2. Außer Betrieb
Kilian unerwartetes Auftauchen im Musikraum hatte mich emotional aufgewühlt und längst weggesperrte Dämonen in meinem Unterbewusstsein geweckt.
Ich werde so monströs werden, wie ich muss, hörte ich meine eigene Stimme vor Wut bebend in meinen Gedanken echoen. Für meine Rache würde ich alles tun. Alles.
Tja, dieses Racheversprechen hatte ich erfüllt. Zumindest teilweise, aber wirklich besser fühlte ich mich dadurch nicht. Im Gegenteil, die erwachten Schuldgefühle seit Kilians Unfall zerfraßen mir kontinuierlich die Seele - wie Würmer, die sich durchs Fruchtfleisch eines fauligen Apfels wanden.
Ich bin wirklich ein Idiot, schoss es mir durch den Kopf, während meine Finger unruhig über die Klaviertasten glitten und hin und wieder einen klaren Ton erzeugten. Das war meine eine große Chance endlich mit ihm zu reden, mir Klarheit zu verschaffen. Und ich verbockte es. Natürlich.
Ein Seufzer entwich meinen Lippen und am liebsten würde ich mit der Stirn auf die Tasten knallen, um dieses beschissene Selbstmitleid abzuschütteln.
Aber vermutlich würde es ohnehin nicht funktionieren, deshalb entschied ich mich lieber dafür meine Notenblätter zusammenzuklauben und in meinem Rucksack gleiten zu lassen, dessen einen Gurt ich mir über die Schulter warf und zügig aus dem Musikraum marschierte.
Die Gänge waren menschenleer, wie eigentlich immer um diese Zeit. Höchstens der Hausmeister begegnete mir manchmal, der leise Liedchen pfiff und ansonsten stumm seiner Arbeit nachging.
Warum hab ich ihn eben nicht einfach gefragt?
Das Gewicht auf meiner Schulter fühlte sich auf einmal tonnenschwer an. Was lächerlich war, weil sich kaum etwas im Rucksack befand. Wie hätte ich ihn fragen sollen? Es wäre ja doch ziemlich komisch rübergekommen, wenn ausgerechnet ich ihn über diesen Vorfall ausgequetscht hätte. Ich blieb stehen und spürte wieder dieses Brennen in den Lungenflügeln, wie damals.
Fast hatte ich wieder diesen Geruch in der Nase. Diese unvergleichliche Mischung aus Desinfektionsmitteln und Krankheit. Tod und Verzweiflung - ich schluckte und versuchte diesen ekelhaften Geschmack aus meinem Mund zu bekommen, der sich dort plötzlich verbreitete.
Zweifelsohne war es die mitunter schlimmste Zeit meines Lebens gewesen. Stundenlang hatte ich in der Notaufnahme herumgesessen, war bei jedem Neuankömmling einen halben Herzinfarkt gestorben, nur um festzustellen, dass es gar nicht er war. Und während ich dort gesessen und mir die Nägel blutig gekaut hatte, waren Krankenschwestern auf mich zugekommen und hatten sich erkundigt, ob sie mir irgendwie helfen konnten. Ich hatte jedes Mal verneint und behauptet; ich würde einfach nur auf jemanden warten - was genauso genommen sogar der Wahrheit entsprochen hatte.
Nach stundenlangem Rumsitzen wurde ein Arzt eingeschaltet, der darauf bestanden hatte, meine Eltern zu verständigen. Doch seine Worte waren überhaupt nicht zu mir durchgedrungen, ich hatte dem Mann in Weiß nicht zugehört - denn in diesem Augenblick hatten sich alle meine Sinne auf das näher kommende Sirenengeräusch konzentriert. Den Kittelträger einfach stehen lassend, hatten meine Beine sich automatisch auf den Ausgang zubewegt. Die Tür war aufgeschwungen und das Rettungsteam; bestehend aus zwei Notärzten und einigen Helfern waren hereingestürmt. Auf der Trage hatte eine scheinbar leblose Gestalt gelegen. Meine Lungenflügel hatten sich schmerzhaft zusammengezogen und das Brennen, welches folgte, war schlichtweg unerträglich gewesen. Der Arzt hinter mir hatte mich sofort grob beiseitegeschoben und ein paar Befehle in Richtung zweier Pflegerinnen gebellt, die gerade angerannt kamen. In mir hatte sich eine schreckliche, unnatürliche Leere manifestiert, die sich explosionsartig in mir ausgebreitet hatte; mich vollends verschlang, kaputt machte.
Dann hatte mich auf einmal eine Fremde an den Schultern gepackt. Eine der angelaufenen Pflegerinnen hatte ruhig gefragt: „Kennst du den Jungen?"
Eine ihrer grauen Locken hatte sich aus dem Dutt gelöst und war ihr lose ins Gesicht gehangen. Ich hatte sie nur stumm anblinzeln können, hatte es nicht geschafft, einen sinnvollen Laut von mir zu geben und bloß stumm genickt.
Die Frau hatte ebenfalls genickt und bestimmt gesagt: „Du musst mir jetzt ein paar Fragen beantworten, in Ordnung? Das ist sehr wichtig."
Die Fragen hatte ich der Pflegekraft mit zugeschnürter Stimme beantwortet. Sie hatte sich Notizen auf einem Klemmbrett gemacht und meine bebende Schulter gedrückt gehalten, als sie unmissverständlich betont hatte, ich solle hier warten. Was ich nicht getan hatte, kaum war sie hinter der zu geschwungenen Glastür verschwunden, hatte ich mich ebenfalls auf den Weg gemacht; raus aus der Notaufnahme, an der Patientenaufnahme und der Cafeteria vorbei zu den Aufzügen. Auf einem kleinen unscheinbaren Schildchen hatte dort Intensivstation gestanden.
Nachdem der Aufzug sich in Bewegung gesetzt hatte, war ich erschöpft an dessen verspiegelter Rückwand zusammengesackt. Meine Lungenflügel hatten sich angefühlt, als hatte jemand sie auf einen Scheiterhaufen gestellt und angezündet. Nachdem die Aufzugtüren sich endlich wieder geöffnet hatten, war ich hinaus auf den Flur geschwankt und der Ausschilderung bis zu meinem Zielort gefolgt. Dort angekommen hatte ich natürlich herumgestanden wie bestellt und nicht abgeholt, da es ausschließlich Familienangehörigen erlaubt war, die Station zu betreten. Also hatte ich mir eine Sitzgelegenheit in einem der abweichenden Korridore gesucht, neben einem großen Kaffeeautomaten, weil mich die böse Vorahnung beschlichen hatte, dass meine Beine mich nicht mehr sehr viel länger zu tragen bereit waren. Auf dem Weg dorthin hätte ich mir beinahe den Knöchel gebrochen. Jeder einzelne Schritt hatte sich unendlich mühsam angefühlt.
Keine Ahnung, wie lange ich dort eigentlich rumgesessen hatte, doch irgendwann hatte ich die Anwesenheit einer zweiten Person registriert. Ich hatte den Blick ein wenig angehoben und beobachtet, wie eine Frau ein Geldstück in den Automaten gesteckt hatte. Sie war sehr blass gewesen und unter ihren verräterisch geröteten Augen hatten zudem tiefe Schatten gelegen. Vielleicht hatte ich ein Geräusch verursacht, was sie veranlasst hatte mir plötzlich direkt in die Augen zu sehen. Ich hatte keine Ahnung, was ich erwartet habe; Wut, Angst, Verzweiflung? Aber nichts dergleichen hatte in Emma Winters Blick gelegen, nur ... ehrliche Überraschung und ... Wärme?
Die Erkenntnis hatte mir ein Loch in die Magengrube gerissen. So einen Blick hatte ich wirklich nicht verdient.
„Tommy?" Hatte sie mich freundlich mit Vornamen angesprochen und gleichzeitig so unfassbar müde geklungen. „Alles in ..." „Wie geht es ihm?" Hatte ich sie hastig unterbrochen, weil ich es nicht länger ausgehalten habe, weil ich endlich Klarheit haben musste.
Emmas erneute Überraschung war ihr noch überdeutlicher anzusehen gewesen, doch dann hatte sie gelächelt und sanft geflüstert: „Er ist schon aus dem Gröbsten raus."
Erleichtert hatte ich bei diesen Worten aufgeatmet und das grausame Brennen war aus meiner Lunge verschwunden. Scheinbar hatte ich vergessen, richtig zu atmen.
„Bist du seinetwegen ...?" Sie hatte die Frage offengelassen.
„Nein." Hatte ich sie daraufhin angelogen. „Ich hab es nur per Zufall mitgekriegt."
Sie war neben mich gesunken und hatte den fertigen Kaffeebecher im Automaten offenbar ganz vergessen.
„Danke." Hatte sie schließlich sehr leise in meine Richtung gehaucht. Doch ich hatte nur betreten den Kopf geschüttelt. „Ich hab nur seine Personalien herausgegeben, mehr nicht." Meine Antwort war kaum mehr als ein heißeres Flüstern gewesen. Emmas Hand war mir sanft durchs Haar gefahren.
„Trotzdem ... Danke Tommy."
*
03. März
15:20
Nein. Komm schon, selbst ich konnte nicht so viel Pech an - wohlgemerkt - einem Tag haben.
„Fuck", murmelte ich deswegen frustriert und begann nachdenklich auf meiner Unterlippe herumzukauen. Mein Blick wanderte von dem Außer Betrieb-Schild am Aufzug zu den leicht abgeflachten Treppenstufen der Unterführung und zurück. Hm ... meine Mutter würde mich schon allein für diesen Gedanken killen. Aber hatte ich eine Wahl?
Klar, ich konnte hier versauern. Mein Handy hatte sich praktischerweise auch schon vor einiger Zeit in die ewigen Jagdgründe verabschiedet. Wir lebten in einer Kleinstadt und ich bezweifelte sehr, dass irgendwer mitten am Tag meinen abgestellten Rolli klauen würde. Emma konnte ihn ja später abholen.
Und wollte meine Physiotherapeutin nicht eh, dass ich anfing mir klare Ziele zu setzen? Dann besteht mein erstes Ziel eben darin, es heil diese Treppen hinunterzuschaffen. Hab ich doch früher auch locker geschafft, vor dem Unfall und der darauf folgenden Muskelhypotonie.
Okay, ganz langsam, einen Schritt nach dem anderen ... Vorsichtig stemmte ich mich hoch, griff nach meinem Rucksack und schätzte in etwa die Entfernung nach unten ab. Ich musste runter, Pause, hoch, S-Bahn, sitzen. Kein Problem.
Ich machte einen Probeschritt und hielt mich mit beiden Händen am Geländer fest. So weit, so gut. Auch wenn meine Handflächen sich bereits jetzt schwitzig anfühlten. Wenn ich es schaffte, mir meine Kräfte einigermaßen einzuteilen, sollte es vermutlich keine Probleme geben. Erste Treppenstufe, Zweite, Dritte, Vierte, bei der Fünften machte liebenswerterweise meine Lunge schlapp.
Nicht gut ... Meine Hände umfassten das Geländer nun fester, sodass meine Fingerknöchel weiß hervortraten. Ganz und gar nicht gut ... und jetzt? Zurück? Ich dachte über diese Option nach. Mit Abstand die Beste, die ich hatte, denn selbst wenn ich es runterschaffte, was nicht wirklich wahrscheinlich war, dann ... Und was mach' ich oben? Warten, bis Irgendwem auffällt, dass ich nicht nach Hause gekommen bin? Wie lange wird das dauern? Stunden?
Wieder blickte ich nach unten. Sooo weit war es doch gar nicht mehr. Ich schaffte das schon. Immer optimistisch bleiben. Auf der achten Stufe, so ziemlich der Mitte, begannen auf einmal schwarze Punkte in meinem Blickfeld zu tanzen.
Fuck it!
Meine Beine zitterten wie Espenlaub und ich gab irgendwann der Versuchung nach und sackte wie ein Häufchen Elend in mich zusammen. Wenn ich einmal saß, war es schwer wieder allein aufzustehen. Tja, scheiße gelaufen. Ich ließ meinen Kopf auf die Knie sinken und seufzte ergeben.
„Kilian?"
Ich hob den Kopf wieder und sah Tommy neben mir aufragen. „Hi", sagte ich gezwungen heiter.
Diesmal hatte er keine Kopfhörer drin, ein seltener Anblick.
„Was ... wird das?", fragte er ruhig und wanderte mit den Augen zurück zu meinem verwaisten Rollstuhl.
„Aufzug kaputt", erwiderte ich schulterzuckend.
Tommys Augenbrauen schossen nach oben. „Und da dachtest du, das wäre eine gute Alternative?"
„Na ja, es war auch meine Einzige", argumentierte ich und ganz kurz, zuckte es um seine Mundwinkel. Tommy konnte lächeln? Wow, man lernte nie aus.
„Soll ich ... ich meine, brauchst du ..." Seine Stimme verlor sich leise und mich beschlich das ungemeine Gefühl, dass ihn die ganze Situation ein wenig überforderte. Verständlich und trotzdem war es für mich eine weitere der unzähligen bitteren Pillen - die ich zu schlucken hatte. Jeden Tag.
Es blieb lange still. Meine Hände zitterten. Eigentlich mein ganzer Körper. Er stand einfach nur da, die Hände unbeholfen in den Hosentaschen vergraben.
„Hör mal ... du musst wirklich nicht", begann ich, brach ebenfalls ab und kratzte mich unbehaglich am Oberarm. Was sollte ich auch großartig sagen?
Tommy musterte mich einen Augenblick zögernd, wirkte unschlüssig und ich verkniff mir ein lautes: Was? Und beschränkte mich lieber auf ein innerliches Augenverdrehen. Ich wusste selbst, wie erbärmlich ich war - danke.
„Kannst du aufstehen?"
„Falls ich es versuche, habe ich ganz gute Chancen auf ein paar Knochenbrüche", prophezeite ich abweisend und lehnte mich mit dem Hinterkopf gegen die kühlen, mit farbenfrohen Graffiti beschmierten Beton und spürte, wie mir die Lider zufielen. Schlafen, ja, geniale Idee ...
„Hey!"
Jemand rüttelte unsanft an meiner Schulter und ich schlug die Augen auf und fokussierte zum ersten Mal nach langer Zeit sein Gesicht genauer. Er war ganz niedlich, aber das war es eigentlich auch schon. Was faszinierte Hannah nur so an ihm? Sein langweiliges, farblich total undefinierbares Haar? Seine noch langweiligeren dunklen Augen?
„Also", setzte Tommy an und blickte auf mich herab. Seine Miene blieb dabei ausdruckslos, unergründlich. „Ganz offensichtlich kommst du alleine nicht klar."
„Ich komme alleine sogar ganz wunderbar klar", entgegnete ich und grinste, ein kurzes schiefes Grinsen, welches er mir offenbar nicht abkaufte. So blieb mir scheinbar nichts anderes übrig, als es ihm zu demonstrieren. Ich versuchte also mich aufzurappeln, doch meine Beine verweigerten mir charmant den Dienst und brachen erneut unter mir weg. Ähm ... ja.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht krümmte ich mich auf der Treppenstufe zusammen, während heftige Hustenanfälle meinen Körper peinigten. Oh Fuck, meine arme Lunge ...
Als ich mich wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte, streckte er mir wortlos seine Hand entgegen und nach kurzem Zögern ließ ich es zu, dass er mir aufhalf. Dabei prallte ich halb gegen seine Brust, die sich hart und warm unter seinem dunklen Sweatshirt anfühlte. Ein kleiner Segen für meine bereits abgefrorenen Finger. Aber um ehrlich zu sein, hatte ich eher damit gerechnet, dass mein Gewicht ihn umhaute. An mir war schon nicht viel dran, jedoch immer noch mehr als an seiner abgemagerten Wenigkeit.
„Und jetzt?", fragte ich.
„Leg deinen Arm um meine Schulter."
Ich gehorchte. Nicht unbedingt, weil es mir gefiel, wie er mit mir in diesem distanzierten Befehlston sprach, sondern weil die logische Konsequenz eine erneute nähere Bekanntschaft mit dem Fußboden beinhalten würde. Und darauf war ich aktuell wirklich nicht scharf.
Gemeinsam torkelten wir die Treppenstufen hinunter, wie zwei Betrunkene, wobei ich mehrmals strauchelte und mich schwer keuchend auf ihn stützen musste.
„Tut mir leid", murmelte ich deshalb und mein zu schneller Atem zeichnete sich als weißer Dunsthauch in der Luft ab. Das war extrem anstrengend. Und bestimmt nicht nur für mich. „Du musst dich nicht entschuldigen. Nicht für sowas", entgegnete Tommy und verzog keine Miene, als ich ihm aus Reflex meine Nägel in die Haut rammte, um mir einen Schmerzausgleich zu verschaffen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichten wir endlich die unterste Stufe und ich entglitt seinem Griff und schlug mit den Knien zuerst auf dem Boden auf. Autsch ...
„Kilian!"
Zum ersten Mal mischten sich ein paar Emotionen in seine Stimme; noch weit entfernt von Panik zwar, aber immerhin klang er besorgt: „Alles okay?! Tut mir leid, ich hätte ... warum hast du denn einfach losgelassen?"
Weil ich keine Kraft mehr in den Armen habe, man ...
„Hm, ich muss kurz ausruhen."
„Vielleicht sollte ich lieber ...", murmelte er leise, offenbar an sich selbst gewandt und ich knurrte daraufhin ein wenig aggressiv: „Nein, ich brauche keinen verdammten Notarzt. Mir geht es bestens, wirklich. Gib mir einfach fünf Minuten."
Er seufzte, gab aber nach: „Wie du willst."
Glücklich schien er mit seiner Entscheidung allerdings nicht zu sein. Aber das ging mir herzlich am Arsch vorbei. Ich hatte ihn nicht um Hilfe gebeten.
Tommy nutzte die Zeit, die ich zur Erholung brauchte und trug meinen Rolli erst die Treppenstufen hinunter zu mir und dann weiter hoch zum Bahnsteig.
„Tut mir leid", sagte ich nochmal kleinlaut, als er sich leicht aus der Puste neben mich lehnte, einen Fuß an der Wand hinter sich abstützend. „Ich sagte doch schon; du brauchst dich wegen sowas nicht zu entschuldigen."
„Ja ... aber trotzdem." Ich beugte mich vor und legte mein Kinn auf die Hände ab. „Du hast bestimmt Besseres zu tun."
„Eigentlich nicht", gab er zurück. „Du lieferst mir so einen guten Grund, um nicht an die morgen fälligen Mathehausaufgaben denken zu müssen."
Ich lachte freudlos auf. Tja, dann war ich eben wenigstens zu etwas nutze, was?
„Mathe ist nicht so deine Stärke?", fragte ich und Tommy rutschte langsam an der Wand hinunter und seufzte tief; eine weiße Atemwolke bildete sich vor ihm. „Nicht wirklich", gab er schulterzuckend zu.
„Hm", machte ich. Da Mathe für mich noch nie ein Problem dargestellt hat, konnte ich schlecht mitreden.
Stille.
Ich betrachtete eingehend die Schuhspitzen meiner Sneaker. So langsam wurde es unangenehm, konnte er nicht auch mal was sagen? Irgendwas?
Natürlich tat er mir den Gefallen nicht, weshalb ich nach einer stummen Ewigkeit meinte: „Wir sollten langsam ..." Ich versuchte, mich von der Wand weg zu stemmen - und scheiterte kläglich.
„Verdammt!", fluchend schlug ich mit der Faust auf den Boden ein, worauf kleine Kieselsteinchen sich unangenehm in meine Haut bohrten.
„Sehr gut ..." Tommy verdrehte die Augen, als er das sagte. „Füg dir ruhig noch mehr Verletzungen zu, wir haben es ja noch nicht schwer genug."
Erschöpft schloss ich die Lider. „Hör zu", sagte ich ernst. „Vielleicht solltest du einfach ..."
„Hör auf damit", fuhr Tommy mir sofort über den Mund und ich blinzelte überrascht und fragte: „Womit?"
„Du weißt ganz genau, was ich meine", warf er mir verstimmt vor.
„Du musst hier meinetwegen aber nicht versauern", betonte ich schulterzuckend.
„Das werde ich nicht tun, okay?"
„Was?"
„Dich hier einfach sitzen lassen." Tommy klang, als ärgerte er sich darüber, so was überhaupt laut aussprechen zu müssen.
Und einen Augenblick sah ich ihn einfach nur schweigend an. „Warum?", fragte ich schließlich.
„Warum ich dich hier nicht zurücklassen werde?"
Tommys Stimme zitterte leicht. „Wahrscheinlich, weil ich nicht so ein Arschloch bin, wie gewisse andere Leute."
Tja, ein eindeutiger Seitenhieb gegen meine Freunde ...
„Welchen Sinn hat es, wenn wir hier beide rumhocken, hm?"
Tommy antwortete nicht, diese Diskussion fand er offenbar absolut hirnrissig, was mich seltsamerweise tierisch auf die Palme brachte.
„Ich will das jetzt nicht ausdiskutieren, okay?"
Der konnte mich doch echt mal kreuzweise.
„Da bin ich ausnahmsweise deiner Meinung, da gibt es auch absolut nichts auszudiskutieren." Seine dunklen Iriden funkelten wütend. „Ernsthaft, für wie kalt hältst du mich eigentlich?"
Darauf hatte ich natürlich keine Antwort und presste frustriert den Kiefer aufeinander.
„Entweder du lässt mich dich nach Hause bringen ... oder ich rufe halt doch den Notarzt. Deine Entscheidung."
„Sowas nennt man Erpressung", flüsterte ich pissig zurück.
„Nenn es wie du willst - andere Optionen hast du aktuell nicht."
„Weißt du ... inzwischen könnte mein Fehlen schon bemerkt worden sein."
„Was du nicht sagst."
Dieser Mistkerl schien keinerlei Interesse an logischen Argumenten zu hegen. „Und wann genau wurde überhaupt beschlossen, dass du mich bis vor meine Haustür begleitest?"
„Ziemlich genau dann, als du auf der letzten Stufe zusammengebrochen bist", antwortete er eisig.
So viel unangebrachter Starrsinn machte mich echt einen Moment sprachlos. So hatte ich ihn gar nicht eingeschätzt. Es wäre weniger kompliziert gewesen, wenn er mich einfach ignoriert hätte. Wenn er einfach weitergegangen wäre. Darin hatte er doch unfassbar viel Übung, in der Schule behandelte er mich ja auch unentwegt wie Luft.
„Ich ... also, ich werde es vermutlich nicht auf einmal schaffen", sagte ich und malträtierte nervös mit den Zähnen meine Unterlippe. Ich hasste das einfach; wollte nicht abhängig sein, mich nicht auf andere verlassen müssen.
„Schon klar."
Tommys dunkle Augen wirkten so ausdruckslos wie seine Stimme, als er aufstand und mein Handgelenk ergriff. Mit einem unterdrücken Stöhnen, zog er mich hoch. Ich taumelte und wäre beinahe gestürzt, doch diesmal vertraute Tommy meiner Kraft weniger, weswegen er mich noch rechtzeitig in eine halbe Umarmung zog.
Hm ... er roch nach ... „Hast du gestern irgendwie gebacken?"
„Ähm ..., nein?", entgegnete Tommy perplex.
„Du riechst total nach Zimt."
„Meine Mum räuchert unsere Wohnung regelmäßig mit Duftkerzen aus - vielleicht deshalb."
Damit brachte er mich zum Schmunzeln. Zwar kannte ich seine Mutter nur vom Sehen, aber sie wirkte schon sehr wie der häusliche Typ. Nicht so eine Chaotin, wie ich daheim hatte.
„Wie weit glaubst du, schaffst du es?", holte mich seine Stimme aus meinem Gedankensumpf zurück.
„Vielleicht ... Vier?"
„Vier Stufen also."
„Auf keinen Fall mehr."
Aus als keinen Fall mehr wurden genau ... Zwei.
Es dauerte mindestens eine Dreiviertelstunde, bis ich endlich - total erschöpft - in meinem Rollstuhl saß. Noch nie hatte ich mich so auf das Teil gefreut wie gerade. Meine Beine schlotterten jetzt noch nach.
Tommy saß neben mir und schaute schnaufend an mir vorbei auf die Anzeigetafel. „Sieben Minuten", teilte er mir knapp mit.
In den sieben Minuten redeten wir kein Wort miteinander. Nicht, dass ich dazu in der Lage gewesen wäre, so wie ich hyperventilierte.
Als die Bahn einfuhr, sprang er auf. „Soll ich?", fragte er und ich nickte einfach zustimmend.
Ich blieb im Mittelgang und haute die Bremsen rein, während Tommy sich in eins der blauen Polster warf.
„Wann müssen wir raus?", fragte er nun geradeheraus und studierte den Fahrplan schräg über meinem Kopf.
„Du musst echt nicht ..."
„Mein Akku ist leer. Aber hier drin sind genug Leute, die bestimmt liebend gern den Notruf wählen, wenn ich ihnen deine Situation schildere."
„So langsam fange ich an dich zu hassen", meinte ich daraufhin kühl. Und wieder schoben sich seine Mundwinkel verräterisch nach oben.
Ich verstand den Kerl echt nicht.
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