14. Konsequenzen
Kilian zeigte erst am späten Vormittag schwache Anzeichen des Erwachens.
Ich saß mit einer Tasse Tee im Sessel gegenüber und sah ihm dabei zu.
„Guten Morgen."
„Mh ... morgen?", wiederholte er schläfrig. „Wieso morgen?"
„Na ja ... es ist fast elf. Wäre etwas verfrüht für einen Mittagsgruß."
Ruckartig fuhr Kilian hoch und starrte mich entsetzt an. „Was? Wie spät ist es, hast du gesagt?!"
„Elf."
„Scheiße! Wo ist mein Handy?!"
Er beugte sich runter, um in seinen Klamotten danach zu wühlen.
„Es liegt genau da, auf dem Couchtisch", teilte ich ihm ruhig mit und er griff hastig danach. „Fuck! Nein verdammt, Emma ist schon auf hundertachtzig ... Warum musste das passieren?! Ich kann mir für heute Abend keinen Hausarrest leisten! Katja killt mich ..."
„So schlimm?", fragte ich unschuldig und nippte an der Teetasse. „Sorry, war wohl meine Schuld. Ich hab dich gestern darum gebeten, noch etwas länger zu bleiben. Wir müssen dann wohl weggepennt sein, ich bin auch erst vor ein paar Minuten aufgewacht. Wenn du willst, bestätige ich das Emma gegenüber."
„So leicht läuft das bei meiner Mutter leider nicht", erwiderte er seufzend und raufte sich die vom Schlaf zerwühlten Haare. „Mist ... wie erkläre ich das nur Katja ..."
War das wirklich alles, woran er am Morgen danach dachte? Wir hatten immerhin ein paar Stunden zuvor eine ziemlich heiße Nummer geschoben und sein einziger Gedanke galt diesem Miststück. Wäre sie an seiner Stelle mit Bill zusammen, würde sie mit Sicherheit keinen Gedanken an ihn verschwenden. Warum checkte er das nur nicht?
Frustriert begann ich die nur noch lauwarme Tasse zwischen meinen Fingern zu drehen.
„Sorry, kannst du mich ganz kurz allein lassen?"
Die Tasse in meinen Händen kam zum Stillstand. „Was?"
„Nur ganz kurz. Ich muss meine Mutter anrufen und es wäre irgendwie peinlich, wenn du gleich mitkriegst, wie sie mich übelst zusammenstaucht ..."
„Klar", erwiderte ich betont neutral und tat als würde ich in die angrenzende Küche schlendern. In Wahrheit lehnte ich mich aber an das kurze Stück Dschungeltapete neben der Wohnzimmertür und lauschte aufmerksam.
Emma war tatsächlich auf hundertachtzig und schnauzte ihn lautstark zusammen. Für mich eher unbekanntes Terrain. Meine Mutter schrie mich so gut wie nie an. Sie war vom Typ her eher ruhiger und wollte Dinge lieber ausdiskutieren. Sie vertraute mir sehr und manchmal bekam ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich dieses Vertrauen hin und wieder auch zu meinen Gunsten missbrauchte. Aber ich war nun mal ein Teenager, der fast jedes Wochenende sturmfrei hatte und kein Heiliger.
„Darf ich vielleicht auch mal etwas dazu sagen?", fragte Kilian sie irgendwann etwas kleinlaut. „Es erklären? Es war keine Absicht, ich ... Nein, ich hab dich nicht weggedrückt, verdammt! Warum sollte ich sowas Bescheuertes denn tun?! Hältst du mich für lebensmüde? Nein, ich war nicht betrunken. Nein, Ma, bitte nicht ... Ich muss unbedingt heute Abend ... Doch, es ist wichtig! Scheiße, immer hackst du auf meinen Freunden rum?!"
Richtig so, Emma, dachte ich befriedigt und trank einen weiteren Schluck Kamillentee.
„Doch, genauso ist es, du behandelst sie immer unfair!"
Mhm ... armer Vince und unschuldige Katja, die wirklichen Opfer in dieser Geschichte, schon klar, durchfuhr es mich angeekelt. Wenn ich nicht so krankhaft vernarrt in ihn wäre, könnte ich ihn für solch selten dämliche Aussagen echt eine reinhauen.
Nach weiteren zehn Minuten war der Streit vorüber und im Wohnzimmer kehrte Ruhe ein. Ich gab ihm noch zwei Minuten Schonfrist und schmiegte mich dann an den Türrahmen. Er saß immer noch mit gerauften Haaren da und blickte finster auf sein Handy hinab.
„Tut mir leid", murmelte ich von meinem Standort aus.
„Es ist immer das Gleiche", murrte Kilian verstimmt und ließ endlich von seinen Haaren ab, die ihm nun ziemlich wild vom Kopf abstanden und mein Herz einen Takt schneller schlagen ließen.
„Sie hatte von Anfang an schon was gegen sie und ich weiß echt nicht, woher diese Abneigung kommt ..."
Mir würde da auf Anhieb einiges einfallen - eine sehr lange Liste ihrer Verfehlungen, doch ich verkniff mir jeglichen Kommentar. Aber erwartete er nun ausgerechnet von mir, dass ich diese Arschlocher auch noch in Schutz nahm? Ernsthaft?
Scheinbar, denn als sich mein Schweigen in die Länge zog, ließ er etwas enttäuscht den Blick sinken. „Ich sollte jetzt los, damit sie sich nochmal an mir abreagieren kann und dann vielleicht irgendwann Gnade zeigt", seufzte er schwer. „So ist das, wenn man eine kontrollsüchtige Kommunistin als Mutter hat. Die gönnt einem rein gar nichts. Du kannst dich glücklich schätzen, dass deine Mutter so viel unterwegs ist und du dadurch so viele Freiheiten genießt."
Wow. Mir war klar, dass er wütend war und seine Worte nicht richtig durchdachte, aber wie unsensibel konnte ein Mensch eigentlich sein? Konnte er sich nicht denken, dass es vermutlich gar nicht so lustig war, mit gerade einmal achtzehn sein ganzes Leben mehr oder weniger alleine zu managen? Empathie war wirklich nicht seine Stärke.
„Ich mag Emma", sagte ich schließlich, um mein Schweigen zu brechen. „Sie ist unglaublich nett."
„Woher willst du das denn wissen?", hält er mir ein bisschen bockig vor. „Hast du überhaupt schon mal wirklich länger mit meiner Mutter geredet?"
„Nicht direkt, aber man sieht es in der Art, wie sie ihre Mitmenschen behandelt."
Als meine Mutter an den ersten Elternabenden in der Schule echte Probleme hatte überhaupt irgendwas zu verstehen, weil das deutsche Schulsystem einfach scheiße war, hatte Emma sofort und ohne große Nachfrage für sie alles nochmals ins Englische übersetzt. Eigentlich müsste doch etwas von dieser Güte in Kilian schlummern, aber dieser zeigte sich im Moment völlig unbeeindruckt. „Wenn du meinst ..."
Er beugte sich runter und tastete nach seinem rotem Sweatshirt. Wahrscheinlich sollte ich ihn nicht ganz so unverhohlen dabei beobachteten, wie er sich anzog. Im Schritt meiner Jogginghose wurde es eng.
„Also dann ..." Er griff nach einer der am Sofa lehnenden Krücken.
„Bereust du es?", entschlüpfte es mir unbeabsichtigt und er drehte sich überrascht zu mir um. „Das du gekommen bist."
Kurz wirkte er etwas irritiert, dann zuckte amüsiert sein Mundwinkel. „Zu deiner kleinen Party oder später auf dem Sofa?"
„Beides", erwiderte ich vollkommen ernst.
Das Zucken erstarb augenblicklich und sein Blick wurde sofort viel wärmer.
„Natürlich nicht", antwortete er ebenso ernst. „Ich bin gern mit dir zusammen, Tommy. Wirklich gern. Und meine schlechte Laune hat überhaupt nichts mit dir zu tun. Ich bin nur sauer auf mich selbst, weil ich es verkackt habe den letzten Bus zu erwischen. Und weil mir meine Freunde Montag die Hölle heiß machen werden, wenn ich heute Abend nicht auftauche. Und weil Emma immer übertreibt", betonte er nochmals bitter.
„Ich bin mir sicher, deine Freunde werden es dir verzeihen", meinte ich unglücklich. „Du versetzt sie ja nicht absichtlich."
„Na ja ... bei deinen Freunden ist das sicher keine große Sache, aber bei uns läuft das ein bisschen anders."
Tja, weil meine Freunde eben keine mobbenden Arschlöcher sind ...
„Und an jedem anderen Abend, wäre es vielleicht gar nicht so dramatisch. Aber wir wollten endlich die Sache mit Bill in Ordnung bringen und ... uns aussprechen. Das ist Katja ziemlich wichtig, verstehst du? Es nagt an ihr, dass wir ihren Freund nicht leiden können."
Dann hätte er sich vielleicht auf Monas Geburtstagsfeier nicht als frauenverachtendes, queerfeindliches Arschloch präsentieren sollen ...
„Ich weiß, was du jetzt denkst", murmelte Kilian und holte tief Luft. „Aber laut Katja war er an dem Abend echt nervös uns alle auf einmal kennenzulernen und hat deshalb schon einiges davor runtergekippt und ..."
Meine Kehle trocknete aus und ein dicker Kloß manifestierte sich darin. Was ist nur los mit ihm? Wie kann er ihn nur verteidigen? Was ist das für eine abgedrehte Logik? Wer seine beste Freundin fickt, bekommt einen Freischein für alles?!
„Soll ich dich noch zur Bushaltestelle begleiten?", unterbrach ich ihn, weil ich es nicht länger ertragen konnte.
„Nicht nötig. Aber wegen der Stufen ..."
„Klar", sagte ich und folgte ihm hinaus in den Hausflur, wo ich ihn hochhob und die wenigen Stufen runtertrug, seinen leisen Einwand ignorierend, dass er reichen würde, ihn zu stützen. Doch dann, auf der letzten Stufe, wurde mir plötzlich schwarz vor Augen und er entglitt mir fast. Irgendwie schaffte ich es dennoch, nicht in die Ohnmacht zu gleiten und unseren Fall zu verhindern.
„Fuck", murmelte Kilian und sah mich erschrocken an. „Alles okay?!"
„Ja, sorry, mir war nur kurz schwindlig ..."
Vorsichtig setzte ich ihn ab und lächelte ihn entschuldigend an. Doch ich konnte ihm ansehen, dass er mehr dahinter vermutete. Danke Hannah.
„Wann hast du zum letzten Mal etwas gegessen, Tommy?"
„Es geht mir gut. Ich bin nur verkatert, okay?"
Er durchlöcherte mich unbeeindruckt weiter mit diesem anklagenden Blick. Als ob es in meiner Verantwortung lag, genug zu essen, um nicht umzukippen.
„Wir sehen uns dann wahrscheinlich Montag?"
Ich versuchte eine möglichst neutrale Miene aufzusetzen.
„Bitte iss etwas", ließ er einfach nicht locker und sank in den Rollstuhl hinab. Wortlos hielt ich ihm die Tür auf und er löste die Bremsen. Meine Finger am Holz verkrampften, aber ich zwang mich weiter den Schein zu wahren. „Komm gut nach Hause."
„Ich meine das ernst. Wie dringend braucht dein Körper denn Nährstoffe, wenn er schon so verzweifelt darum bettelt?"
„Es geht mir gut", wiederholte ich diesmal deutlich eisiger und drückte im nächsten Moment die Tür hinter ihm zu, bevor er noch mehr sagen konnte. Meine Hände zitterten immer noch wie verrückt.
Wahrscheinlich war ich einfach nur richtig enttäuscht. Weil ein Teil von mir stillheimlich gehofft hatte, dieser Morgen würde ganz anders verlaufen. Dass er zwar nicht gerade begeistert, aber wesentlich entspannter auf den drohenden Hausarrest reagieren würde. Das ihm die Zeit mit mir wichtiger wäre und er dafür jeden Ärger auf sich nehmen würde.
„Tommy?"
Ein freudiges Bellen ertönte und kurz darauf wuselte Oliver aufgedreht zwischen meinen Beinen umher, doch ich beachtete den Kleinen nicht.
„Tommy, ist alles oki bei dir?", fragte Gina und berührte mich sanft an der Schulter. Ich könnte ihre langen Gelnägel durch den dünnen Stoff meines Shirts spüren.
„Ja, alles super", behauptete ich wenig überzeugend und starrte weiterhin wie betäubt auf die geschlossene Eingangstür.
„Okay ... aber da ich dich gerade sehe, würdest du vielleicht ..."
„Sorry Gina", schmetterte ich ab, bevor sie ihren benötigten Gefallen überhaupt ganz aussprechen kann. „Ist ein richtig schlechter Zeitpunkt, um mich um irgendwas zu bitten."
Damit ließ ich sie und die Fellnase stehen und ging geschwächt zurück in die Wohnung, um mir ein Glas Wasser einzuschenken.
***
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro