6. Das Glas ist halb voll
Ich warf den Trolley auf das französische Bett, das jetzt scheinbar mir gehörte, und knallte die Zimmertür mit Wucht zu. Aber als ich abschließen wollte, bemerkte ich, dass es keinen Schlüssel gab, und nirgendwo im Raum war einer zu finden.
Ich schloss die Augen und atmete ein paarmal tief ein und aus. Warum war ich so überemotional? Ich führte mich auf wie ein Kleinkind im Trotzalter!
Halbwegs ruhig ging ich zu den Fenstern hinüber, aber aus dem zweiten Stock zu springen war bestimmt keine erstklassige Idee. Vielleicht hatte ich sowas wie ein Seil um Zimmer.
Beim ersten Umsehen konnte ich keins entdecken, also schob ich erst mal das rechte Fenster auf und lehnte mich hinaus. Wenn ich mich hinausbeugte und nach rechts sah, konnte ich die Straße und den Lada sehen.
"Dean! Bobby!", zischte ich mit gesenkter Stimme über den Rasen, die im Motorengeräusch des Autos unterging.
Was sollte ich jetzt tun? Irgendwie musste ich hier raus kommen, ohne mir bei einem Sturz die Beine zu brechen.
Ein Räuspern riss mich aus meinen Überlegungen. Ich fuhr herum. In Türrahmen stand ein Typ in meinem Alter. Er hatte eine komische Maske an, so wie die von Hannibal Lecter, und nur ein weißes Handtuch um die Hüften geschlungen. Ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen.
"Was", brachte ich heraus und nahm den Kerzenleuchter, der auf dem Fensterbrett stand, wie einen Baseballschläger in die Hand. Warum hatte der Typ so eine Maske auf? Und was machte er in meinem Zimmer?
Wir starrten uns an, bis er sich die Maske vom Kopf zog und zu lachen anfing.
Ich sah ihn nur weiterhin verstört an.
Er hatte dunkelblondes, lockiges Haar und strahlend blaue Augen, Grübchen, und einen Oberkörper, der mich ein klein bisschen ablenkte. Und trotzdem... was hatte der in diesem Haus zu suchen?
"Meine Güte, du bist ja wirklich total durch den Wind", grinste er, als er sich beruhigt hatte. Er schloss die Tür hinter sich und setzte sich auf den Boden. "Was ist passiert?"
Ich umklammerte den Kerzenständer noch fester und ging zwei Schritte auf ihn zu. "Wer bist du?"
Seine Augenbrauen schossen nach oben, ich bemerkte, dass er sein Lachen kaum unterdrücken konnte. "Im Ernst?"
"Seh ich so aus, als würde ich es nicht ernst meinen?", drohte ich ihm angepisst (falls es überhaupt bedrohlich war, mit dem Kerzenhalter rumzuschwenken).
"Mann, Mary. Ich hab dir tausendmal gesagt, dass du auf dein Getränk aufpassen sollst! Ich bin dein Bruder, du Idiotin!"
"Äh...", machte ich geistreich. Dass meine Cousine plötzlich meine Schwester sein sollte, war schon seltsam genug, warum tauchte jetzt ein Bruder aus dem Nichts auf?
Ich ließ mich aufs Bett sinken und warf den Kerzenleuchtet neben mir hin. Einatmen, ausatmen. Leider hatte ich keine Ahnung, wie man Entspannungsyoga machte, auch wenn Eva das behauptete. "Okay... okayyy..."
"Was hast du mit deinem Gesicht gemacht?" Zum ersten Mal, seit er reingekommen war, grinste er nicht.
Unwillkürlich fasste ich hinein und zuckte zusammen, weil es trotz dem ganzen Zeugs, das die Jäger draufgetan hatten, brannte. "Lange Geschichte..."
Er sagte nichts mehr. Ich schielte hinüber, er sah mich ungläubig an.
Ich seufzte. "Na gut... machen wir einen Deal."
"Ich bin ganz Ohr", schmunzelte er.
"Ich erzähl dir, was mein Problem ist, und du hilfst mir hier raus. Vor dem Haus warten Freunde auf mich."
Er tat so, als müsste er nachdenken. "Okay."
Oh Shit, wo sollte ich anfangen, damit es nicht ganz abartig klang? "So ein Idiot hat mir nach der Party in den Hals gebissen. Und mich geschlagen. Meine Freunde mussten mich wegbringen und zusammenflicken, deswegen hat das so lange gedauert."
"Und warum riecht's hier dann nach Scheiße?"
Wow, der Typ war ja richtig nett... und auch noch so höflich! "Ähm. Tja, wir haben ein paar Abkürzungen genommen, weißt du."
Ich versuchte, seinen Blick zu halten ohne zu blinzeln. Schließlich, nach schier endlosem Anstarren, grinste er schief. "Du hast dein Lügengesicht auf. Ich weiß, dass du mir irgendwas verheimlichst."
Ich zuckte mit den Schultern. "Nein."
"Komm schon."
Zum ersten Mal erkannte ich, dass wir verwandt sein mussten, als er bockig das Kinn vorstreckte. Ich legte den Kopf in den Nacken und machte ein genervtes Geräusch, dann sah ich ihn wieder an. "Was willst du noch wissen?"
"Warum hat der Typ dich gebissen?"
"Mann, ähm, keine Ahnung... der hielt sich für 'nen Vampir oder sowas."
"Klar", lachte er. "Und wieso hast du mich mit deinem komischen Kerzenständer bedroht?"
"Hm, nur so..." Super, das würde er mir nie abkaufen... "Ich hab dir gesagt, was ich weiß. Also, hilfst du mir jetzt?"
"Eigentlich müsste ich das nicht, ich weiß genau, dass du noch was geheimhältst", antwortete er, während er aufstand. Dann verdrehte er die Augen. "Na gut, warte auf mich, ich hol ein Seil und lenk die anderen während du abhaust ab."
"Danke", lächelte ich und verkniff es mir, aufgeregt herumzuhüpfen.
Er verschwand für einige Minuten, aus dem Zimmer links von meinem waren laute Geräusche zu hören, als würde er es auseinandernehmen. Wahrscheinlich war bei ihm noch ein schlimmeres Chaos als bei mir. Dann kehrte er zurück. Mittlerweile hatte er -gottseidank, es war sehr, sehr seltsam, den Typen, der sich als mein Bruder ausgab, heiß zu finden -Jeans und T-Shirt an, über die Schulter hatte er ein schwarzes Bergsteigerseil gelegt.
"Gehst du klettern?"
"Und ich frag mich immer noch, was die dir eingeflöst haben. Ja, Schwesterherz, ich gehe klettern. Seit verdammt noch mal sieben Jahren."
Vielleicht sollte ich einfach aufhören zu reden.
Er knotete das Seilende an einem Bettpfosten fest und zerrte daran, um zu testen, wie gut es hielt. Daraufhin nickte er mir zu. "Es geht. Warte eine Minute, dann geh ich nach unten und mach irgendwas... ich denke, ich mache diese bescheuerte Saftpresse kaputt. Mums Karottensaft ist sowieso widerlich."
Ich grinste. "Danke."
"Kein Problem." Er ging hinaus ind ich zählte langsam bis sechzig. Dann schulterte ich den Trolley und kletterte halb aus dem Fenster. Vor mir ging es etwa fünf Meter nach unten und auf einmal befiel mich Panik.
Obwohl ich eigentlich keine Höhenangst hatte, im Gegenteil, ich ging oft und gerne klettern, schlug mir das Herz bis zum Hals. Wenn ich einen Moment lang unaufmerksam war, konnte ich mir alle Knochen brechen.
Also befestigte ich den Trolley am unteren Ende des Seils und ließ ihn vorsichtig hinunter, dann hielt ich mich daran fest und prallte gegen die Hausmauer.
Zentimeter für Zentimeter rutschte ich hinab, und ich hatte etwa die Hälfte geschafft, als mich die laute Stimme meiner Mutter aus dem Konzept brachte.
Erschrocken ließ ich los. Ich kam zwar mit beiden Füßen auf, knickte aber um. Stechender Schmerz schoss mir durch das linke Bein. Um nicht zu quietschten, biss ich mir in die Faust und hopste auf einem Bein im Kreis.
Allerdings kam ihre Stimme nicht aus dem Haus wie erhofft, sondern sie stand am Lada und brüllte sich die Seele aus dem Leib. So laut, dass sogar ein paar Nachbarn die Köpfe über die verdorrten Hecken streckten. Danke, Mum. Wieder mal ganz elegant.
"...glaubt ja nicht, dass ich nicht gesehen habe, was ihr mit meiner Tochter getan habt! Ihr seid keine Freunde von ihr, ich kenne all ihre Freunde! Wenn ihr nicht sofort abhaut, dann hole ich die Polizei! Und wenn ich euren Kidnapper-Wagen noch einmal in dieser Gegend sehe, dann seid ihr fällig, aber so was von!"
Jetzt hatte ich zwei Möglichkeiten. Die erste war, mich zu verziehen und später zum Motel zu fahren, in der Hoffnung, dass sie noch da waren. Oder ich konnte zu ihnen rennen, auf die Ladefläche springen und hoffen, dass die Klapperkiste schneller war als Mums Beatle.
Ohne lang zu überlegen riss ich den Trolley los und sprintete zum Auto. Ich warf den Koffer auf die Ladefläche und drehte mich zu meiner Mutter um.
"Mum, ich bin volljährig und kann selber entscheiden, was ich tue. Das sind tatsächlich meine Freunde und ich möchte, dass du sie in Ruhe lässt."
Sie sah mich wütend an. "Was willst du mit dem Koffer?"
"Was wohl?", stöhnte ich. Manchmal war sie richtig begriffsstutzig.
"Du haust jetzt nicht ab."
"Und wie!" Ich wandte mich um und wollte hinaufklettern.
Plötzlich schoss ihre Hand nach vorn und schloss sich um mrin Handgelenk, dann drehte sie mir den Arm auf den Rücken. Obwohl sie mir kaum bis zum Kinn reichte, hatte ich keine Chance. Sie war nicht nur Kickbox-, sondern auch Aikidotrainerin gewesen und ich hatte keine Ahnung davon. Meine Muskeln waren blockiert und ich schrie vor Schmerz und Zorn, während ich ihn die Knie ging.
"Haut ab", knurrte sie, aus dem Augenwinkel erkannte ich, wie sie auf ihrem Handy herumtippte. Sie machte nie leere Drohungen, sie rief gerade die Polizei.
"Los!", stimmte ich ihr zu. Nur wegen mir sollten die beiden nicht verhaftet werden. "Fahrt schon!"
Der Wagen raste davon, aber erst als er hinter der Straßenecke verschwunden war, ließ Mum mich los.
Schwer atmend kippte ich nach vorn, ich musste mich mit beiden Händen abstützen, um nicht einfach ins Gras zu fallen. Ich brauchte meine ganze Kraft, um nicht loszuheulen.
Die verpasste Gelegenheit war in den Hintergrund getreten, aber ich war unglaublich wütend. Vor Zorn begannen meine Augen zu tränen, aber ich hielt sie zurück.
Ich konnte hören, wie sich Mums Schritte entfernten, aber so wollte ich sie nicht wegkommen lassen. Als ich aufstand, glotzten mich ein halbes Dutzend älterer Leute schockiert an.
Ich ließ ein kurzes, verkrampftes Lächeln aufblitzen und winkte, dann rannte ich ins Haus. Es war so demütigend!
Um zu zeigen, dass ich da war, knallte ich die Tür so fest zu, dass die Fensterscheiben klirrten. Mein Dad würde mich dafür umbringen, aber in dem Moment war mir das egal.
"Mum!", rief ich so ruhig ich konnte, aber es kam keine Antwort. Ich machte die Augen zu und drückte mir mit den Fingernägeln der zusammengeballten Hände in die Unterarme, um nicht die Nerven zu verlieren. Ich wollte das hier einigermaßen würdevoll hinter mich bringen, denn wenn ich jetzt durchdrehte, würde ich nur noch eine Strafe bekommen.
"Michael!", schrie plötzlich meine Mutter. Ich folgte ihrem Gezeter in den oberen Stock. Sie war in der Küche, in der rechten Hand hielt sie das Seil, in der anderen ein komisches halbrundes Plastikteil. Vor ihr stand mein Bruder, etwas verwirrt, aber nicht allzu erschrocken.
Sie regte sich darüber auf, dass er mir nach draußen geholfen hatte. Na super. Nicht nur ich kriegte Ärger.
Ich tippte ihr auf die Schulter, aber sie hielt nicht inne. Dann schob ich mich in ihr Sichtfeld und als sie Luft holte, warf ich ein: "Warte einen Moment!"
Trotzdem redete sie weiter. Ruhig bleiben, einatmen, ausatmen. "Halt für eine Sekunde deine bescheuerte Klappe!", brüllte ich in ihren Redeschwall hinein. Ich war gut im Brüllen, es war ohrenzerfetzend. Sie hielt inne, aber ihre Miene zeigte, dass ich jetzt den Bogen mehr als überspannt hatte.
"Ich möchte einfach mal mit dir reden, Mum."
Mein Bruder verzog sich aus der Küche und schüttelte entschuldigend den Kopf, bevor die Tür zuknallte.
"Was hast du dir dabei gedacht? Du schwänzt die Schule, kommst gegen Abend wieder nachhause und willst auf einmal auf Weltreise gehen!", schrie sie weiter.
"Hör zu, Mum. Einer auf dieser Party hat mich geschlagen, wie du vielleiiicht sehen kannst, und ich war bis heute mittag bewusstlos. Meine Freunde haben sich um mich gekümmert. Und das wäre ja keine Weltreise geworden. Ich wäre vielleicht ein, zwei Wochen weg gewesen. Außerdem hätte ich einen Job gehabt", presste ich einigermaßen ruhig raus.
Sie lachte trocken. "Warum musst du auch auf so eine Party gehen!"
"Du hast es mir doch wohl erlaubt, oder?"
"Na gut. Keine Parties mehr, gar nichts mehr, die nächsten ein, zwei Wochen!"
"Darum geht es doch gar nicht!" Ich setzte mich auf einen der drei Barhocker, die rumstanden. "Warum kann ich nicht mal das tun, was ich will?"
Das war eine totale Übertreibung. Normalerweise hatte ich alle Freiheiten, die ich wollte. Normalerweise wurde ich aber auch nicht mit Judo-Tricks überwältigt und normalerweise wohnte ich auch nicht in den USA und hatte zwei Geschwister.
"Und deine Freunde habe ich mir schon abgeschaut", kreischte sie weiter, "die sind doch beide zwanzig Jahre älter als du, und die hatten Waffen! Bist du eigentlich total dumm?"
Sie war zu weit gegangen. Ich konnte meinen Zorn nicht länger zurückhalten. "In dem Fall wäre ich fünf, Mum. Sehe ich aus wie fünf?", das schaffte ich noch, normal zu sagen, aber dann platzte alles aus mir heraus. "Und zumindest bin ich nicht so dumm wie du! Wie kannst du es überhaupt wagen, meine Freunde anzugreifen! Meine Mutter würde das nie tun! Mir kommt vor, ich kenne dich überhaupt nicht mehr! Ganz ehrlich, in diese beiden, die ich gestern zum ersten Mal im realen Leben getroffen habe, setze ich mehr Vertrauen als in dich mit deinen bescheuerten kleinen Judotricks und deinem übersteigerten Selbstbewusstsein! Und außerdem würde meine Mutter mich nie schlagen, schon gar nicht mitten auf der Straße! Das ist unwürdig und am liebsten würde ich dein geliebtes Auto in Brand stecken, aber ich hab noch ein wenig Selbstbeherrschung. Aber stell mich nicht auf die Probe!"
Ich drängte mich an ihr vorbei und rannte in mein Zimmer. Sie würde mir wahrscheinlich nachkommen, deshalb schob ich alles vor die Tür, was ich nur dorthin schleppen konnte.
Dann ging ich zu den Fenstern und riss sie auf. Kühle Nachtluft strömte herein, aber die kühlte meine Wut auch nicht ab. Ich schaltete das Licht aus. Es war jetzt halbdunkel, nur der Vollmond schien herein. Ich lehnte mich aus dem Fenster und atmete tief durch. Mein Handgelenk tat immer noch weh.
Wütend rieb ich es mir. Einatmen, ausatmen, alles ist gut.
Okay, das funktionierte nicht. Dennoch machte ich weiter.
Nach einer Weile spürte ich etwas Nasses auf der Wange. Die ganzen zurückgehaltenen Tränen rannen mein Gesicht hinunter. Ich beobachtete, wie sie sich von meinem Kinn lösten und in den Garten hinuntertropften.
Schließlich begann ich zu schluchzen. Das war alles einfach viel zu viel.
Ich war mir jetzt sicher: diese Frau war nicht meine Mutter, meine echte Mum war zwar aufbrausend, aber nie gewalttätig, und sie wäre nie so besitzergreifend gewesen. Meine Mum regte sich über schlechte Noten auf, aber mit wem ich befreundet war, war meine Sache.
Wenn ich danach folgerte, konnte mein Dad auch nicht mein echter Dad und Eva nicht die ursprüngliche Eva sein. Meine Oma genauso, und was den Typen anging, der sich als mein Bruder ausgab... Das bedeutete, dass ich hier niemanden hatte, den ich wirklich kannte.
Waren Dean und Bobby auch nur Kopien oder war ich in einer Art Parallelwelt? Ich versuchte, mich an irgendwelche seltsamen Verhaltensweisen zu erinnern, aber mir fiel nichts ein. War jetzt auch egal, sie waren wahrscheinlich schon etliche Kilometer weit weg.
Warum hatte mich Castiel hierhergeschickt? Und wieso wartete hier eine Kopie meiner Familie auf mich? Als hätte er es geplant...
Und wieso wollte der Dämon gerade mich umbringen? Er schien noch versessener darauf gewesen zu sein, nachdem er mich erkannt hatte.
Naja... ich war in einer Parallelwelt gestrandet, was bedeutete, dass ich tatsächlich einem Engel begegnet war... und das hieß, dass ich tatsächlich Castiel geküsst hatte! Ich grinste in mich hinein und leckte mir eine Träne aus dem Mundwinkel. Jeder Situation konnte man was Positives abgewinnen.
Ich löste mich vom Fensterbrett und schaute auf mein Handy. Es war kurz vor neun, meinen missglückten Fluchtversuch hatte ich um halb acht begangen. Ich schob mich durch die Tür, die wegen dem ganzen Gerümpel nur einige Zentimeter weit aufging, und ging ins Bad.
Von unten konnte ich den Fernseher hören. Den nervtötenden Geräuschen zufolge schauten sie Ally McBeal.
Ich schaltete die Wärmelampe ein und breitete meinen Pygiama darunter aus. Dann drehte ich das Wasser auf, warf das Zeug, das ich trug, in die Wäsche und sprang unter die Dusche. Das heiße Wasser brannte auf der Haut und ich achtete darauf, nichts auf die Wunden zu kriegen.
Eine Viertelstunde später war ich fertig und sah mich nochmal im Spiegel an.
Das geschwollene linke Auge sah grauenvoll aus, und genauso fühlte es sich auch an. Ich tupfte etwas Salbe hinauf, dann lief ich zurück in mein Zimmer. Niemand ließ sich blicken, es war beinah, als wäre ich unter Quarantäne.
Nicht, dass mir das was ausgemacht hätte.
Gerade, als ich die Fensterläden schloss, hörte ich, wie ein Motorrad näher kam, es war laut, wahrscheinlich eine Motard. Es war wirklich eine, eine schwarz-silberne, wie ich mir immer eine gewünscht hatte. Leider war ich nie sparsam genug gewesen, um mir eine zu kaufen.
Sie hielt vor unserem Haus, als der Fahrer den Helm abnahm, erkannte ich meinen Möchtegern-Bruder Michael.
Noch etwas positives: Ich konnte sein cooles Motorrad klauen.
Ich machte die Fensterläden zu und auch die Fenster, ich war so todmüde, dass ich kaum noch die Augen offen halten konnte. Schnell schlüpfte ich ins Bett, das überraschend weich war, und schlummerte ein. Wie von weit weg konnte ich hören, wie meine Tür aufgemacht wurde und sich jemand an mein Bett setzte.
"Hey, Mary, wach kurz auf, ich hab was für dich", flüsterte Michael. Träge blinzelte ich.
"Was?", murmelte ich verschlafen.
"Einen Brief. Von Dean." Er drückte mir einen zusammengefalteten Zettel in die Hand.
Stirnrunzelnd stützte ich mich auf die Ellenbogen. "Wo hast du den her?"
"Ich hab ihn getroffen und gesagt, dass ich dein Bruder bin und dir was ausrichten kann."
Wow. Genau der Mensch, den ich gar nicht kannte, war am nettesten zu mir.
Ich musterte sein Gesicht im blauen Licht meiner Nachttischlampe, die er angeschaltet hatte. Erst jetzt erkannte ich die Ähnlichkeit. Er hatte dieselbe etwas schiefe Nase wie ich und genauso dicke, elegante Augenbrauen. Sein Haar hatte die gleiche Farbe und Konsistenz wie das von Eva.
"Danke."
Er lächelte. "Kein Problem. Aber wenn ich ehrlich bin, bin ich froh, dass es nicht geklappt hat. Wer würde mir sonst die Cornflakes immer klauen?"
Ich zwang mich zu einem Lachen, obwohl mir beinah die Tränen kamen. Ja, ich war definitiv überspannt. "Danke."
"Dann lass ich dich mal allein mit deinem Liebesbrief", grinste er und ging weg.
"Gute Nacht." Ich faltete das Blatt auf. Es war gelb, in der Ecke stand der Name des Motels.
Hey Mary.
Es tut mir leid, dass es nicht geklappt hat. Aber deine Mum hat uns bei der Polizei gemeldet und ich kann nicht riskieren, Zeit zu verlieren, Dad steckt in Schwierigkeiten.
Wenn wir mal wieder vorbeikommen, besuchen wir dich. Falls irgendwas passiert, ruf mich an: 1-866-907-3235
Dean
Wie blöd war ich eigentlich? Ich kannte seine Handynummer quasi auswendig (zu der Zeit als ich die Folge gesehen hatte, hatte ich einen kleinen Tick mit Zahlen)! Egal. So oder so hatte ich die Nummer, ich hatte also nicht meine Chance verspielt. Ha!
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