dachte Nicolas und lehnte sich etwas zurück. „Der neue Freund meiner Mutter hat mir eine gedonnert." Er suchte nach einem Ausdruck, einer Reaktion auf Kyras Gesicht, doch dort war nichts, nicht mal ein Wimpernzucken. „Jetzt ich", sprach Nicolas und beugte sich wieder etwas vor. „Wo fahren wir hin?" „Zu einem Ort, wo wir uns besser kennen lernen." Der Wagen beschleunigte schon wieder etwas und Nick wusste, dass sie sich schon über dem Geschwindigkeitslimit befanden. Wieder pulsierte das Adrenalin durch seine Adern, während Kyra fortfuhr. „Sind deine Eltern getrennt?" „Mein Vater ist vor ein paar Jahren einfach verschwunden." Nicolas zögerte, denn die Worte blieben ihm im Hals stecken. Langsam nahm er sein Handy heraus und rief den Screenshot wieder auf, welchen er von der Webside des Ocean–Force gemacht hatte. Sie strahlt, kam es ihm wieder in den Sinn als sie die jüngere Version von Kyra auf dem Foto betrachtete. Und nun fiel ihm wieder ein, was es für ein Strahlen war, was er übersehen hatte, was die ganze Zeit neben dieser Finsternis, in ihren Augen flimmerte. Eine tiefe Traurigkeit von einem Verlust, welcher sie wohl tief getroffen hatte und doch, gleichzeitig, eine innere Ruhe, die ihr die ganze Zeit Selbstbeherrschung und „Coolnes" – wie seine Klassenkameraden sagen würden – verlieh. „Jetzt du", forderte Kyra ihn nachdrücklich auf und Nicolas schluckte. Er wusste nicht, ob er diese Frage wirklich stellen sollte oder ob sie das Auto nicht sofort von der Brücke lenkte, welche sie nun überquerten. Jedoch sagte ihm diese Stimme in seinem Kopf das er das Risiko eingehen musste, damit er ihr vollkommen vertrauen konnte. „Bist du Mutter, Ky?" Nick betrachtete ihre Gesichtszüge von der Seite welche noch immer entspannt wirkten. Doch ihre blauen Augen verfinsterten sich so gemein, dass es ihm kalt den Rücken hinunter lief. Stille herrschte in dem roten Wagen und Nicolas sah ihre Hände am Lenkrad verdächtig zittern. Ihre Stimme hatte ein gewisses Brechen, als sie erwiderte: „Nein, nein ich war keine Mutter, aber ich wünschte, ich wäre eine gewesen. Für ihn." Nicolas richtete sich auf und wartete nun auf eine Frage ihrerseits, doch diese blieb aus. Sie schwieg, hatte das Spiel nun wahrscheinlich satt und doch sah Nick eine gewisse Erleichterung in ihren Augen und auch er fühlte, wie ein wenig der Last von seinen Schultern genommen wurde. Ja, die Wahrheit tut gut. Auch wenn ich ihr noch nicht alles gesagt habe, und sie mir nicht. Instinktive spürte er, dass dort noch mehr war und der Schatten über ihren Ozean–Augen legte sich nicht. Als sie die Brücke überquert hatten, schossen nur noch Sträucher und Geäst am Fenster vorbei. Nicolas schluckte leicht und konnte die Aufregung nur schwer unterdrücken. Die Ungewissheit wo Kyra mit ihm hin wollte und ob sie ihm ihre ganze Geschichte erzählen würde, kribbelte unter seiner Haut. Vielleicht bringt sie dich auch um, sagte diese kleine Stimme in seinem Kopf und die Tatsache, dass sie überhaupt nicht besorgt klang, hätte ihm vor ein paar Tagen noch Sorgen bereitet. Doch jetzt nicht mehr, jetzt kenne ich sie und sie mich, fast jedenfalls. Der Wagen wurde langsamer was Nicolas etwas irritierte, denn beinahe schon hatte er erwartet, dass sie ihr Auto mit voller Geschwindigkeit gegen einen Baum donnerte, ihn mit dem Tod konfrontierte. Doch in Sicherheit wiegen wollte er sich nicht, denn er wusste von dem Taschenmesser und vielleicht würde es bald zum Einsatz kommen. Die Landstraße zog sich in die Länge, die Autos welche ihren Weg kreuzten wurden immer weniger, bis sie ganz allein auf dem Weg dahin rauschten. Nach einer Weile bog Kyra in einen weiteren Seitenweg ab und Nicolas hatte das Gefühl, als würde sie mit dem Wagen direkt durch den Wald fahren. Als die Straße immer schmaler wurde hielt sie irgendwann an. „Wo sind wir?", fragte Nick und bedachte die verdorrte und nicht sehr schöne Umgebung, die der eigentlich so grüne Wald zu bieten hatte. Doch sie antwortete nicht. Stattdessen stellte sie den Motor ab und machte ihn ohne Worte klar, dass er aussteigen sollte. Er kam dem nach, wobei sein Herz raste. In einem abgelegenen Wald, ohne Zeugen und jemanden der einem zu Hilfe kommen könnte. Hier ist niemand, niemand nur wir zwei. Die kindliche Aufregung über diesen Umstand loderte wieder in ihm auf, während Kyra den Wagen abschloss und kurz vor ihm stehen blieb. Nicolas wich ihrem Blick nicht aus und fühlte sich plötzlich wieder zurückversetzt zu jenem Moment, als sie beide Connors Leichnam entsorgt hatten. Es war als wäre dort unter der Brücke, ein Feuer in ihm entfacht worden und er genoss es mit ihr zusammen. Nur mit ihr und er wollte ihr nahe sein. Er wollte ihre Haut auf seiner spüren, wollte sich für immer in ihren Augen verlieren und seine Finger durch ihr weißes Haar streifen lassen. Auch wenn dies bedeutete, dass sie ihm gleich das Messer in die Brust rammen würde, es wäre ihm egal. Er wäre bei ihr und sie bei ihm, würde ihm in die Augen sehen und er würde es erwidern. Kurz hob Kyra eine Hand und fuhr über den Rahmen seiner Brille, bis hin zu dem kleinen Sprung, bevor sie den Arm wieder senkte. Ein Lächeln überflog ihr Gesicht, während der Schatten in ihren Augen sich mit einem Leuchten biss, welches Nicolas' Herz höher schlagen ließ. Er war enttäuscht als sie sich wegdrehte und in den Wald lief. Dabei streifte sie seine Seite und er folgte ihr. Er wollte sehen, wo sie hingehen würden, wo sie ihn hinführte und was ihn dort erwartete. Na die Wahrheit, Nicky. Du hast es ihr versprochen, du hast es ihr versprochen. Die Zweige knackten unter seinen Füßen wie Knochen, während das Laub leise raschelte. Die frische Luft schien seine Lungen zu reinigen und der leicht salzige Geruch sagte ihm, dass das Meer nicht weit sein konnte. Wir sind über die Brücke und dann nach rechts abgebogen. Bedeutet wir müssen uns in der Nähe des Strandes befinden. Aber nein, an diesem Waldstück gibt es keinen Strand nur Klippen. Der Gedanke an diese vermachte ihm eine kleine Gänsehaut, während seine Haselnussaugen Kyra weiter beobachteten. Eine ihrer weißen Locken schwang bei jedem Schritt mit, doch sie sah nicht nach hinten. Sie vertraute darauf, dass er ihr folgte und er tat es. Das Rauschen der Wellen drang an sein Ohr als er aus den Büschen trat und ihm ein warmer Wind entgegen wehte. Nicolas schloss kurz die Augen, genoss die salzige Luft bevor er sah, was vor ihm lag. Er hatte recht, sie waren an einer Klippe. Eine alte Holzhütte stand dort, welche heruntergekommen wirkte. Vermutlich der Zahn der Zeit. Nicolas bedachte das alte Holz, während Kyra ihn aufmerksam beobachtete. Er wusste was sie von ihm wollte und bedachte die Umgebung der Hütte genauer. Hier war lange niemand mehr, jedenfalls keiner der sich um das Unkraut gekümmert hat, schloss er bei dem verwilderten Rasen und den Einzelteilen eines Mal da gewesenen Zauns. Entweder ist die Hütte in Vergessenheit geraten oder hier sind schreckliche Dinge passiert, so das sie niemand mehr besuchen wollte. Ich tippe auf Letzteres. Er drehte sich zu Ky um und sah den Schatten in ihren blauen Augen, welche auf einer bestimmten Stelle lagen. Dort war das Gras kürzer und stoppeliger, die Erde festgetreten, zu glatt. Nicolas drehte den Kopf leicht und dachte angestrengt nach, was es sein könnte. „Ein Grab", flüsterte er leise, ohne zu wissen, dass er es laut ausgesprochen hatte. Kyra trat langsam an seine Seite und stieß einen Seufzer aus. „Gut erkannt." Ihre Stimme hatte einen bedauernden und doch gleichzeitig eisigen Ton. „Du hast recht, ich war eine Mutter. Ich hatte mit fünfzehn einen Sohn geboren, hier in New York." Nicolas sah sie nicht an, wusste jedoch das sie in Erinnerungen schwebte. „Ich gab ihn zur Adoption frei, ohne ihm auch nur einen Namen zu geben. Das ist was ich am meisten bereue. Sein Vater und mein damaliger Ex–Freund hieß Markus. Er war ein Macho, etwas was die Gänse aus unserer Klasse als ‚Bad Boy' bezeichnen würden. Ich weiß nicht, was ich damals in ihm sah. Ich glaube, ich habe mich nach Wärme gesehnt die er mir nie gegeben hat, doch ich war blind. Jung, blind und dumm, damals. Doch sobald ich schwanger war, verließ er mich, ließ mich sitzen. Mein Vater war wütend, so wütend und wollte ihn abholen lassen." Nicolas erschauderte bei diesen Worten, denn er konnte sich vorstellen was Oswald Ocean unter Abholen verstand. „Aber ich wollte es nicht. Ich war so dumm und blind in meiner Naivität das ich hoffte, sobald das Kind auf der Welt war, würde er sich um entscheiden, zu mir zurückkommen. Doch er tat es nicht, das wurde mir klar. Mir wurde noch während den Wehen klar, dass er mich nur für den Spaß hatte und gab mein Kind gleich weg. Ich konnte ihm nur kurz in die Augen sehen und sah, dass er meine blauen Augen und weiße Haut hatte, die ich wiederum von meiner Mutter habe. Als ich Markus damit konfrontierte das ich seinen Sohn weggegeben habe, tat er nichts." In Kyras blauen Augen blitzte Verachtung und alter Zorn auf. „Er nickte es nur ab und ich wurde wütend. Ich konnte diese Gleichgültigkeit nicht ertragen. Ich habe erst im Nachhinein gemerkt, dass ich mir einen seiner dummen Baseball Pokale geschnappt habe. Ich schlug auf ihn ein, immer und immer wieder. Er schrie, versuchte sich zu wehren, er blutete und ich genoss es." Ein grimmiges Grinsen legte sich auf ihr Gesicht, ein Grinsen welches nicht nur äußerlich sondern auch innerlich erschien, welches das Wohlgefühl verkörperte, dass auch Nicolas durchfuhr wenn er an Connors leblose Augen dachte. Fleisch, das unter meinen Händen reißt, Haut die in Fetzen zu Boden geht und Blut, überall Blut auf meinen Hände, wunderbar warm und das Leben welches aus ihm heraus haucht, so leicht und einfach, so schnell verschwunden wie der letzte Atemzug. Irgendwo in seinem Inneren regte sich der arme Junge, der ihm sagen will, dass diese Gedanken widerwärtig waren, dass es falsch sei doch dieser Nerd, der dieser Meinung war, der von sich selbst Entsetzt war, schrumpfte immer mehr in sich zusammen. Mit jedem Treffen mit Kyra war er mehr und mehr verschwunden, eingeschlossen in dem Kerker in seinem Geiste, in dem das jetzige Wohlgefühl eingesperrt war. Nun ist es frei, nun bin ich frei, zusammen mit ihr. Jedenfalls fast. „Er hat um Gnade gebettelt, wie ein Feigling und ich war enttäuscht. Alles was ich für ihn empfunden hatte, den mutigen Bad Boy den ich sah, war nur eine Illusion gewesen. In ihren letzten Momenten zeigen die Menschen ihr wahres Gesicht und das Seine war nicht das, was ich kennen gelernt habe. Er hat mich belogen! Und ich hasse Lügner." Kyra bedachte Nicolas und er erwiderte ihren Blick, ohne einen Funken von Angst zu verspüren. Ich bin nicht besser als sie und sie nicht besser als ich. „Ich habe ihn hier begraben, wo ich schon als kleines Kind gespielt habe. Kurz darauf sind wir nach Cardith gezogen, wo wir einen zweiten Wohnsitz hatten, mein Vater und ich. Doch nun sind wir wegen irgendeiner seiner Geschäfte wieder hier. Und es fühlt sich gut an." Ihre blauen Augen wirkten plötzlich ungewöhnlich sanft. „Ich finde es toll, hier zu stehen an seinem Grab, auf ihn herabblicken zu können, während seine Überreste unter der Erde verfaulen! Hier zu stehen, mit dir." Nicolas lächelte leicht und wandte sich ihr etwas mehr zu. Das Rauschen des Meeres passte zu ihren blauen Augen und ihrem Namen. „Denkst du denn, sein Geist spukt hier herum?", fragte er scherzhaft was sie auflachen ließ. „Vielleicht. Um so besser, dann sieht er, dass ich mich nichts mehr aus ihm mache." Kyra bedachte ihn, strich ihm über die Wange, wobei er eine Gänsehaut bei der Berührung bekam und fragte: „Nun, erzähl mir deine Geschichte. Das hier ist der Ursprung meiner Dämonen, nun sag mir, was sind deine?" Nicolas suchte ihren Blick, senkte leicht den Kopf und nahm resignierend die Brille ab. „Mein Vater verließ mich, als ich noch ein Kind war", begann er dann und war von sich selbst überrascht, wie leicht die Worte über seine Zunge flogen. „Meine Mutter verfiel dem Alkohol und schaffte sich immer wieder neue Liebhaber an." Seine Haselnussaugen glitten an Kyra vorbei zum Horizont, welcher blau und unberührt vor ihnen erstrahlte. „Der neuste ist Ronald Caffrey. Ein nichtsnutzender, geldloser, aggressiver, voraussichtlicher Idiot dessen Intelligenz der eines Plattfisches gleicht." „Sag nichts gegen Plattfische", erwiderte Ky neckend und beide lachten leise. „Wie konnte ich nur, Lady Ocean. Gut, ja ich entschuldige mich bei allen Plattfischen, dass ich so ein armseliges Exemplar eines Primaten mit ihnen vergleiche." Nicolas verneigte sich galant vor dem Meer und fühlte sich gut dabei. Die lockere Stimmung, welche auch bei einem so ernsten Thema zwischen ihnen herrschte, füllte etwas in seinem Inneren was er nie wieder loswerden wollte. „Weißt du, wo dein Vater jetzt ist?", fragte Kyra und ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. „Nein. Ich weiß nur, dass er dabei war eine Beförderung zu bekommen. Er war Polizei–Officer." „Also kann es sein, das er jetzt Detektive ist?", erwiderte Kyra resignierend. Nicolas nickte langsam. „Ja oder sogar Lutennent, keine Ahnung." Kurz herrschte eine Stille, die nur vom Rauschen des Meeres durchbrochen wurde. Beide starrten sich nur an. Nick konnte nicht genug von ihren tiefen Augen haben und wusste bereits was sie vor hatte, als sie zu ihm trat und ihn an der Krawatte zu sich zog. Seine Haselnussaugen fielen kurz auf den Abgrund, welchem sie während ihres Gesprächs näher gekommen waren. Nur eine Fußlänge lag zwischen ihnen und dem freien Fall. Der Fall in die Freiheit, das Zerschellen der Ketten die mich zurück hielten, die mich gefangen hielten in diesem frustrierenden Dasein als Nerd, als Freak. Wieso sollte ich weiter für die Launen der Welt her halten, wenn es auch anders geht, wenn ich alles anders machen könnte? Mit ihr. Und wieso sollte sie weiterhin mit dem Kopf in Markus' Fängen leben, wenn ihre wunderschönen Augen mir gehören könnten? Sie ist mein und ich bin ihr, wieso denn nicht? Noch während er dies dachte, zog sie ihn mit in die Tiefe und damit in ein neues Leben.
***
Haselnussschockolade und Tannenzweige, dachte Kyra nur in diesem kurzen, wundervollen Moment. Nicht einmal die kalte Luft konnte durch ihre eng aneinander liegenden Körper hindurch, während sie von der Schwerkraft erfasst in Richtung der Wellen sausten. Der Wind war mittelmäßig, doch die Wellen peitschten unter ihnen. Vielleicht würden sie es überleben, vielleicht auch nicht und irgendwann von den Fischern gefunden werden. Die Fischer sehen mehr Leichen als jeder Forensiker, erinnerte sie sich an ihre eigenen Worte, an jenem Abend als sie zum ersten Mal wirklich zueinander gefunden hatten. Und nun war es der Abschluss, das Siegel welches gesetzt werden musste. Beide bereit gemeinsam zu sterben und zu leben, denn diesen Befreiungsschlag brauchte nicht nur Kyra. Ganz leicht spürte sie seine Lippen auf ihren und er roch, wie seine Augen strahlten. Haselnuss und Tannennadeln. Ein Feuer loderte in ihr auf, welches sie leicht an die Zeit mir Markus erinnerte, und doch wiederum ganz anders wirkte. Viel realer, viel ernster, viel mehr. Ja, es war mehr und ernst. Dieses Feuer erlosch auch nicht, als das eisige Wasser über ihren Köpfen zusammen schlug und seine zarten Lippen durch salziges Nass abgelöst wurden. Doch er ließ sie nicht los. Kyra hätte überrascht nach Luft geschnappt, würde um sie herum nicht die flüssige Dunkelheit herrschen, denn seine Arme hatten sich um sie geschlungen in dem stummen Versprechen, sie nicht loszulassen. Niemals würde er es tun, niemals würde er sie hintergehen oder loslassen, niemals. Und sie ihn nicht. Kyra fasste blind in sein kurzes Haar, welches wie das Ihre, von den Wellen hin und her geschwungen wurde. Die kräftige Strömung zog an ihren Körpern, ließ sie hin und her treiben, doch sie hatte keine Angst. So oft war sie in den tödlichen Wellen schwimmen gewesen, hatte oft gedacht, dass es nun vorbei sein musste, dass sie hinab in die Dunkelheit gezogen werden würde. Und sie hätte es zugelassen, denn dort unten war ihr Zuhause. Ihre Seele war schon längst von den Schatten verschlungen worden und wenn das auch mit ihrem Körper geschah, war es kein großer Unterschied. Doch er hielt sie. Nicolas Jones hielt sie fest und plötzlich war die kalte Nässe verschwunden, genau wie die Ruhe welche sie empfunden hatte. Automatisch rang sie nach Luft, nur um eine Welle ins Gesicht geklatscht zu bekommen. Kyra sah sich suchend um und stellte fest, dass sie nicht weit von dem Felsen weggetrieben worden waren. Sie drehte den Kopf und blickte in Nicks braune Augen, welche sie mit einem gewissen Strahlen darin musterten. Es verschaffte ihr eine Gänsehaut und das Feuer loderte heiß auf. Es war schwer, gegen die Strömung anzuschwimmen, doch Kyra kannte die unsichtbaren Wassermächte an diesem Ort und führte Nicolas geschockt durch das Wasser. Es dauerte gefühlt Stunden, bis sie den kleinen Strand erreichten, welcher unterhalb der Klippen war. Sobald ihre Füße weichen Sand berührten, stemmte sie sich gegen das reißende Wasser und streckte eine Hand nach Nick aus, welcher direkt hinter ihr war. Er ergriff diese, immer noch dieses breite Lächeln auf dem Gesicht und ließ sich von ihr in Richtung Land ziehen. Seicht schwappte das Wasser an den hellen Strand, dessen Sand aussah als wäre er aus gemahlenen Knochen gemacht. Erst jetzt bemerkte Kyra, wie schwer ihre Kleidung an ihr hinunter hing, wie die Hautfetzen von einem Kadaver, während ihre Füße tiefe Abdrücke im Knochensand hinterließen. Nicolas schnaufte hinter ihr und sie hörte wie er sich in den Sand fallen ließ, gierig nach Luft ringend. Kyra legte sich zu ihm und ignorierte die hartnäckigen Körner, welche sich ihren Weg in ihre Hose und unter ihr Hemd suchten. Das Meer rauschte vor ihnen und die Brandung spritzte schaumiges Nass, doch bis zu ihnen kam das Wasser nicht. Kyra sah, wie Nick in seine Handflächen blickte, bevor er meinte: „Ich hab meine Brille verloren." Seine Stimme klang nicht beleidigt oder verängstigt, eher erleichtert. Kyra schmunzelte und drehte sich ihm so gut es ging zu. Sie wedelte vor seinen Haselnussaugen herum. „Kannst du mich noch sehen?" „Das würde ich sogar mit geschlossenen Augen können", erwiderte und strich ihr sanft durch die schneeweißen Locken, welche nass an ihrer Wange klebten. Kyra konnte einen Seufzer nicht unterdrücken. Sie erinnerte sich, dass sie diesen Laut früher bei Markus auch gemacht hatte, doch damals erkannte sie sich selbst nicht wieder. Es war nicht echt gewesen, nur ein Versuch ihrem Schmerz zu entkommen. Doch nun, bei ihm, bei ihrem Nicolas, war es echt, war es ihr Selbst und er begriff es. Er schätzte es. „Wie bist du eigentlich auf die Schwangerschaft gekommen?" Die Röte schoss ihm ins Gesicht bei dieser Frage und er drehte verlegen den Kopf zur Seite. „Ich hab etwas recherchiert und ein altes Foto von dir gefunden. Und du hast, naja, gestrahlt." Unsicherheit blitzte in seinen Augen auf, als erwartete er das sie sauer werden würde. Doch Kyra lachte nur. „Wirklich, eine beeindruckende Beobachtungsgabe." Die Wellen rauschten und machten diesen Moment filmreif, als sie sich vorbeugte und ihre Lippen wieder auf die Seinen legte. Nicolas erwiderte den Kuss und sie spürte seinen warmen Atem auf ihrer Wange. Der Wind, welcher ihren nassen Körper erzittern ließ, schob sie einfach beiseite. „Also", murmelte Nick als sie sich wieder von einander lösten und auf den blauen Horizont hinaus blickten. „Was machen wir jetzt?" Kyra legte ihren Kopf an seine Schulter und genoss seine Nähe, wie ein weiches Bett nach einem langen Tag. „Dein Vater...", begann sie, denn dieser Gedanke fraß sich in ihrem Kopf fest, „er war also ein Officer, als er Milch holen gegangen ist?" Sie spürte, wie Nick verwirrt den Kopf drehte. „Ja, wieso?" Kyra lächelte wissend. „Und du hast keinen Kontakt mehr zu ihm? Weißt nicht wo er ist?" „Nein, ich wünschte aber ich wüsste es", erwiderte Nicolas, wobei es nach einem Seufzen klang. Kyra erhob sich langsam, wobei sie nun ein Erzittern nicht unterdrücken kann. „Weißt du, wenn du ihn wiedersiehst, was würdest du tun?" Nick sah sie verwirrt an, wobei seine Krawatte im Wind flatterte. „Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Es gab Momente, da würde ich ihn gerne umarmen und ihn danach umbringen." Seine Miene verdüsterte sich. „Seinetwegen ist meine Mutter in eine Alkoholsucht gerutscht und hat sich diesen Ronald angelacht!" Er stand ebenfalls auf, die Hände in den Armbeugen vergrabend vor Kälte. „Warum fragst du mich das, Ky?" „Mein Vater hat einige Akten von Detektivs, die für seine Zwischengeschäfte eine Bedrohung darstellen könnten. Vielleicht, aber auch nur vielleicht–" „...gibt es einen Detektive Jones dabei", führte Nicolas ihren Satz zu Ende. Das Haselnuss in seinen Augen blitzte leicht, ob es Freude oder Besorgnis waren, konnte Kyra nicht einschätzen. Wahrscheinlich beides. Aber er wird nicht zögern, niemals. Jetzt nicht mehr. Vielleicht war es zu viel verlangt, doch Nicolas schien das gleiche zu denken. Er drehte ihr den Kopf zu und lächelte ein Lächeln, was alles in ihm verkörperte: den Nerd, den verlassenen Jungen, den Mörder und ihr Seelenverwandter. Nicht nur ihr Freund, ihr Gefährte, sondern der der sie verstand und mit dem sie für alle Zeit durch Dick und Dünn gehen würde. Ganz anders als Markus. Ihre blauen Augen glitten zum Himmel als würde er die grauen Augen ihres Ex–Freundes sehen können. Ja, ganz anders als du! Und mit seiner Hilfe werde ich auch sich irgendwann einfach vergessen.
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