7.1 Jekyll & Hyde
Den ganzen restlichen Nachmittag wälzte ich mich völlig überfordert in meinem Bett herum und zermarterte mir das Hirn. Ich verstand es einfach nicht ... Heute Morgen noch hatte ich dermaßen viel Abscheu in seinem Blick gespürt und nur ein paar Stunden später, küsste er mich. Wer wäre mit so vielen widersprüchlichen Signalen nicht auch komplett überfordert?!
„Kilian!"
Die Zimmertür flog auf und Charlie sprang zu mir ins zerwühltes Bett, ein breites Grinsen im Gesicht.
„Du sollst doch nicht immer ohne vorher anzuklopfen in mein Zimmer stürmen", rügte ich sie schroff. Ihr Grinsen schwächelte sofort. „Entschuldige bitte."
„Ma hat es dir doch erklärt, Teenager brauchen mehr Privatsphäre als Grundschülerinnen."
Ich verachtete mich selbst dafür, meine schlechte Laune an meiner kleinen Schwester auszulassen, aber leider sagte ich öfter mal Dinge, die ich hinterher bereute.
„Sorry Charlie, ich hatte einen schlechten Tag ...", schob ich deshalb nach als ich sah, wie sie die Lippen aufeinanderpresste. „Was gibt's denn Tolles?"
„Wir ... wir haben heute einen Klassenhamster bekommen und ich ... durfte ihm einen Namen aussuchen."
„Oh du hast den Ärmsten hoffentlich nicht Cinderella getauft ...", vermutete ich schmunzelnd.
„Er heißt Pino. Pinocchio. Er hat braunweißes Fell und ihn darf immer nur einer auf einmal streicheln", zitierte sie vermutlich die Anweisung ihrer Klassenlehrerin. „Er hat auch einen Hamsterfreund in der Nachbarklasse, die dürfen dann nach Schulschluss zusammenspielen. Warum war dein Tag schlecht? Hast du dich gestritten?"
„Weißt du ... ich versuche mich aktuell mit einem Jungen aus meiner Klasse ... anzufreunden. Aber ich bin mir nicht sicher, ob er das wirklich möchte und ob das überhaupt so eine gute Idee wäre", seufzte ich und strich mir mit den Fingerspitzen unsicher über die Lippen.
„Wieso nicht? Ist doch schön, viele Freunde zu haben."
„Aber er mag meine anderen Freunde nicht. Und sie mögen ihn auch nicht besonders", gestand ich niedergeschlagen.
„Dann ist es so wie damals bei Hannah?", fragte meine Schwester überraschend ernst und ich blinzelte sie verwundert an.
„Wie kommst du denn darauf?"
„Na ja, Hannah hat deine anderen Freunde auch nicht gemocht, richtig? Deswegen warst du wütend auf sie und irgendwann wart ihr plötzlich keine Freunde mehr."
„Ich war nicht wütend auf Hannah. Nun ... nicht deshalb. Sie war es, die unsere Freundschaft einfach beendet hat; ich wollte das nicht. Aber ich schätze, selbst beste Freunde können sich auseinanderleben. Die Pubertät ist kompliziert."
„Mir und Kari wird das ganz bestimmt nicht passieren!", behauptete Charlie sofort entschlossen und ich wuschelte ihr durch ihr langes, dunkelblondes Haar.
„Nein, natürlich nicht", stimmte ich zu, obwohl ich nicht wirklich daran glaubte. Sie hatten jetzt schon so viele unterschiedliche Interessen und im Laufe der Zeit würde es nicht besser werden. Menschen veränderten sich, ständig. Manche sogar mehrmals am selben Tag ..., dachte ich frustriert und ließ mich zurück in die Kissen fallen.
„Hey ihr", hörte ich Niklas aus der Küche rufen. „Ma's Meeting zieht sich noch, also habe ich die Schirmherrschaft heute Abend."
„Nicht schon wieder!", schrie Charlie verdrießlich in den Flur.
„Glaubst du, ich will dich kleinen Gartenzwerg unbedingt babysitten?", kam prompt eine pampige Antwort zurück. „Ich bin Student, ich sollte eigentlich nur auf der faulen Haut liegen oder mit meinen hübschen Kommilitoninnen was trinken gehen."
„Wer würde mit dir Esel schon was trinken gehen wollen", giftete Charlie erbost. „Außerdem bin ich alt genug, ich kann mich auch schon allein ins Bett bringen!"
Der Knoten in meinem Magen begann wieder zu brennen. Vor meinem Unfall, wäre das alles kein Problem gewesen, dann hätte ich mich um Charlie gekümmert und Niklas würde weiterhin im Studentenheim wohnen. Aber seit ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, hatte ich keine einzige Nacht mehr allein verbracht. Auch nicht allein mit meiner Schwester, weil etwas passieren könnte und sie dieser Verantwortung noch nicht gewachsen war. So oder so ähnlich dachte wohl der Rest der Familie darüber; offenbar hielten sie mich für komplett verantwortungslos oder nahmen an, dass mich der kleinste Windhauch gleich umhaute. Denn die bittere Wahrheit war, dass Niklas nicht nur hier war um Charlie zu babysitten.
Unsere Mutter hatte sogar überlegt, ihre harterarbeitete Selbständigkeit wieder aufzugeben, um als Angestellte wieder geregeltere Arbeitszeiten zu haben, da unser Vater berufsbedingt manchmal über Wochen im Ausland feststeckte. Deshalb hatte sie auch über Jahre mit dieser Entscheidung gehadert und erst vor einem knappen Jahr den Mut gefunden, es durchzuziehen. Tja, und meinetwegen bereute sie es nun zutiefst, doch wegen der hohen aufgenommen Kreditsumme fürs Startkapital, konnte sie es sich nicht länger leisten, jetzt noch einen Rückzieher zu machen. Deshalb war Niklas zurück nach Hause gezogen, damit sie zumindest die Nächte durchackern konnte.
Dieser Unfall hatte nicht nur mein Leben ruiniert ... Trotzdem hielt ich diese Dauerbeschattung für völlig übertrieben und das zeigte ich auch ganz offen. Immerhin war ich volljährig!
Charlie holte aus ihrem Zimmer ein paar Spielsachen und vereinnahmte damit meinen Fußboden.
Zum tausendsten Mal nahm ich mein Handy in die Hand und tippte Nachrichten, die ich gleich darauf wieder löschte.
Also wenn du Zeit hast, ich hab Samstag noch nichts vor ...
„Essen ist gleich fertig!"
Scheiß drauf. Ich drückte auf senden und warf das Handy ans Bettende.
Ich bekam kaum etwas runter, während meine Geschwister glücklich schaufelten - Charlie würde es nie zugeben, aber Niklas kochte um Welten besser als unsere kulinarisch total unbegabte Mutter.
Charlie erzählte weitere Millionen Einzelheiten über Pino und erklärte ausführlich, warum es sich bei ihm wahrscheinlich um den großartigsten Hamster in ganz Deutschland handelte. Was Niklas natürlich sofort anzweifelte und sie deshalb noch energischer argumentierte.
Nach dem Essen zog ich mich wieder in mein Bett zurück und versuchte ein wenig zu lesen, doch meine Augen wanderten immer wieder zu meinem Handy, dessen Display bedauerlich dunkel blieb.
„Kann ich kurz mit dir reden?"
Ohne eine Antwort abzuwarten, war mein Bruder schon hereingeschlüpft und setzte sich ans Bettende. Er hatte diesen ganz bestimmten Gesichtsausdruck aufgesetzt, eine Mischung aus: eigentlich bin ich viel zu cool, um dieses Pseudo-Elterngespräch mit dir zu führen, aber ich werde es halt trotzdem machen.
„Ich wollte mit dir über diesen Typen reden, den du auf Monas Geburtstagsfeier getroffen hast; Garve."
„Wieso?", fragte ich bemüht neutral, doch auch ein wenig beunruhigt. Lag ich mit meinem Bauchgefühl etwa richtig?
„Ich weiß wie ich mich jetzt gleich anhören werde, aber ich denke, er ist kein guter Einfluss. Er besitzt diese Art von moralischer Flexibilität, die ich als äußerst kritisch einstufe und dadurch vermittelt er anderen schnell das Gefühl, langweilig und spröde zu sein. Und um zu beweisen, dass dem nicht so ist, schluckt man dann eben doch die angebotene Pille, auch wenn es dumm ist und man es eigentlich besser weiß. Verstehst du? Ich will, das du weißt, dass du diesem Typen nichts beweisen musst und seine Meinung über dich, überhaupt nichts aussagt. Lass dich zu nichts hinreißen, was du nicht auch wirklich willst."
„Ich hoffe du redest gerade nicht über Sex", bemerkte ich genervt und mein Bruder schnaubte, bevor er konkreter wurde: „Nicht nur. Um ehrlich zu sein wäre es mir lieber, wenn du dich komplett von ihm Fernhalten würdest. Ich traue ihm einfach nicht."
Na ... da sind wir schon zwei.
„Wer ist Tommy?"
Verstört blinzelte ich Niklas an, bis ich checkte, dass er mein Handy in der Hand hielt und völlig dreist meine Nachrichten las.
„Gib schon her!"
„Warum gleich so aggressiv?", lachte Niklas und ließ spielerisch seine Augenbrauen hüpfen. „Hat Felice etwa ernsthafte Konkurrenz bekommen?"
„Man, kannst du nicht einmal meine Privatsphäre respektieren?! Du bist schlimmer als Charlie!"
„Du meine Güte", seufzte Niklas theatralisch und warf mir das Handy zu. Ich konnte sein gemurmeltes „Teenager ..." noch genau verstehen, bevor er in den Flur hinaustrat und die Tür hinter sich zuzog.
Mit klopfenden Herzen blickte ich auf den Bildschirm. Samstag geht klar, willst du vorbeikommen und einen Film schauen? Meine Mum ist noch das ganze Wochenende in Südamerika.
Ich musste die Nachricht noch mehrmals lesen, um ihren Inhalt zu verstehen. Wir hatten also Samstag ein Date, bei ihm Zuhause, wo wir völlig ungestört sein würden, weil seine Mutter offenbar gerne Wochenendtrips nach Übersee machte ...
Ja, gern, schrieb ich und er schickte mir kurz darauf seine Adresse, die ich gleich googelte. Wenn man mobil eingeschränkt war, musste man öffentliches Fahren viel besser vorab planen; gab es Aufzüge oder nur anstrengende Treppen? Waren die Bahnsteige abgeflacht? Wie oft musste ich umsteigen und wie viel Zeit blieb mir dafür? Fragen über Fragen, an die ich früher niemals nur einen Gedanken verschwendet hätte.
Die Strecke war relativ dankbar, zwar musste ich einmal umsteigen, aber beide Buslinien hielten in der Nähe unserer jeweiligen Wohnorte. Eine Sache von vielleicht zwanzig Minuten.
*
Ich wusste nicht genau was ich erwartet hatte, wahrscheinlich das er mir ständig schrieb, wie es bei Felice der Fall gewesen war, oder zumindest ein freundliches Lächeln und ein paar wechselnde Worte am nächsten Tag auf dem Schulflur - doch in der Realität war es dann einfach wie immer. Wie ignorierten uns gegenseitig und hingen in unserem jeweiligen Grüppchen herum. Bis Freitag hatte meine Frustration darüber ihr Limit erreicht, keine einzige weitere Nachricht, kein schnell gesprochenes Hallo am Morgen - nichts. Meine Laune war im Keller und Vince' und Katjas andauernder Streit machte es nicht besser. Vince konnte es nicht lassen, bei jeder sich bietenden Gelegenheit abfällige Kommentare über Bill fallenzulassen und ja, er war zweifellos ein Arschloch und mein Mitleid wegen seiner angeprellten Nase hielt sich echt in Grenzen, aber Katja schien es ernst mit ihm zu sein, also konnte er nicht einfach mal die Klappe halten?
Mona versuchte sich weitgehend rauszuhalten - sie saß zwischen den Stühlen geklemmt; Katja war ihre beste Freundin auf Lebenszeit und sie versuchte sich auch für sie zu freuen und fragte ständig nach Einzelheiten, aber Bill hatte sie nun mal vor aller Augen beleidigt, an ihrem Geburtstag und das war bitter, vor allem, weil Katja Bills Verhalten vehement verteidigte und nicht die Ansicht vertrat, dass er sich dafür bei Mona entschuldigen sollte.
Ich war dieser Diskussion schon lange überdrüssig geworden und beteiligte mich nicht mehr daran. Ohne es direkt zu thematisieren, wurde einstimmig beschlossen uns dieses Wochenende besser aus dem Weg zu gehen. Wir alle brauchten etwas Abstand voneinander. Zum krönenden Abschluss des Tages, hatte Felice mir geschrieben, wie sehr er mich vermisste. In der S-Bahn überlegte ich kurzzeitig ihn zu blockieren und ließ es dann bleiben. Ich wollte nicht zu gemein rüberkommen.
Außer meiner Mutter war noch niemand zu Hause. Sie nötigte mich in die Küche und löcherte mich aus, während sie mir gutgelaunt ein Käsebrot zubereitete.
„Und sonst? Irgendwelche Pläne fürs Wochenende?"
„Ich bin morgen wahrscheinlich bei Katja", log ich, da sie mich im Notfall am schlausten decken würde. „Und danach treffen wir uns vielleicht noch auf ein Bier bei Freunden."
„Bei wem?"
„Warum, willst du mich stalken?", erkundigte ich mich allerliebst und das Buttermesser in der Hand meiner Mutter erstarrte mitten in der Bewegung.
„Kilian ..."
„Bei jemanden aus der Zwölften, kennst du vermutlich eh nicht."
„Okay, aber wenn es sehr spät wird, ruf an, dann komme ich dich abholen."
„Ganz sicher nicht", blockte ich ab. „Ich will doch nicht der Einzige sein, der sich von seiner Mutter abholen lässt!"
„Ja, aber ..."
Sag es ruhig, dachte ich genervt. Die anderen Mütter hatten keinen körperbehinderten Sohn.
Doch sie sagte es natürlich nicht, setzte stattdessen ihr entwaffnendes Lächeln auf und schob mir den Teller zu. Ich wusste, sie bemühte sich, mich möglichst normal zu behandeln. Aber manchmal konnte sie sich echt nicht entscheiden; einerseits wollte sie nicht, dass ich mich nur in die Finsternis meines Zimmers verkroch und nur im Bett rumgammelte, andererseits wenn ich dann etwas unternahm, brach totale Panik in ihrem Kopf aus und sie machte einen auf Helikopter-Mum. So war Emma eigentlich nicht und das machte es so schwer damit umzugehen.
Ich ging früh zu Bett und scrollte demotiviert in meinem Handy. Ich war nicht daran gewohnt, keine Nachrichten zu erhalten. Obwohl jeder von uns online war, schrieb niemand in den Gruppenchat. Ich tippte auf unser Profilbild - eine dieser typischen Partyaufnahmen, die einige Wochen vor meinem Unfall aufgenommen wurde. Ich grinste unbeschwert mit nur einem geöffneten Auge in die Linse, nicht ahnend, welch beschissenes Schicksal mich bald erwartete - Mona küsste meine Wange, Vince hatte Katja auf die Schulter genommen, die wild lachend den Kopf zurückwarf - eine dieser Nächte, die eigentlich nicht allzu besonders waren und dennoch mitunter die beste Zeit meiner Teenagerzeit ausgemacht hatten.
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