
27. Eine kleine Stadt
Ich hatte es so richtig übel verbockt.
Kilian würde mir diesen Vorwurf sicher nicht so einfach verzeihen, auch wenn er zum Großteil stimmte. Frau Eva hatte immer nur im Ansatz mitbekommen, was sie mir alles angetan hatten. Wenn ich das wirklich mal jemanden erzählte und mir geglaubt wurde, wären sie gefickt. Und wenn es nur um die eigentlich Schuldigen gehen würde, wäre es mir natürlich egal, aber Kilian hing nun mal zu tief mit drin. Meine Mutter würde ihm das niemals verzeihen, für sie war er jetzt schon das Monster, das ihren Sohn tyrannisierte.
Kilian hatte das überhaupt nicht durchdacht. Ich tat ihm hier einen Gefallen, er sollte wirklich der Letzte sein, der wollte, dass ich mich therapieren ließ!
Wenn es dir hilft, wieder normal zu essen, dann ja, bitte tu das. Mir ist wirklich egal was mit mir passiert, ich will nur nicht, dass du noch weiter darunter leiden musst.
»Scheiße«, murmelte ich, als mir erneut die Tränen hochkamen. »Hör auf darüber nachzudenken ...«
Es war gemein, mir sowas zu sagen. Und dann kamen die Worte auch noch ausgerechnet von ihm.
Ich weiß gar nicht, wie ich es in meinem aufgewühlten Zustand nach Hause geschafft hatte. Irgendwann stand ich vor der Tür und ich konnte Oliver auf der anderen Seite aufgeregt am Holz kratzen hören. Gina hatte ihn seit fast einer Woche nicht mehr abgeholt. Vielleicht hatten wir jetzt wirklich einen Hund. Zitternd sperrte ich auf und trat in die Wohnung.
»Hallo, Darling«, ertönte es aus dem Wohnzimmer und ich nahm Oliver hoch und ging mit ihm den Hausflur entlang.
Meine Mutter saß mit angezogenen Beinen auf dem Sofa und verschlang ihren neusten schwedischen Kriminalroman. Sie war ziemlich darin versunken und reagierte kaum, als ich mich setzte. Oliver winselte in meinem Schoß.
»Mum ... ich ... kann nicht mehr essen. Ich versuche es, wirklich. Aber es ist so verdammt schwer. Es tut mir leid, dich damit zu belasten, aber ... ich glaube nicht, dass ich es ganz alleine wieder hinkriege ...«
»Darling, du bist doch nicht alleine!«, versicherte meine Mutter mir sofort und zog mich richtig erschrocken in eine unserer seltenen Umarmungen. »Danke, dass du es mir gesagt hast. Wir schaffen das - zusammen.«
»Okay«, schluchzte ich in ihre Schulter und sie wiegte mich sanft. »Oh Darling, ist es wieder wegen deiner Klassenkameraden? Haben sie dich wieder schikaniert?«
»Nein«, log ich heillos überfordert. »Ich meine, ein bisschen vielleicht. Ich wollte einfach abnehmen, aber es ist irgendwie völlig außer Kontrolle geraten.«
»Soll ich mal mit der Schulleitung telefonieren?«
»Nein Mum, bitte. Ich will ... also ... Ich brauche eine medizinische Behandlung, aber ... ich will auf keinen Fall irgendwo stationär rein. Ich werde alles machen, was die Ärzte sagen, aber ich will das ambulant durchziehen. Bitte.«
»Ich ... also, das kann ich dir jetzt schlecht versprechen. Lass uns erstmal einen Termin machen und hören, was die Ärzte sagen, ja?«
»Na gut. Ich ... würde jetzt gern allein sein. Das war ganz schön ... viel.«
»Natürlich. Ich ... werde mal gleich ein paar Anrufe tätigen, damit wir möglichst bald vorstellig werden können. Aber mach dir darüber keinen Kopf, ich kümmere mich um alles.«
»Danke, Mum.«
Sie ließ mich los und ich schwankte in mein Zimmer, dicht gefolgt von Oliver, der sofort mit hoch auf mein Bett sprang und sich dicht an mich schmiegte. Er hatte nicht das Erscheinungsbild eines Wachhundes und das Herz eines Feiglings, aber auf seine Art gab er dennoch sein Bestes, um seine Familie zu beschützen. Und seine Anwesenheit beruhigte mich und ich schlief relativ schnell ein.
Als ich erwachte, telefonierte meiner Mutter immer noch - vielleicht war es schwieriger als gedacht, einen Termin zu ergattern oder es waren andere Komplikationen aufgetreten. Doch ich konnte mich momentan nicht damit befassen und schloss die Tür, die ich vorhin offengelassen hatte, um ihre Stimme auszusperren.
Dann schnappte ich mir seufzend mein Handy und prüfte angespannt meinen Posteingang. Keine Nachricht, von keinem der beiden. Ich hatte auch nichts anderes erwartet, aber da ich morgen wahrscheinlich nicht zur Schule gehen würde, wollte ich es Kilian kurz erklären, damit kein unnötiges Missverständnis aufkam. Wir mussten wirklich lernen besser zu kommunizieren.
Nach dem vierten Klingen ging er ran.
»Du tust jetzt besser nicht mal wieder so, als wäre alles in bester Ordnung, denn das ist es nicht. Ich bin echt sauer.«
»Ich habe es meiner Mutter gesagt und werde wohl erstmal eine Weile nicht zur Schule kommen. Ich wollte nur, dass du es von mir hörst und ... mich entschuldigen. Es tut mir leid, was ich da vorhin alles gesagt habe. Ich habe mich in die Ecke gedrängt gefühlt und wusste mir nicht anders zu helfen.«
»Du hast es deiner Mutter gesagt? Wirklich? Das ist sehr gut Tommy, es sich selbst einzugestehen und sich jemanden anzuvertrauen, ist ein erster wichtiger Schritt.«
»Also ... bist du nicht mehr sauer?«
Kilian schwieg eine Weile und ließ mich erbarmungslos in meiner Panik schmoren, bis er meinte: »Ich denke, ich kann noch sauer auf dich sein und dich trotzdem Supporten. Du bist mir wichtig und ich will, dass es dir gut geht. Aber du kannst nicht in jedem Konflikt, der bei uns auftritt, die Mobbingkarte ausspielen. Ich meine, ich kann nicht mehr ändern, was früher einmal gewesen ist - doch ich habe mich entschuldigt und versuche es besser zu machen. Aber ich lasse mir nicht ständig deswegen ein schlechtes Gewissen von dir einreden, noch habe ich die Lust, dieselbe Diskussion immer und immer wieder zu führen. Ich will mit dir eine Beziehung anfangen und das funktioniert nur auf Augenhöhe.«
Ich konnte seinen Standpunkt durchaus verstehen, wünschte mir aber trotzdem etwas mehr Verständnis seinerseits. Aber ich hatte mich vorhin wirklich ziemlich arschlochhaft verhalten und musste das jetzt des Friedens wegen schlucken.
»Klar«, murmelte ich deswegen defensiv und hörte ihn erleichtert durchatmen.
»Okay, wenn du morgen nicht in die Schule kommst, kann ich dann im Anschluss vorbeikommen? Ich würde dich wirklich gerne sehen, wenn auch nur für ein paar Minuten.«
Mir rutschte sofort das Herz in die Hose. »Ich ... also. Das ist wahrscheinlich keine gute Idee.«
»Weil ich Teil des Problems bin, das verstehe ich, aber ... okay, das klingt jetzt vermutlich total egoistisch, aber ich bin gerade echt am Durchdrehen wegen alldem, und wenn ich nur irgendwas tun kann, um dir durch diese schwere Zeit zu helfen - wenn du nicht willst, müssen wir ja überhaupt nicht reden. Ich kann auch nur deine Hand halten oder was immer du brauchst. Bitte. Bitte lass mich auch Teil der Lösung sein, damit ich dir ein für alle Mal beweisen kann, dass es nie wieder wie früher sein wird.«
»Kilian, es geht nicht darum, dass ich dich nicht sehen will. Es ist nur ... meine Mum; sie weiß es. Frau Eva hatte mehrere Gespräche mit ihr und ... dein Name ist mehrmals gefallen. Es tut mir leid. Ich habe versucht ihr zu erklären, dass du dich normalerweise nicht an den Schikanen beteiligst, aber da du so gut mit ihnen befreundet bist ...«
»Also hält deine Mum mich für ein mobbendes Arschloch? Na ja, kann ich ihr schwer verübeln. Meine eigene Mutter denkt ja genauso übel über mich und der Junge, den ich mag, scheint sich da auch noch unschlüssig zu sein. Es wäre aber nett, wenn du mir zumindest die Chance geben würdest, das Gegenteil zu beweisen.«
»Wer von uns spielt jetzt unfair?«, flüsterte ich unglücklich, aber er blieb absolut erbarmungslos:
»Es muss nicht gleich morgen sein. Vielleicht am Wochenende?«
»Willst du das Kennenlernen mit meiner Mutter wirklich ausgerechnet jetzt durchziehen? Die Umstände könnten nicht beschissener sein, Kilian. Und ich will nicht, dass sie dich hasst.«
»Klingt, als würde sie mich ohnehin schon hassen. Wie soll sich das denn ändern, wenn sie mich nicht richtig kennenlernt? Im Moment bin ich der fiese Tyrann, der ihren Sohn gemobbt hat, ob das jetzt wahr ist oder nicht. Lass mich ihr zeigen, dass du mir in Wahrheit sehr wichtig bist. Lass es mich dir zeigen, bevor irgendwer dir einreden kann, dass unsere Beziehung toxisch ist. Denn um ehrlich zu sein, macht mir der Gedanke schon Angst, dass dir vermutlich jeder Erwachsene bald sagen wird, es sei besser sich von mir fernzuhalten. Also bitte mich nicht um Abstand, okay?«
Mir liefen die Tränen und ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Einerseits machte mich sein Engagement glücklich, andererseits hatte ich auch echt Angst vor diesem Aufeinandertreffen. Meine Mum war für mich meine ganze Familie und wenn sie sich nicht verstanden ....
»Ich schreib' dir nochmal«, wich ich einer finalen Zustimmung erstmal aus.
»Tommy-«
»Bitte Kilian. Ich kann das jetzt wirklich nicht. Ich muss - sorry«, murmelte ich noch überfordert und legte rasch auf.
Shit.
Ich raufte mir die Haare und ließ die Tränen unkontrolliert fließen. Was soll ich nur machen? Ich wollte ja wieder mehr essen, ich wollte eine normalisierte Beziehung mit Kilian haben, aber ... wenn der Preis dafür war, mich erneut mit dieser schrecklichen Zeit auseinanderzusetzen, dann wusste ich nicht, ob ich ihn bezahlen konnte, ohne völlig daran zu zerbrechen. Es gab gute Gründe, warum ich diese Erinnerungen weit in mein Unterbewusstsein verdrängt hatte. Zuzulassen, dass sie wieder hoch an die Oberfläche gelangten ... mich erneut in diesen Alptraum stürzten ... wie sollte mir das bitte helfen?
☂︎
Schon am nächsten Tag schleppte meine Mutter mich zu unserer Hausärztin, die aufmerksam zuhörte, mich wog, maß, mir Blut abnahm und am Ende mehrere Überweisungen ausstellte. Ich geriet in Panik und betonte wiederholt, dass ich auf keinen Fall irgendwo stationär eingewiesen werden wollte, aber die ältere Frau lächelte mich beruhigend an und versicherte mir, das wären alles erstmal nur Überweisungen für ein Erstgespräch, damit sich die Kollegen und Kolleginnen ein genaues Bild von meiner Verfassung machen konnten, ob eine stationäre Behandlung notwendig war, würde von mehreren Faktoren und Einschätzungen abhängen, aber ich sollte mir darüber erstmal keine Gedanken machen.
Ich bekam den Auftrag ein Esstagebuch zu führen und war erstmal entlassen. Meine Mutter rief noch auf der Heimfahrt bei dem Kinder- und Jugendpsychiater an, der uns empfohlen wurde und ergatterte gleich einen Termin. Davor fürchtete ich mich am meisten, denn diese Art von Arzt würde sich sicherlich auf meine Vergangenheit stürzen wie eine hungrige Bestie.
»Wir haben Glück, ihm ist eben ein Patient abgesprungen. Wir können sofort vorbeikommen.«
»Was ... jetzt sofort?!«, entschlüpfte es mir panisch und ein paar verwunderte Mitbusfahrer drehten die Köpfe in unsere Richtung.
Das darf doch nicht wahr sein! Normalerweise wartet man doch Wochen bis Monate auf einen Termin? Warum habe ich solches Pech?! Ich bin überhaupt nicht bereit für eine Therapie!
»Darling, alles gut. Dr. Lechner will dich nur kennenlernen und die Situation einschätzen. Du musst gar nichts weitermachen, nur ein bisschen mit ihm reden.«
Das ist ja das Schlimme daran, ich will nicht darüber reden. Mit niemandem.
Ganz ruhig, du hast dir über Jahre ein sehr passables Pokerface antrainiert. Du warst zu dick, wolltest abnehmen und es ist einfach außer Kontrolle geraten. Mehr gibt es nicht zu sagen. Du schaffst das.
Dr. Lechner war ein hochgewachsener Mann in seinen späten Vierzigern, der einen dunkelblauen Baumwollpullover trug und nach teurem Rasierwasser roch. Er begrüßte uns freundlich in seinem mit stilvollen Landschaftsbildern behängten Wartezimmer und bat vorab meine Mutter um ein kurzes Vieraugengespräch in seinem Besprechungszimmer, weshalb ich allein im Wartezimmer zurückblieb und weiter Panik schob. Schlimmer hätte es nicht laufen können, meine Mutter war schon durch den Besuch bei unserer Hausärztin völlig aufgewühlt, aber zumindest hatte sie sich dort auf meine körperlichen Symptome beschränkt. Doch Dr. Lechner interessierte sich wahrscheinlich nicht weiter für meine sich immer mehr abzeichnenden Rippen. Er wollte die genauen Auslöser ergründen, die mich erst dazu gebracht hatten die Nahrungsaufnahme so drastisch zu dezimieren. Und Mum würde ihm sicher den ein oder anderen Grund nennen. Die Probleme in der Schule, meine Mitschüler. Kilian.
Ich versuchte wirklich aus dieser Opferrolle herauszukommen, aber wie sollte das funktionieren, wenn ich von Außenstehenden immer wieder wie ein Opfer behandelt wurde? Meine Mutter, Frau Eva und jetzt dieser Seelenklempner. Warum konnten sie nicht verstehen, dass ich das alles einfach hinter mir lassen wollte? Ich wollte es nicht aufarbeiten, ich wollte es vergessen.
»Thomas?«
Dr. Lechner lächelte mich an, meine Mutter hinter ihm schluchzte unterdrückt. Sie sah aus, als hätte sie geweint. »Nun würde ich mich gerne mit dir weiterunterhalten.«
»Sie wollen mich therapieren? Jetzt sofort?«
Ich blickte flehend zu meiner Mutter. Dafür war ich wirklich noch nicht bereit.
»Darling, alles gut. Es ist nur ein kurzes Kennenlerngespräch, ja? Du kannst ganz beruhigt sein.«
»Es dauert auch nicht lang«, versicherte Dr. Lechner mir freundlich und hielt mir einladend die Tür auf.
Verdammt nochmal.
Ich stand zittrig auf und ging hinein. Es war ein großer, lichtdurchfluteter Raum, wo sich zwei Sitzgelegenheiten gegenüberstanden. Ich wartete, bis Dr. Lechner sich gesetzt hatte und mir den Platz gegenüber anbot.
»Also, Thomas. Wie geht es dir?«
»Ist das ne Fangfrage?«
»Ich bin nicht hier, um dich reinzulegen. Genauso wenig ist es meine Aufgabe dich mit Tabletten ruhig zu stellen oder dich in eine geschlossene Anstalt einzuweisen. Das war eine völlig ernstgemeinte Frage. Ich will wissen, wie es dir geht.«
»Es geht mir gut«, erwiderte ich nachdrücklich. »Mir wird übel, wenn ich esse, aber ansonsten geht es mir wirklich gut. Hören Sie, ich weiß nicht, was meine Mutter Ihnen gesagt hat - es stimmt, ich hatte in der Vergangenheit Probleme in der Schule, aber das ist längst vorbei. Ich bin nicht traumatisiert und ich brauche auch keine Therapie. Ich wollte einfach abnehmen, damit ich mich wieder wohler in meinem eigenen Körper fühle - daran ist doch nichts Verwerfliches.«
»Fühlst du dich denn wohler?«, hakte er interessiert nach und schob die Kappe von seinem Fineliner.
»Ja, viel wohler. Es hat keinen Spaß gemacht so abstoßend zu sein.«
»Abstoßend ist eine harte Formulierung. Was genau fandest du abstoßend an dir?«
Ich begann, an der Haut meines Daumennagels zu kratzen.
»Das überflüssige Körperfett. Ich weiß, man sieht es mir nicht mehr an, aber ich war mal richtig dick.«
»Diese ... Gewichtszunahme ist erst nach dem Umzug nach Deutschland aufgetreten, richtig? Wie war der Umzug denn für dich?«
Beschissen.
»Ganz okay.«
»Hast du Probleme gehabt Anschluss zu finden?«
»Na ja ... ich konnte die Sprache noch nicht wirklich, also ... ja, anfangs war es schon schwierig.«
»Das muss frustrierend gewesen sein, als niemand um dich herum dich mehr verstanden hat. Du deine Wünsche und Bedürfnisse nicht richtig kommunizieren konntest. Oder wenn deine Grenzen überschritten wurden und du es nicht sagen konntest, weil du nicht wusstest wie.«
»Sagen Sie es ruhig, meine Mum hat es doch sicherlich vorhin erzählt. Ja, meine ersten Jahre an der Schule waren durchweg beschissen. Ich wurde beleidigt und ausgegrenzt; das war scheiße, aber ich bin drüber weg - und es hat auch nichts hiermit zu tun.«
»In Ordnung, du willst absolut nicht darüber reden. Hast du dir schon mal überlegt, es stattdessen aufzuschreiben?«
Mir wurde schlecht, richtig kotzübel. In meiner dunkelsten Zeit habe ich akribisch Tagebuch geführt ... und wenn einige dieser Textpassagen jemals von einer anderen Person gelesen werden würden ... Diese Gedanken, die ich damals gehabt hatte ... Dinge, die ich aus purer Verzweiflung getan habe ... sehr schlimme Dinge.
»Manchmal ist das leichter, Erlebnisse zunächst schriftlich auszuformulieren«, redete Dr. Lechner weiter. »Nur für dich. Niemand sonst wird es lesen. Geht es dir gut?«
Erst jetzt merkte ich, wie verkrampft ich war; meine Nägel drückten sich mal wieder sehr schmerzhaft in meine Handinnenflächen, aber ich versuchte ein neutrales Gesicht aufzusetzen.
»Ja, danke. Ich bin nur ... es ist gerade alles etwas viel.«
»Das verstehe ich natürlich. Wie wäre es damit, bis zu unserer nächsten Sitzung schreibst du einfach mal all deine Emotionen und Ängste auf, die dir bis dahin durch den Kopf gehen?«
»Ich muss zu einer weiteren Sitzung kommen?«, entschlüpfte es mir ein wenig geschockt.
»Ja, das halte ich für durchaus sinnvoll, Thomas. Natürlich werden auch noch andere Untersuchen erfolgen, um eine andere Ursache für deinen Gewichtsverlust auszuschließen, aber ich denke, dass du hier bei mir schon sehr richtig aufgehoben bist, und wir den Ursachen gemeinsam auf den Grund gehen werden. Deine Hausärztin hat dich ja erstmal krankgeschrieben, deswegen würde ich vorschlagen, dass du immer Dienstag und Donnerstag vormittags kommst?«
»Gleich zweimal die Woche? So ernst ist die Sache doch nicht. Sie haben doch sicher dringendere Fälle zu behandeln ... die keine Ahnung, suizidgefährdet sind.«
»Ich nehme mir für all meine Patienten genügend Zeit, aber danke für deine Sorge«, versetzte er lächelnd und stand auf. Ich erhob mich ebenfalls und folgte ihm hinaus in den Flur, wo ich regelrecht zur Salzsäure gefror, denn dort im Wartezimmer saß nicht mehr nur meine Mutter.
Kilian blickte mich genauso überfordert an. Gab es was Unangenehmeres als einem Klassenkameraden beim Psychiater zu begegnen? Gut, wir waren eine kleine Stadt und da passierte sowas recht schnell - trotzdem wusste ich nicht, wie ich darauf reagieren sollte.
»Hi«, sagte er schließlich.
Fuck, wir konnten doch nicht beide zum selben Psychiater gehen. Derselbe Arzt, der Täter und Opfer behandelte, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein ...
Andererseits war Kilian sicherlich nicht deswegen in Behandlung. Der Unfall hatte sein komplettes Leben auf den Kopf gestellt, natürlich brauchte er da seelische Unterstützung. Und solange ich ihn nicht erwähnte, würde Dr. Lechner es nie herausfinden.
»Hey, komischer Zufall«, erwiderte ich ganz zwanglos, damit niemand Verdacht schöpfte. »Du hast es wahrscheinlich schon mitbekommen, ich werde eine Weile nicht in die Schule kommen.«
Er blinzelte mich verwirrt an. »Äh, ja. Herr Falke hat es heute Morgen erwähnt«, spielte er zögernd mit und lächelte matt. »Sag Bescheid, wenn du irgendwas brauchst. Ich kann auch gerne jederzeit den verpassten Stoff mit dir durchgehen - ich bin immer noch Klassenbester. Na ja, bis in Chemie«, behauptete er grinsend.
»Das ist ein nettes Angebot«, mischte meine Mutter sich versucht freundlich ein, doch ihre Augen wirkten dabei sehr kalt. »Aber ich denke, dass Hannah und Zahid das übernehmen werden.«
Ihre Hand auf meiner Schulter verkrampfte leicht.
»Dann bis Donnerstag«, verabschiedete sich Dr. Lechner von mir und wendete seine Aufmerksamkeit dann Kilian zu, der mich weiter enttäuscht und verunsichert anblickte.
Bitte sieh mich nicht so an, ich will doch auch nicht, dass das so läuft, aber es ist eindeutig besser, wenn Dr. Lechner nichts von unserer Dynamik mitbekommt. In diesen Räumlichkeiten sind wir besser nur zwei sich oberflächlich kennende Klassenkameraden.
»Vielleicht sollten wir wechseln«, meinte Mum im Aufzug. »Oder es zumindest Dr. Lechner gegenüber ansprechen. Ich fände es nicht gut, wenn du Kilian in diesem Umfeld immer wieder zufällig begegnest. Das beeinflusst deine Behandlung vielleicht negativ.«
»Warum sollte es? Kilian hat damit gar nichts zu tun.«
»Tommy ...«
»Könntest du ihn bitte einfach in Ruhe lassen? Er hat seine eigenen Probleme.«
»Ich weiß, und dieser Unfall war schrecklich - aber deshalb habe ich nicht vergessen, was er dir in der Vergangenheit alles angetan hat ... und du solltest das genauso wenig tun.«
»Er hat mir gar nichts getan«, log ich nachdrücklich. »Es ist nicht seine Schuld, dass seine Freunde solche Arschlöcher sind. Vince und Katja sind das Problem, nicht er.«
»Aber seine Freunde kann man sich aussuchen, oder? Wenn er gerne mit dieser Art von Mensch Zeit verbringt, und ihr Fehlverhalten immer wieder in Schutz nimmt, sagt das doch sehr viel über ihn aus.«
»Zugegeben, sie hatten einen schlechten Einfluss auf ihn, aber inzwischen konnte er sich davon befreien. Er ist wirklich nicht so schlecht wie du über ihn denkst, Mum. Ich kenne ihn besser. Er hat ein gutes Herz und sein Angebot vorhin war absolut ernst gemeint - er will einfach nur mehr Zeit mit mir verbringen.«
Ihre Lippen wurden sehr schmal und sie schwieg eine Weile, bis wir die Bushaltestelle erreichten. »Du ... hast dich mit ihm angefreundet?«
»Ja, recht gut sogar«, gestand ich vorsichtig, da ich das Gefühl hatte mich aus sehr dünnes Eis zu bewegen.
»Und das hältst du für eine gute Idee?«, fragte meine Mutter und ich hörte das Eis knacken.
»Mum, bitte. Ich will das jetzt echt nicht ausdiskutieren. Kilian gibt sich wirklich Mühe, also sei einfach nachsichtig mit ihm, ja?«
»Ich weiß nicht, ob ich das kann.«
Ich holte tief Luft und ließ sie langsam wieder entweichen. »Nun, er ist jetzt fester Bestandteil meines Soziallebens, also ... werden sich noch viele Gelegenheiten ergeben, es zu üben.«
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