16. Eskalation
Der Anruf hatte mich völlig aus der Bahn geworfen.
Zwanzig Minuten später stand Hannah dann auch tatsächlich vor meiner Tür.
„Oh Hallo!", quietschte sie und ging in die Hocke, als Oliver angeflitzt kam um sie zu begrüßen - am Ende hatte ich mich doch wieder von Gina breitschlagen lassen.
„Du süßer kleiner Fratz! Komm her!"
„Hannah, könntest du mir bitte nochmal genau erklären, warum du hier bist und nicht nach Hause kannst?"
„Wie gesagt, Kilian hat mich gebeten ihm einen Fluchtwagen zu stellen ... also habe ich meiner Mutter erzählt, wir würden heute zusammen bei Mona abhängen und sie hat uns hingefahren. Und jetzt denkt sie ich wäre dort, was ich offensichtlich nicht bin und kann erstmal nicht nach Hause. Wieso? Störe ich? Ist Garve auch da?"
„Nein", antwortete ich abwesend. In mir drin knackte es gewaltig. Ich konnte kaum glauben, dass er sich rausgeschlichen und trotzdem hingegangen war ... nur um diesem Idioten nochmal eine Chance zu geben und dieser Giftschlange Katja zu gefallen.
„Tommy? Geht's dir nicht gut? Du siehst richtig fertig aus ..."
Sie erhob sich, mit Oliver im Arm, der freudig hechelnd in ihrer Armbeuge lag und sich von ihr am Bauch kraulen ließ. Doch ihre Augen ruhten besorgt auf mir.
„Mir geht's gut, ich bin nur immer noch verkatert. Ich vertrage einfach keinen Alkohol", behauptete ich schulterzuckend und ging voran ins Wohnzimmer. Ich hatte mich noch nicht motivieren können aufzuräumen, deshalb standen die Gläser von gestern immer noch herum.
Hannah setzte Oliver wieder ab und begann sofort besagte Gläser einzusammeln.
„Schon gut, ich mach' das später schon selbst."
„Geht doch ganz schnell", wehrte sie ab. „Deine Mum kommt doch morgen früh zurück aus Hong Kong, oder? Da soll sie nicht in ein absolutes Chaos heimkommen ... Außerdem nutzen wir ständig deine Wohnung zum Abhängen, da ist dir beim Aufräumen zu helfen doch das Mindeste."
Ja, aber ich hatte schon vor Jahren ein spezielles Aufräumsystem in diesen Haushalt etabliert, dessen Einhaltung grade sträflich vernachlässigt wurde. Aber die Sache mit Kilian beschäftigte mich mehr, weshalb ich sämtlichen Widerstand aufgab und frustriert in den Sofakissen versank. Wenn Emma ihn bei dieser hirnrissigen Aktion erwischte, würde sein Hausarrest bestimmt nochmal verdoppelt werden ... Ich hatte schon mit den zwei kommenden Wochenenden gehadert, wie sollte ich es aushalten einen ganzen Monat lang nicht mit ihm intim zu werden? Das war die pure Folter. Und wofür hatte ich den Hausarrest überhaupt erst provoziert, wenn er sowieso machte, was er wollte ...
Nachdem Hannah ihre Aufräumaktion beendet hatte, quetschte sie sich zu mir aufs Sofa.
„Darf ich dich was fragen, ohne dass du gleich sauer wirst? Ich weiß, das ist für dich ein heikles Thema und es ist nur ein Vorschlag."
Irritiert blinzelte ich sie an. „Klar, schieß los."
Sie holte tief Luft und wühlte kurz in ihrer selbstgenähten Tasche. „Ich hab dir die gemacht."
Sie zog eine Tuperbox mit kleinen schwarzen und weißen Kugeln darin hervor.
„Was? Du willst mir Pralinen schenken?", fragte ich verwirrt.
„Das sind Energy Balls; die bestehen nur aus Haferflocken, Datteln und Kokosflocken. Ich dachte ... nur für den Fall, wenn es dir mal nicht so gut geht. Ein Notfallsnack quasi für unterwegs oder in der Schule, wie Energiezucker für einen Diabetiker."
Ich schwieg und riss den Blick von der Dose los. Da hatte sie wirklich einen wunden Punkt bei mir erwischt.
„Du weißt, ich esse nicht gerne vor anderen", flüsterte ich.
„Eben. Dafür sind sie ja auch perfekt. Ein Bissen und sie sind weg - ich habe sie extra kleingemacht. Niemand wird dich dabei beobachten oder gar etwas merken."
„Ich ..."
„Bitte. Nimm sie an und denk darüber nach."
„Mir war nicht deswegen schwindlig", war mir plötzlich wichtig nochmal klarzustellen und sie blickte mich entgeistert an.
„Dir war schwindlig? Wann denn?"
„Heute Vormittag. Kilian hat es dir doch sicherlich erzählt, oder nicht? Deswegen hast du die Bällchen doch gemacht."
„Nein, Ki hat mir gar nichts erzählt. Ich habe schon länger mit diesem Gedanken gespielt, aber du bist echt schwierig bei dieser Thematik und ich habe Zeit gebraucht, um mich zu trauen."
„Ich bin nicht magersüchtig."
„Keine Ahnung, Tommy. Ich kann keine genaue Diagnose über dich stellen, aber du hast definitiv eine Essstörung entwickelt und kannst dieses Problem nicht ewig wegignorieren. Aber gut, genug der schweren Themen. Ich finde, wir sollten jetzt überlegen welchen Film wir zusammen schauen, damit ich mich zumindest zeitweise von meinem deprimierenden Liebesleben ablenken kann ..."
Sie rempelte mich an und grinste verwegen. Wie sollte ich da weiterschmollen?
*
Montag kam und meine Wut war noch nicht einmal ansatzweise verblasst. Natürlich hatte ich gar kein Recht deswegen wütend zu sein, das war mir absolut bewusst. Aber der Gedanke, das er Samstag dort gewesen war, bei diesem Abschaum, machte mich einfach nur wahnsinnig. Ich lehnte neben Zahid im Flur vor unserem Englischklassenraum und versuchte mich irgendwie zu beruhigen. Es war untypisch für mich so früh im Schulhaus sein, normalerweise kam ich immer erst in letzter Sekunde ins Klassenzimmer geschlüpft, aber ich wollte meiner Mutter aus dem Weg gehen, deren Flieger heute schon sehr früh gelandet - und die inzwischen wahrscheinlich zu Hause angekommen war und sich einen Kaffee machte.
Auf einmal drang unliebsames Gekicher an mein Ohr und ich blickte genervt auf. Katja und Mona, die Hände ineinander verschlungen und offensichtlich höchst vergnügt, kamen den Flur entlang geschlendert.
„Guten Morgen", rief Mona mit einem abartig blöden Grinsen im Gesicht, die Kilians neues Verhaltensmuster übernommen hatte und nun ebenfalls jeden grüßte.
„Morgen", sagte Zahid inzwischen automatisiert, ohne sich die Mühe zu machen von seinem Skizzenblock aufzuschauen.
„Wie geht es euch so? Alles gut? Ein schönes Wochenende gehabt?"
Sie blieb direkt vor mir stehen und erwartete offenbar eine Antwort.
„Können wir dieses Schmierentheater bitte lassen? Dich interessiert genauso wenig wie mein Wochenende war wie mich deines interessiert."
Ihre Mundwinkel sanken herab. „Oh, na gut. War ja nur ne Frage."
Mona hätte es vermutlich damit auf sich beruhen lassen. Das Mädchen war mir zuwider, doch es war nicht unbedingt ihre Art andere zu tyrannisieren. Zwar machte sie sich schon über andere lustig und lästerte gern, aber ihr ging es wirklich nur um die eigene Belustigung oder darum ein paar schnelle Lacher in der Klasse abzugreifen. Kurz darauf hatte sie ihre Opfer schnell wieder vergessen und wandte sich dem nächsten zu. Sie hatte keinen solchen Spaß daran tiefsitzende Narben zu kreieren wie ihre beste Freundin. Und jemand wie ich, der schon längst nicht mehr auf ihre plumpe Provokation reagierte, wurde ihr schnell zu langweilig.
Doch Katja hatte Blut geleckt.
„Wirklich? Dich interessiert nicht, was Samstagabend bei uns gelaufen ist und mit wem?"
Meine Kiefermuskulatur zuckte verräterisch, aber ich zwang mich ansonsten äußerlich weiter unbeeindruckt zu wirken, als ich antworte: „Warum sollte es mich interessieren, welche Geschlechtskrankheiten dir dein Freund angehängt hat, Katja?"
Diesmal war sie diejenige, die ihre Maske nicht mehr wahren konnte. „Fick dich. Ich dachte nur du solltest vielleicht wissen, dass Kilian und Felice wieder zusammenkommen werden. Noch ist es nicht offiziell, aber die Art und Weise wie er ihm gestern die Zunge in den Hals geschoben hat, spricht für sich. Du musst ja miserabel küssen, wenn er es so nötig hatte ..."
Es passierte alles sehr schnell und ich konnte mich im Nachhinein nicht mehr genau erinnern wie - meine Finger hatten sich eine Handvoll ihrer falschen Extensions geschnappt und ihren Kopf grob nach hinten gezogen. Katja schrie kurz erschrocken auf und wollte meine Hand wegschlagen, doch mein Griff wurde dadurch nur fester und ich zischte ihr drohend ins Ohr: „Sei still und hör gut zu, Slut. Wenn du nicht endlich lernst, deine Widerlichkeiten für dich zu behalten, kriegen wir bald ein richtiges Problem miteinander. Und dann ziehst du auch noch einen deiner besten Freunde durch den Dreck, indem du andeutetest, er wäre nichts weiter als a horny Whore, die es bereitwillig sofort mit jedem treibt? Wie widerwärtig kann man eigentlich sein, Katja? Denk mal drüber nach ..."
„Tommy, tickst du nicht mehr richtig!", schrie Mona mich an und riss hysterisch an meinem Handgelenk herum, wobei mein Ärmel einriss.
„Tommy", sagte Zahid, der irgendwann aus seiner Traumwelt erwacht war und jetzt beruhigend eine Hand auf meine Schulter legte. „Komm schon, lass sie bitte los."
Was ich dann auch tat und Katja mit Zornestränen herumwirbelte und mich ungläubig anstarrte. „Du mieses Stück Scheiße, dafür fliegst du von der Schule! Ich werde ..." „Mach nur", unterbrach ich sie unbeeindruckt und schulterte meinen Rucksack. In diesem Augenblick kam eine neue Welle Schüler in den Flur geschwappt und ich nutzte die Gelegenheit, um darin zu verschwinden.
Mir war gerade alles scheißegal. Sollten sie mir doch ruhig den Schulverweis geben - wie oft waren sie gegenüber uns schon handgreiflich geworden und jeder Schlichtungsversuch vonseiten des Lehrkörpers hatte es nur schlimmer gemacht? Wenn ich flog, hatte ich zumindest endlich meine Ruhe vor ihnen.
Ich flüchtete mich ins Musikzimmer, warf meinen Rucksack in die Ecke und setzte mich ans Klavier.
Das Spiel beruhigte mich sofort und half mir die Wut, die ich normalerweise fest verschlossen im hintersten Winkel meines Verstandes versteckt hielt und bei Katjas Worten hervorgebrochen war, wieder unter Kontrolle zu bringen. Es war ein Fehler. Ich hätte natürlich nicht gewalttätig reagieren dürfen ... Katja physische Schmerzen zuzufügen war das Risiko nicht wert, dafür Kilian verlieren zu können. Sie hatte sicherlich gelogen, nur um mich zu verletzen, aber ich hatte das Kopfkino, was daraufhin bei mir eingesetzt hatte nicht verhindern können. Sie hatte im schlechtesten Moment, einen der Dominosteine in mir drin umgeschubst und eine Kettenreaktion ausgelöst. Es war ihre eigene Schuld, aber ich würde dafür die Konsequenzen tragen.
„Tommy?"
Ich hatte nicht bemerkt, dass hinter mir jemand eingetreten war und fuhr nun überrascht herum. Unsere Musikpädagogin Frau Eva lächelte mich freundlich an, aber ich konnte es dennoch in ihren Augen ablesen. Katja hatte mich bereits angeklagt.
„Muss ich das Schulgelände verlassen?", fragte ich und warf einen bedauernden Blick auf die Tasten. Das Einzige was ich wirklich vermissen würde, abgesehen davon meine Freunde und Kilian jeden Tag zu sehen, war dieser alte, wunderbare Flügel. Er war eigentlich nichts Besonderes, aber ich liebte seinen Klang.
„Nein, natürlich nicht", erwiderte die Frau am anderen Ende des Raums und kam näher. „Ich dachte mir schon, dass du hier bist. Darf ich mich setzen?"
Ich nickte und sie zog sich einen Stuhl heran.
„Ich habe vorhin im Lehrerzimmer ein Gespräch zwischen eurem Klassenlehrer und Frau Fichte mitbekommen. Sie hat behauptet, du hättest sie angegriffen und ihr ... na ja an den Haaren gezogen. Mir und auch dem restlichen Lehrkörper ist natürlich bewusst, dass es für dich in den letzten Jahren nicht so einfach war. Und um ganz ehrlich zu sein, glaube ich kein Wort davon - du bist kein gewalttätiger Mensch. Und genau diese Einschätzung werde ich auch an die Rektorin weitergeben. Trotz allem ist es eine ernste Anschuldigung, die wir nicht einfach ignorieren können. Also würde ich dich gern etwas fragen."
Frau Eva wartete und sah mich aufmerksam an, bis ich abermals nickte.
„Ist es wieder schlimmer geworden? Das Mobbing, meine ich ... Denn bisher hatte ich den Eindruck, dass sich die Situation seit letztem Jahr entspannt hat. Aber vielleicht war diese Annahme naiv ... Wenn ja, tut es mir leid."
Kurzzeitig war ich zu überrascht, um zu antworten. Frau Eva war die erste Lehrerin gewesen, die mich von sich aus gezielt auf die Schikanen angesprochen hatte. Und sie hatte auch wirklich versucht zu helfen, was ich ihr bis heute sehr hoch anrechnete, nur gebracht hatte es leider nichts. Es hatte eher das Gegenteil bewirkt und meine Tyrannen noch weiter angestachelt.
„Keine Ahnung", murmelte ich unglücklich. „Wahrscheinlich hat sich an ihrem Verhalten nicht wirklich viel geändert, aber ich versuche es nicht mehr wie früher an mich ranzulassen oder ignoriere ihre Kommentare. Meistens gelingt das ganz gut."
„Aber heute nicht?", fragte Frau Eva sanft und ich nickte wieder nur, da sich inzwischen ein dicker Kloß in meinem Hals gebildet hatte und mir das Sprechen schwerfiel. Ich wollte nicht nochmal versagen und die Kontrolle über meine Gefühle verlieren.
„Na schön, ich kläre das. Aber es wäre mir lieb, wenn die Sache nicht völlig ausarten würde ... Also tust du mir den Gefallen und kommst sofort zu mir, wenn wieder etwas sein sollte? Ich weiß, du glaubst nicht, dass es etwas bringt, aber ich verspreche dir, ich tue alles in meiner Machtstehende, damit diese Grausamkeit endlich aufhört. Aber dafür musst du mit mir reden."
Sie drückte ähnlich sanft meine Schulter wie Zahid es vorhin getan hatte und stand auf. „Soll ich dich für den restlichen Tag vom Unterricht befreien?"
„Nein", erwiderte ich und erhob mich ebenfalls. „Ich gehe nach der Pause wieder in den Unterricht."
Ich hatte nicht vor Katja den Gefallen zu tun und mich vor ihr zu verstecken. Dazu hatte ich keinen Grund.
*
„Tommy!"
Hannah und Zahid stürzten mir entgegen, als sie mich auf der anderen Seite des Flurs entdeckten.
„Was ... war denn nur los?", zischte Hannah im Flüsterton. „Katja hat überall rumerzählt, du hättest sie angegriffen!"
„Na ja ... ein bisschen stimmt das wohl", gab ich unwillig zu und Hannahs Gesichtszüge wurden sehr ernst. „Was ist passiert?"
Ich gab ihr die Kurzfassung. Nur die Sache mit Kilians Ex verschwieg ich bewusst, wahrscheinlich, weil ich nicht zugeben wollte, dass auch etwas Eifersucht im Spiel war.
„Es war ... einfach zu viel für mich heute Morgen. Aber laut Frau Eva bin ich aus dem Schneider. Der Lehrkörper nimmt ihr die Unschuldsnummer nicht ab, da fällt ihre jahrelange Mobbingkarriere wohl zum ersten Mal positiv auf uns zurück."
„Trotzdem ... ein drohender Schulverweis ist aktuell nicht unser größtes Problem. Vince wird sicherlich ..." „Er kann es ja versuchen", unterbrach ich sie unbeeindruckt.
„Tommy ... was ist denn heute los mit dir?"
„Nichts. Ich habe nur einfach keinen Bock mehr mir alles gefallen zu lassen. Was sollen sie auch tun? Mir weitere Gemeinheiten an den Kopf werfen? Die Ellbogen ausfahren? Das machen sie doch sowieso."
Woraufhin Hannah schwieg und ich meinte: „Entschuldigt mich, ich muss kurz schiffen."
Was nicht stimmte, ich wollte nur einen Moment für mich. Trotzdem lief ich Richtung Toiletten und auf den Weg dorthin, sah ich Kilian, der sich ausgerechnet in diesem Augenblick mit Felice unterhielt. Seit der Trennung hatte ich sie nicht mehr zusammen gesehen und jetzt redeten sie plötzlich wieder miteinander?
Ganz kurz trafen sich unsere Augen und die hässliche Wahrheit hing wie ein Damoklesschwert zwischen uns. Natürlich war er auf ihrer Seite, wie sollte es auch anderes sein?
Ich riss den Blick los und ging weiter.
***
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