11. Gute Vorsätze
Am nächsten Tag in der Schule, hatte ich mir fest vorgenommen, kein Arschloch mehr zu sein.
Kann ja nicht so unfassbar schwer sein ...
Allerdings, wenn man nicht genau wusste was einen eigentlich in den Augen der anderen zum Arschloch machte, war es das irgendwie doch. Also nahm ich mir vor einfach zu jedem besonders nett zu sein.
„Guten Morgen Zahid", sagte ich deshalb, als ich unser noch verschlossenes Deutschklassenzimmer erreichte und ihn dort allein sitzen sah, wie üblich an seinem Ordner rum kritzelnd. Meine Mutter hatte darauf bestanden mich zu fahren, weshalb ich nun schon vor halb acht in der Schule war, damit sie es ja rechtzeitig zu ihrem Morgenmeeting schaffte.
Erst reagierte er gar nicht und krakelte einfach weiter.
„Wie war dein Wochenende denn so?"
Ich fragte mich, ob Tommy ihm und Hannah von unserem Fick erzählt hatte. Es war ein wenig peinlich, aber eigentlich bezweifelte ich es. Hannah vielleicht, aber Zahid? Er wirkte überhaupt nicht wie der Typ, der sich für das Sexleben anderer interessierte, sondern eher wie jemand, der an Freitagabenden bei Zeichentrickpornos Hand an sich legte.
Shit, nett zu sein war doch schwieriger als gedacht.
„Redest du mit mir?", fragte er schließlich sehr ernst und schob seine beim Zeichnen runtergerutschte Brille den Nasenrücken hoch.
„Klar, ist doch sonst keiner da."
Er blickte sich um, weil er es scheinbar gar nicht fassen konnte. Okay, ja, ich hatte in der Vergangenheit nicht viel mit ihm geplaudert, aber wirklich ignoriert hatte ich ihn auch nicht. Wenn überhaupt, war es eher umgekehrt.
„Also? Wie war's?", ließ ich erstmal nicht locker und versuchte besonders nett zu lächeln, meine Wangenmuskeln verkrampften.
„Ganz okay, schätze ich."
Wow. Das war's? Mehr hatte er nicht zu erzählen?
„Und ähm, was zeichnest du da?"
„Den Prototyp einer intergalaktische Alienrasse namens Hyu-Ran."
„Noch nie gehört."
„Na ja, bin noch dabei sie zu erfinden."
„Okay cool."
Bevor ich noch mehr sagen konnte, trällerte eine lebhafte Stimme meinen Namen: „Kiiiiliiiaaan!"
Mona kam angeschossen und warf sich mir freudestrahlend um den Hals, wobei der Inhalt ihres Thermobechers bedrohlich umherschwappte. „Du bist ja früh dran! Hast du denn heute fälligen Aufsatz auch nicht fertiggekriegt?"
„Doch schon."
Ich hatte bis ein Uhr morgen ziemlich lustlos daran gearbeitet und am Ende einfach irgendwas geschrieben, um die Seitenzahl vollzukriegen.
„Shit, dann bin ich gleich die Einzige, die so richtig am Arsch ist?", fragte sie theatralisch und kramte ihren Block hervor. „Wie war dein Wochenende! Erzähl! Du musst mich ablenken, während ich schreibe!"
„Wirklich? Ist das nicht eher kontraproduktiv?"
„Oh wir beide wissen, dass es ohnehin keinen Unterschied machen wird. Aber egal, ich flirte einfach ein bisschen mit unserem werten Herrn Carlson und damit lässt er mich schon nicht durchfallen."
Eklig, der Typ war bestimmt schon an die sechzig.
„Kaffee?"
Sie hielt mir großmütig ihren Becher hin und ich nahm einen Schluck.
„Du siehst fertig aus, alles okay?"
„Hm ... ja. Ich war Samstag feiern, deshalb vielleicht", erzählte ich ihr abwesend.
„Wirklich? Wo?"
„Im Studentenwohnheim."
„Mit wem?"
Die Frage erwischte mich kalt. Ich wollte sie nicht anlügen, war mir aber unsicher, ob es für Tommy okay wäre ihr die Wahrheit zu sagen und wir hatten uns ja eben erst wieder einigermaßen vertragen.
„Äh ... ich war mit Niklas da", improvisierte ich deshalb.
„Echt? Du warst ja noch nie mit ihm feiern ... oder? Aber mega, nächstes Mal musst du uns gefälligst mitnehmen. Da waren bestimmt ne Menge süßer Typen."
Das mochte ich an Mona, sie verlor sich nie so sehr im Detail und schluckte jede noch so dämliche Lüge brav. Vermutlich ist sie die Einzige unter meinen Freunden, die niemals log. Die gar nicht erst auf die Idee kam, es zu tun. Deswegen konnte man ihr auch nie lange böse sein, wenn sie mal einen wunden Punkt traf oder einfach ungefiltert aussprach, was ihr gerade durch den Kopf spukte.
„Für dich oder für Katta?", fragte ich schmunzelnd.
„Für dich. Außerdem ist Bill gar kein so schlechter Kerl. Katta meinte, er hätte aktuell nur sehr viel Stress und war deshalb ein wenig angespannt. Außerdem hat dieser Lockenschopf ihn eindeutig provoziert."
„Weil er geatmet hat?", fragte ich genervt. „Er war doch derjenige, der sie grundlos mit Bier bespritzt hat - jeder wäre da pissig geworden."
„Aber er hätte ihm nicht gleich eine verpassen müssen", behaarte Mona.
„Denkst du Vince hätte anders reagiert? Er war selbst schuld und hätte sich zumindest entschuldigen müssen."
Der Stift zwischen ihren kunstvoll gestalteten Fingernägeln schwebte einen Augenblick bewegungslos über dem linierten Papier. „Warte ... bist du etwa auf seiner Seite? Wieso?"
„Hab ich doch eben gesagt, es war seine eigene Schuld, warum sollte ich also Mitleid mit ihm haben? Kattas Freund zu sein ist keine Entschuldung für so ein beschissenes Verhalten."
Sie schwieg eine Weile und schrieb ihren angefangenen Satz zu Ende. Dann meinte sie deutlich leiser: „Erwähn sowas lieber nicht vor ihr. Sie ist da aktuell ziemlich empfindlich."
„Ich versteh' nicht, was sie von diesem Kerl eigentlich will. Okay, er sieht vermutlich ganz gut aus, aber sein Charakter geht gar nicht ... Du kannst mir doch nicht ernsthaft erzählen, dass du ihn sympathisch fandest? Er hat dich als Schlampe bezeichnet."
„Es ist völlig egal, wie ich ihn finde; sie will mit ihm Zusammensein. Und sie ist meine beste Freundin seit der fünften Klasse, also mag ich ihn halt, ob es mir gefällt oder nicht. Glaubst du vielleicht, alle mögen Vince? Meine Eltern hassen ihn regelrecht."
„Was? Das hast du nie erzählt ...", entschlüpfte es mir bestürzt.
Sie zuckte nur mit den Schultern und arbeitete weiter. „Er ist nun mal kein tolles Elternmaterial wie Felice war. Und meine Eltern sind auch nicht so cool wie deine. Die denken, er wäre ein schlechter Einfluss."
Nun, um fair zu sein, Vince ist vermutlich kein guter Einfluss für irgendwen. Aber er liebte Mona aufrichtig. Zumindest meistens.
Dann trudelten noch einige weitere Mitschüler ein, was eine private Unterhaltung schlichtweg unmöglich machte. Also gab ich auf und quatsche mit einigen anderen - die im Gegensatz zu Zahid, sich ehrlich darüber zu freuen schienen und erpicht los plapperten. Es war ermüdend zuzuhören, aber ich gab mir Mühe keine allzu gelangweilte Miene aufzusetzen und immer ermutigend weiter zulächeln.
Als Hannah sich mir gegenüber zu Zahid setzte, wurde mein neuer Vorsatz auf eine harte Probe gestellt. Sie gab sich keinerlei Mühe ihre ungeheure Abneigung zu verbergen und starrte mich finster an.
Auch wenn ich jeden grüßen wollte, ließ ich es bei Hannah bleiben. Insgeheim war ich auch immer noch ein wenig sauer.
Katja und Vince kamen kurz vor knapp, als das Klassenzimmer schon aufgesperrt war. Unser Deutschlehrer, Herr Carlson schrieb schon etwas Unleserliches an die Tafel. Vince zwinkerte mir aufmunternd zu und warf seinen Rucksack auf den Tisch neben meinen. Er roch nach Nikotin.
Katja setzte sich, ohne ein Wort zu sagen auf die andere Seite. Ich sah sie mit erhobener Braue an und murmelte: „Redest du immer noch nicht mit uns?"
„Ich war das ganze Wochenende bei Bill", ignorierte sie meine Frage einfach. „Und hab ihm erklärt, dass ihr sonst nicht so arschig seid."
„Sind wir nicht?", wandte ich mich fragend an Vince, der sein typisch provokantes Grinsen aufgesetzt hatte.
„Es ist nicht besonders nett, deinen Freund diesbezüglich anzulügen", stieg Vince sofort drauf ein und seufzte schwer. „Du musst schon dazu stehen, mit was für Idioten du gerne rumhängst, Katta ..."
„Fickt euch doch beide genüsslich ins Knie", knurrte sie im Angriffsmodus, doch in diesen Moment kam Tommy in allerletzter Sekunde ins Klassenzimmer gehuscht und setzte sich neben Hannah - so schnell, dass ich keine Gelegenheit bekam, ihn anzusprechen.
Und dann klingelte es und Herr Carlson begann von seinen eigenen Worten gelangweilt den Unterricht.
Die ganze Doppelstunde hindurch betrachtete ich seine schmale Rückansicht, besonders das kleine Stück heller Haut zwischen dunklem Haar und dunkelgrauen Sweater, auf dem sich ein kleiner Leberfleck befand, den man nur sah, wenn er sich vorbeugte.
„Verrät's du mir mal, was du heute so faszinierend an Schweinchen Babe findest?", fragte Katja, als es zum Stundenende klingelte und das Trio wie üblich als erstes hinausdrängte.
„Nenn ihn nicht so", entgegnete ich ungewohnt kalt, ohne es wirklich beabsichtigt zu haben. Ich wollte netter zu den anderen sein, nicht unbarmherziger zu meinen Freunden. Aber dieser bescheuerter Spitzname war auf einmal wie ein rotes Tuch für mich.
„Was hast du denn? Verstehst du plötzlich keinen Spaß mehr?"
„Daran ist überhaupt nichts witzig."
Katja rollte mit den Augen, während sie ihre Sachen in eine schon überquellende Tasche stopfte. „Seit wann interessiert dich wie ich ihn betitle? Außerdem - vorletzte Woche hast du selbst noch darüber gelacht."
„Aber jetzt lache ich nicht mehr darüber", gab ich genervt zurück und schnappte mir meine Krücken. Da ich ohnehin nur langsam vorankam, hatten die anderen einen Freischein zum Trödeln. Mona stand schon wartend an der Tür und sah mich warnend an.
„Also lass es einfach sein, okay? Dieser Witz ist sowieso total dämlich." Damit tapste ich los und Mona hielt mir hilfsbereit die Tür auf.
„Was ist denn heute mit dem los?", hörte ich sie hinter mir an Vince gewandt fragen, der die ganze Zeit nichts gesagt hatte und nur geschäftig auf seinem Bildschirm scrollte.
Bis zur Mittagspause lief alles seinen gewohnten Gang. Katja war immer noch zickig, aber ich blendete sie gekonnt aus und hörte stattdessen Vince zu, der begeistert von einem neuen Videospiel schwafelte.
Irgendwie ergab sich weiterhin keine Situation, um Tommy anzusprechen und so langsam wuchs in mir der Verdacht, dass das womöglich Absicht war. Er ging mir doch eindeutig aus dem Weg ...
„Was ist denn heute bloß los mit dir?!", hakte Katja nochmal nach, als wir uns in der gewohnten Ecke zum Rauchen zurückgezogen hatten. Eigentlich rauchte nur Vince, aber der genug für uns alle vier. „Du bist sogar noch abweisender als sonst ... Und ganz ehrlich? Ich dachte nicht, dass es dafür noch ne Steigerung gibt."
„Mit mir ist überhaupt nichts los", erwiderte ich super pissig.
„Versuch's nochmal abzustreiten, das war grauenhaft."
„Du willst also wissen, warum ich pissig bin? Schön. Ich ertrag' deine Selbstgefälligkeit nicht mehr."
„Kilian", schaltete sich Mona mahnend ein, doch es war mir egal. „Du lässt dich von irgend so nem Kerl aufreißen, der aussieht, als könnte er nicht einmal seinen eigenen Namen buchstabieren und erwartest dann, dass wir freudig applaudieren?!"
„Du bist wegen Bill sauer? Wieso? Was genau hat er dir getan?!"
„Er hat mehr als genug getan. Also tu mir den Gefallen und versuch gar nicht erst ihn nochmal anzuschleppen."
Einen Augenblick sah mich meine beste Freundin voller Wut und Verletztheit an, dann stieß sie sich wortlos mit der Turnschuhsohle vom Schulgebäude ab und ging.
„Katta!", rief Mona aufgebracht und rannte ihr hinterher. „Katta, bitte warte doch!"
Mona hielt sie am Arm fest, aber Katja riss sich sofort los und sagte irgendwas zu ihr, was ich von meinem Standpunkt aus nicht verstehen konnte. Danach blieb Mona überfordert stehen und sah ihr stumm nach, wie Katja von der Schülerschar verschluckt wurde.
„Sag es ruhig", verlangte ich. „Sag ruhig, dass ich kein Recht hatte sie deswegen anzufegen."
„Du hattest jedes Recht dazu; Bill ist ein dummer Wichser, zweifellos. Aber ich nehm dir nicht ab, dass du deswegen sauer bist ... hier geht es doch um was komplett anderes, oder? Also was ist eigentlich los?"
Ich schwieg eine Weile, teils um meine Gedanken zu ordnen, teils um meine Gefühle selbst zu verstehen.
„Es ist nur ... in letzter Zeit habe ich ziemlich oft - von unterschiedlichsten Parteien - gesagt bekommen, was für ein unglaubliches Arschloch ich sein kann. Und ich will nicht das andere mich so sehen - so bin ich nicht."
„Und gibt's da ne Person im Speziellen, die dich nicht länger als Arschloch wahrnehmen soll?", vermutete er argwöhnisch und zündete sich nochmal eine an, obwohl die Pause fast rum war.
„Ich bin es einfach leid, okay? Selbst meine eigene Mutter findet mich inzwischen manchmal zum Kotzen."
„Wir sind Teenager, Ki. Wir dürfen launisch sein und später alles auf die Pubertät schieben."
„Aber das ist keine Entschuldigung für alles", beharrte ich.
„Willst du mit ihm schlafen?", fragte Vince mich völlig aus dem Blauen heraus.
„Was?"
„Mit Tommy. Mona hat mir erzählt, dass er und dieser Sunnyboy wohl was am Laufen haben und nur, weil er schwul ist und möglicherweise brauchbares Fickmaterial für dich darstellt, sollen wir ihn jetzt mit Samthandschuhen anfassen?"
„Fick dich, Vince", sagte ich jetzt richtig angefressen, aber er lachte nur und ich humpelte allein ins Schulgebäude zurück.
War ich wirklich so sehr damit beschäftigt gewesen auf andere wütend zu sein, weil sie schlecht über meine Freunde sprachen, dass mir völlig entgangen war, dass diese Aussagen durchaus gerechtfertigt waren?!
In den letzten beiden Stunden hatten wir Sport, von dem ich logischerweise befreit worden war. Normalerweise humpelte ich aber trotzdem mit in die Halle, machte Hausaufgaben oder sah ihnen einfach beim Rundendrehen zu, damit ich nicht allein zur S-Bahn fahren musste.
Doch heute wüsste ich nicht, auf wen ich warten sollte. Katja und Vince wollten sich offensichtlich nicht von mir bekehren lassen und Mona würde sich nie gegen die beiden stellen.
Auf dem Jungenklo im Erdgeschoss, drehte ich den Hahn voll auf und hielt meine Hände eine Weile unters eiskalte Wasser, bis sie fast taub wurden und kein Gefühl zurückblieb. Eine Sache, die ich mir auf der Reha angewöhnt hatte; die Erfahrung war irgendwie beruhigend, ein Teil meines Körpers kurzzeitig zu verlieren und dann wiederzuerlangen.
„Was machst du da?"
Ich schreckte zusammen und drehte den Kopf in Richtung der Stimme. Tommy stand neben mir am Waschbecken und musterte mich eingehend. Er sah besser aus als gestern, aber die Schatten unter seinen Augen waren immer noch da.
„Man nennt es Händewaschen. Sollte dir eigentlich nicht fremd sein, oder? Ist eigentlich ganz normal nach jedem Toilettengang."
Das war immer ein kleiner Nachtteil bei gleichgeschlechtlichen Neigungen - man lief immer Gefahr, dass die Person die man mochte, einen am Pissoir erwischte oder schlimmer.
„Geht's dir auch wirklich gut?"
„Klar", behauptete ich wenig überzeugend und drehte den Hahn zu. „Wieso fragst du? Bist du gekommen, um auf der Toilette mit mir rumzumachen?"
Er sah mich nur weiter mit diesem unbestimmten Blick an.
„Oder hast du es dir inzwischen wieder anders überlegt und willst nichts mehr mit mir zu tun haben? Wäre nett, wenn du dich endlich entscheiden könntest - diese Dr. Jekyll und Mr. Hide Nummer nervt langsam."
Damit ließ ich ihn stehen, na ja würde ich, wenn ich nicht so dahinschleichen müsste ...
Deshalb benötigte er auch keine zwei Schritte, um mich einzuholen und mich zwischen sich und der Tür einzuklemmen. „Du bist gerade ziemlich unfair, weißt du? Ich versuche schon mein Möglichstes, um dich in keinen Gewissenskonflikt zu drängen."
Danke, ich kapierte es ja; egal was ich versuchte, es war immer das Falsche und ich verletzte andere mit meinem Verhalten, ob ich es nun wollte oder nicht. Tut mir leid, dass ich so schrecklich bin, aber niemand zwingt dich mit mir zu reden ...
Das alles sagte ich ihm aber nicht, sondern: „Was denn für ein Gewissenskonflikt?"
„Du sollst dich nicht gegen deine Freunde stellen müssen. Belassen wir es einfach wie es ist."
„Tja Pech, ich habe ihnen schon gesagt, wie scheiße ich ihr Verhalten euch gegenüber finde, also ..."
„Da hast was?", fragte er perplex und wich ein Stück zurück. In seinen dunklen Augen spiegelte sich blanke Panik. „Wie konntest du sowas Unüberlegtes machen?"
„Ich habe es mir sehr gut überlegt. Außerdem, genau darum ging es doch - dass ich nicht länger jeden dummen Spruch meiner Freunde tolerieren soll? Genau das machen mir doch alle zum Vorwurf!"
„Wann habe ich dich jemals darum geben, für mich einzustehen? Ich komme sehr gut allein zurecht und brauche dein Mitleid nicht."
„Ach ja? Deine Reaktion von Samstag sagt aber was völlig anderes ..."
Ich ging zu weit, merkte es an seiner Anspannung, wie er die Zähne zusammendrückte. „Und es passt auch nicht zu dem, was Hannah gesagt hat."
„Kilian, du verstehst es nicht, damit hilfst du mir kein bisschen. Ganz im Gegenteil ..."
„Und was soll ich dann tun?!", fragte ich wütend und umklammerte die Griffe meiner Krücken fester.
„Gar nichts."
„Gar nichts?! Ich soll es einfach ignorieren, wenn sie wieder so scheiße zu dir sind?!"
„Ja. Genau darum bitte ich dich. Ignoriere es. Darin hast du doch ohnehin jahrelange Übung, oder? Sollte dir also nicht so wahnsinnig schwerfallen."
Diese Worte taten richtig weh und ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Es abzustreiten wäre lächerlich gewesen, denn ich hatte weggesehen. Viel zu oft. Und es tat mir leid, auch wenn das niemanden zu kümmern schien; sie wollten nicht einmal, dass ich mich änderte. Es nicht einmal versuchte.
„Okay", sagte ich also einfach nur und er ging, ohne mich nochmal anzusehen.
*
An meinen besseren Tagen parkte ich meinen Rollstuhl in der Eingangshalle zwischen. Meine Physiotherapeutin wollte auch, dass ich meine Beine möglichst viel bewegte, damit die Muskeln nicht verkümmerten. Doch warum machte ich mir überhaupt die Mühe? Die Muskelschwäche konnte zeitweise wieder besser werden, aber nie mehr vollständig verschwinden. Ich würde immer auf Hilfsmittel angewiesen sein, an besseren Tagen nur für Langstrecken, an den schlechteren sogar für den Toilettengang.
Ich wusste natürlich, dass diese Gedanken nur meiner finsteren Stimmungslage geschuldet waren. In Wahrheit war es mir sehr wichtig, möglichst lange unabhängig und normal zu sein. Ein einigermaßen normales Leben zu haben, wie es Millionen anderer Achzehnjähriger führten.
Dieser beschissene Unfall hatte alles verändert; wäre er nie geschehen, wäre ich höchstwahrscheinlich noch mit Felice zusammen. Dann hätte ich nie mit Tommy geschlafen und mit ihm den besten Sex meines Lebens gehabt. Und ich würde hier nicht sitzen und mir Gedanken darübermachen, wie andere Menschen mich sahen. Ich wäre immer noch in meiner wundervoll behaglichen Bubble, in der ich lange Zeit sehr glücklich und zufrieden gewesen war - doch all das ist längst vorbei.
„Kilian ... was ... hast du Schmerzen?"
Ich hatte gar nicht gemerkt, wie mir angefangen hatten die Tränen runterzulaufen und war einen Moment richtig verwirrt von der Frage.
Hannah hatte neben mir angehalten, eine Tasche von der Schulter baumelnd und wirkte ziemlich unschlüssig; knabberte an ihrem Damennagel, genau wie früher. „Soll ich einen Lehrer holen?"
„Nein. Es ... geht schon wieder. Danke."
„Sicher?"
Ich nickte und wischte mir mit dem Ärmel übers Gesicht, doch die Tränen wollten nicht so einfach versiegen.
„Zahid hat mir vorhin in der Pause erzählt, dass du heute früh ein bisschen mit ihm geredet hast. Es hat ihn zwar echt überrascht, aber ich glaube, er fand's zur Abwechslung ganz nett."
„Ehrlich gesagt hatte ich nicht unbedingt den Eindruck, als würde er die Unterhaltung besonders genießen", erwiderte ich zweifelnd.
„Nun, er ist von Natur aus eher wortkarg und wusste glaube ich nicht so richtig, was er von deinem Sinneswandel halten sollte."
„Na wenigstens einem hat es gefallen."
Sie holte tief Luft und setzte sich zögernd auf die weiße Gitterbank neben dem Rollstuhl, ein Bein angezogen und das Kinn darauf abgestützt. „Tommy macht sich nur Sorgen; er fürchtet, dass sie es dir übelnehmen könnten und du auch was von ihrer Bösartigkeit abbekommst. Ich weiß, du glaubst das nicht", schob sie schnell nach, als ich bereits den Mund geöffnet hatte um dagegen zu protestieren, „aber du irrst dich wahrscheinlich. In ihrer Welt kann man nur für oder gegen sie sein. Und wenn du die in ihren Augen falsche Seite wählst, wird dein Schulgang fortan zur tagtäglichen Tortur. Und genau das will Tommy vermeiden, er findet, du hättest in diesem Jahr schon genug durchgemacht und ein winzig kleiner Teil von mir gibt ihm da sogar recht. Du bist kein abgrundtief schlechter Mensch, Ki. Keine Ahnung was genau passiert ist, vielleicht haben sie einfach deine Gedanken vergiftet. Jedenfalls ... auch wenn wir schon lange keine Freunde mehr sind, wünsche ich dir nicht zu deren Zielscheibe zu werden; das wünsche ich keinem."
„Ki!" Mona kam angerannt und blickte erschrocken in mein tränennasses Gesicht. „Was ...? Was zur Hölle hast du gemacht?!", fuhr sie ziemlich ungehalten Hannah an, die nun ihr Kinn vom Knie hob und eisig zurückstarrte. „Gar nichts. Ich hab ihn schon so gefunden und wollte ihn ein wenig trösten, mehr nicht."
„Tja, du kannst jetzt gerne verschwinden. Ich bleibe bei ihm."
„Schön", schnappte Hannah und stand genervt auf.
Sie ging und ich wünschte eine schmerzhafte Sekunde sie würde noch bleiben. Weil mir gerade wieder eingefallen war, wie sehr ich sie vermisste. Doch der Moment ging vorüber und ich konzentriere mich auf Mona, die beruhigend einen Arm um mich geschlungen hatte und mit der anderen Hand in ihrer Handtasche nach einem brauchbaren Taschentuch wühlte.
Zumindest in diesem Punkt irrten Tommy und Hannah sich; meine Freunde würden sich niemals einfach gegen mich wenden. Die eigentliche Frage lautete doch - würde ich es tun ...?
***
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