9 | Mitleid
• Vance Joy - Fire And The Flood •
»Ich kann es immer noch nicht fassen, Eve. Du bist so... so... Argh! Mir fällt einfach kein passendes Wort ein! Elliot, hilf mir mal!«
»Dumm?«
Mira rammt Elliot ihren Ellenbogen in die Seite, der sich daraufhin stöhnend krümmt. »Scheiße, du hast doch dasselbe gedacht! Jetzt tu bloß nicht so!«
Ich lache, gerade als Mira erneut ausholt. Sie hält inne. Beide sehen mich verwirrt an, aber ich zucke nur mit den Schultern und sage: »Elliot hat recht. Ich bin dumm.« Es stimmt und ich weiß es.
Mira sieht mich bemitleidend an. »Wieso hast dann eingelenkt und ihm verziehen, wenn du es weißt?« Sie legt einen Arm um mich. »Du hättest ihm zwischen die Beine treten und abhauen sollen.«
»Ich schätze, ich wollte ihm noch eine letzte Chance geben.«
Elliot zieht ein Buch aus dem Regal und schnaubt. Ohne von dem Buch in seinen Händen aufzuschauen, murmelt er: »Die wievielte letzte Chance ist das inzwischen?«
Ich weiß, dass er recht hat und obwohl ich es nicht will, erwische ich mich bei dem Versuch, trotzdem eine Entschuldigung für meine Entscheidung zu finden. »Er war meine erste Liebe. Ich schätze, es fällt mir schwer, das alles einfach wegzuwerfen.«
»Deine erste«, betont Mira und steckt mir mit einem aufmunternden Lächeln eine Strähne hinters Ohr. Ihre haselnussbraunen Augen strahlen Mitleid aber auch etwas Verständnis aus. »Er ist deine erste Liebe. Das bedeutet nicht, dass er auch deine einzige und schon gar nicht deine letzte sein muss.«
Ich senke den Blick.
Elliot seufzt. »Mira hat recht. Willst du wissen, was ich glaube?« Als ich unsicher nicke, fährt er fort: »Du bist gar nicht in ihn verliebt. Jedenfalls nicht mehr. Viel mehr bist du in die Idee von ihm verliebt.« Ich runzele verwirrt die Stirn. Elliot tritt näher an Mira und mich und flüstert, da manche um uns herum bereits wütend von ihren Tischen und Lernunterlagen aufblicken. »Du hast dieses Bild im Kopf. Dieses Bild von einer perfekten Beziehung. Dieses Bild von Rhys. Von Rhys und dir. Aber du verdrängst, dass das Bild in deinem Kopf nicht mit der reellen Beziehung übereinstimmt. Du willst es dir nicht eingestehen, weil du Angst davor hast, Schluss mit ihm zu machen. Davor, alleine zu sein. Nur bist du nicht alleine«, fügt er leise hinzu.
Mira nickt. »Du hast Elliot und mich. Deine Eltern. Baron. Und was auch immer du behauptest, ich weiß, dass du Jonah tief in deinem Inneren liebst.«
Natürlich liebe ich Jonah. Man kann ihn nur lieben. Aber das spreche ich nicht laut aus. Nicht vor ihm und auch nicht vor meinen Freunden.
Ich ringe mir ein Lächeln ab. »Das ist doch lächerlich«, sage ich und meine damit Elliots Aussage. Aber im gleichen Moment, in dem ich die Worte laut ausspreche, flüstert eine Stimme in meinem Kopf: ist es das wirklich?
Elliot zuckt mit den Schultern. »Wie du meinst.« Dann hebt er die Hand und wedelt mit einem Buch herum. »Ich muss das hier ausleihen. Danach können wir gehen. Wartet ihr vorne auf mich?«
Mira und ich nicken. Elliot läuft nach vorne zur Bibliothekarin, während wir beide langsam zum Eingang spazieren.
»Was Elliot da eben gesagt hat«, beginnt sie, aber mehr als diese Worte bekomme ich nicht mehr mit, denn im nächsten Moment erblicken meine Augen ihn. Er sitzt da an einem der Tische, über ein paar Bücher gebeugt, und lernt. Ich erkenne ihn sofort. Es ist fast so, als würde er aus der Menge hervorstechen.
Seine braunen Haare stehen ihm wirr vom Kopf ab, als wäre er direkt nach dem Aufstehen hierher gekommen, ohne vorher noch einmal in den Spiegel zu sehen. Ich muss lächeln. Er sieht trotzdem toll aus.
Die Leute an seinem Tisch reden miteinander und werfen Papierkügelchen hin und her, aber er schaut nicht ein einziges Mal auf. Als ich einen kurzen Blick auf die anderen um ihn herum werfe, erkenne ich zwei von ihnen als die Jungs wieder, die am Wochenende mit ihm auf der Party waren.
»Eve?«
Ich blinzle und sehe Mira an. Sie sieht verwirrt aus, dann folgt sie meinem Blick und fragt: »Wen oder was starrst du da an?«
Anstatt auf ihre Frage einzugehen, sage ich: »Entschuldige mich kurz.« Bevor ich weiche Knie bekommen und meine Meinung ändern kann, steuere ich einfach seinen Tisch an. Mein Herz klopft wie wild, als ich ihm mit jedem Schritt näher komme. Ich bin mir sicher, dass meine Halsschlagader jeden Augenblick vor lauter Druck platzen wird.
Er schaut nicht von seinen Unterlagen auf. Mein Hals fühlt sich trocken an. Noch vier Schritte. Er hebt immer noch nicht den Blick. Ich schließe die Augen für drei Sekunden und plötzlich stehe ich direkt vor ihm. An seinem Tisch. Ich räuspere mich, aber er reagiert nicht. Seine Freunde dagegen leider schon.
»Hey«, sage ich und versuche die Blicke der anderen zu ignorieren. Ich glaube, mein Herz springt mir gleich aus der Brust. »Nate?«
Sobald ich seinen Namen ausgesprochen habe, schaut er auf. Er sieht mich an und ich sehe den Moment, in dem er mich langsam zu erkennen scheint. Obwohl ich weiß, dass es lächerlich ist, empfinde ich einen kurzen Augenblick lang so etwas wie Enttäuschung. Enttäuschung darüber, dass er mich nicht auf der Stelle erkannt hat. Nicht so wie ich ihn.
Ich lächle und fühle mich zwar total dumm dabei, aber ich sage dennoch noch einmal: »Hey.«
Eine Sekunde verstreicht. Eine Sekunde, in der mein Herz still steht oder in meiner Brust hämmert. Ich weiß nicht, was es ist, aber ich weiß, dass es in meinen Ohren dröhnt. Ich bin mir sicher, dass die Zeit für einen Moment anhalten muss, denn diese eine schreckliche Sekunde fühlt sich an wie eine Ewigkeit. Doch im nächsten Moment passiert es. Es zuckt um seine Mundwinkel und er lächelt. In diesem Moment weiß ich, dass mein Herz stehen geblieben sein muss.
»Hey«, sagt er und dann: »Eve.«
Die Stimme in meinem Kopf schreit: Er erinnert sich an deinen verdammten Namen!
Ich spüre Miras bohrenden Blick im Rücken, als ich gerade den Mund öffne, um etwas zu sagen: »Ich wollte dir nur-«
»Hey, Babe!« Ein Arm legt sich um meine Schulter und eine Sekunde später drückt Rhys mir einen Kuss auf den Mund. Er lächelt mich an. Als ich nicht sofort reagiere, bekommt sein strahlendes Lächeln einen klitzekleinen Riss. Sein Blick huscht von mir zu Nate, dann sagt er zu Nate: »Hey, man.«
Ich traue mich nicht, den Blick zu heben, aber dann kann ich doch nicht anders und sehe Nate an. Er schaut von mir zu Rhys, dann fällt sein Blick auf den Arm, der um meine Schulter liegt. Er hebt die Brauen und scheint mir eine Frage zu stellen, aber ich schaffe es nicht länger seinem Blick standzuhalten und schaue auf meine Schuhspitzen.
Schließlich höre ich Nate zu Rhys sagen: »Hey, man.« Seine Stimme klingt spöttisch, aber entweder Rhys bemerkt es nicht oder es interessiert ihn einfach nicht.
»Ich hab' dich gesucht«, flüstert Rhys und zieht mich von Nate weg, der sich inzwischen wieder über seine Bücher gebeugt hat. Während Rhys redet und mir von irgendeinem Kinofilm erzählt, den wir uns heute Abend gemeinsam ansehen könnten, klebt mein Blick an Nate, der nicht ein einziges Mal den Kopf hebt. Wenn man mich im Nachhinein gefragt hätte, von welchem Film Rhys da so begeistert geschwärmt hätte, hätte ich es nicht sagen können. Es war, als würden seine Worte einfach an mir vorbeifliegen.
»Was sagst du dazu, Eve?« Ich blinzle verwirrt und sehe Rhys verständnislos an. Als ich nicht antworte, sagt er: »Ich hole dich heute Abend um sieben ab, okay?«
Ich weiß zwar immer noch nicht um welchen Film es geht, aber da mir das die einfachste und schmerzloseste Variante zu sein scheint, nicke ich nur. Rhys freut sich, drückt mir noch einen letzten Kuss auf den Mund und verschwindet dann wieder. Als ich ihn um die nächste Ecke verschwinden sehe, frage ich mich, ob er den ganzen Weg tatsächlich nur gekommen war, um mich zu fragen, ob wir heute Abend ins Kino gehen können. Hätte er mir da nicht einfach schreiben können? Ich schüttele den Kopf und versuche den Gedanken an ihn zu verdrängen.
Als ich am Ende wieder zurück zu Mira und Elliot gehe, werfen die beiden mir einen irritierten Blick zu, aber ich verkünde einfach: »Planänderung. Lasst uns hier lernen.«
»Hier?«, fragt Mira erschüttert. »Aber-« Weiter kommt sie nicht, denn dieses Mal rammt Elliot ihr seinen Ellenbogen in die Seite. Dann deutet er in einer übertriebenen Geste in Richtung Nate. Ich muss unauffällig zu ihm herüberschauen, um sicherzugehen, dass er hier von nichts mitbekommt, aber er beachtet uns gar nicht.
Leise zische ich: »Nein. Es ist nicht wegen Nate-«
»Uhhh, Nate.« Elliot und Mira grinsen sich an. Ich gebe es auf. Frustriert drehe ich mich um und suche nach einem Platz, der nicht zu weit von Nates Tisch entfernt ist, aber auch nicht so nah dran ist, dass er uns beim Reden belauschen könnte. Nicht, dass er so aussieht, als würde ihn überhaupt irgendwas um ihn herum interessieren.
Wir setzen uns also hin und lernen. Oder Mira und Elliot lernen und ich fange zum tausendsten Mal an, den selben Satz zu lesen, bevor mein Blick schon wieder zu dem Jungen am anderen Ende des Raums rutscht.
»Versuch es doch noch ein bisschen auffälliger«, flüstert Elliot mir über den Tisch zu. »Wie wär's wenn du einmal seinen Namen durch den Raum schreist?«
Ich zeige ihm den Mittelfinger.
»Er sieht echt gut aus«, flüstert Mira und grinst dabei. Ihr Blick folgt meinem und genau in dem Moment, in dem wir wirklich alle drei zu ihm herüber schauen, hebt er den Blick. Natürlich. Das ist mal wieder mein Glück. Elliot und Mira schauen schnell weg, aber nicht schnell genug. Nate hebt fragend eine Braue.
Ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen und deute mit dem Finger auf den Ausgang, bevor ich mit den Lippen das Wort Pause forme.
Vier Minuten später setze ich mich neben Nate auf die Treppenstufe vor der Unibibliothek. Unsere Sachen haben wir drinnen gelassen.
Der Campus ist inzwischen beinahe leer. Nur vereinzelt laufen ab und zu Studenten an uns vorbei.
»Hey«, sage ich heute schon zum gefühlt tausendsten Mal zu ihm und strecke die Beine aus. Nach dem stundenlangen Sitzen tut das verdammt gut.
»Hey.« Er sieht mich nicht an, stattdessen beobachtet er die untergehende Sonne.
Mein Blick klebt am ihm. Es ist das erste Mal, dass ich mir erlaube, ihn wirklich zu mustern. Bei unserem ersten Treffen stand ich viel zu sehr unter Schock und bei unserem zweiten Aufeinandertreffen war es viel zu dunkel, um etwas zu sehen.
Nates Augen haben eine schöne Farbe. Beim ersten Mal dachte ich sie seien grün, aber wenn ich jetzt genauer hinschaue, fällt mir auf, dass sie viel komplexer sind. Es ist fast schon ein Mix aus grün und grau. Mir fällt auch die kleine Lücke zwischen seiner rechten Augenbraue auf und ich muss lächeln.
Er scheint meinen Blick zu bemerken, denn plötzlich dreht er den Kopf zu mir. »Warum starrst du mich an?«
»Was denkst du über mich?« Die Frage ist schneller ausgesprochen, als ich denken kann. Am liebsten würde ich mir dafür eine reinhauen, aber es ist schon zu spät. Die Worte sind raus. Die Frage schwebt zwischen uns.
Nate stützt die Arme nach hinten und schließt die Augen. Die goldene Abendsonne scheint direkt auf sein Gesicht und bringt es zum Leuchten. Ich kann nicht aufhören ihn anzustarren. Über seiner Augenbraue bemerke ich eine kleine Narbe.
»Was soll ich über dich denken?«, fragt er.
Ich atme tief ein und aus. »Dein Blick vorhin, als du mich mit Rhys gesehen hast. Du hast ausgesehen, als hättest du gerne etwas gesagt. Hältst du mich für schwach?«
Er antwortet nicht.
»Komm schon, sag es mir. Was hast du gedacht? Was denkst du?«
Ich weiß nicht wieso, aber auf einmal ist mir die Meinung dieses beinahe wildfremden Jungen enorm wichtig. Vielleicht liegt es an seinen Worten letztens auf dem Dach. Vielleicht drehe ich jetzt aber auch einfach komplett durch.
Nate öffnet ein Auge und dreht leicht den Kopf zu mir. Das andere Auge kneift er gegen das Sonnenlicht zu. »Du willst wissen, was ich gedacht habe?«
Die Sonne strahlt auf seine dunklen Wimpern. Wimpern, die seine hellen Augen noch mehr zur Geltung bringen. Ich schlucke, als mir plötzlich auffällt, wie trocken mein Hals sich anfühlt und hoffe, dass er nichts davon mitbekommt.
Langsam nicke ich. Mit einem Mal unsicher darüber, ob ich es wirklich wissen will. Wenn er so fragt, bekomme ich es mit der Angst zutun. Ich will nicht, dass er schlecht von mir denkt und ich weiß beim besten Willen nicht, wieso mir das alles auf einmal so wichtig ist.
Unter seinem Blick fühle ich mich schrecklich nackt. Nate lässt mich nicht eine Sekunde aus den Augen, als er die nächsten Worte laut ausspricht: »Wie wenig muss dieses Mädchen von sich selbst halten, dass sie so mit sich umgehen lässt?«
Mein Herz setzt aus. Erst, als seine Worte gesagt sind, fällt mir auf, dass ich den Atem angehalten habe. Ich habe mit vielem gerechnet, nur nicht mit so etwas. Und ich weiß nicht, ob diese Worte nicht verletzender sind, als jede Beleidigung, die er mir an den Kopf hätte werfen können.
Ich schlucke. »Ich wollte Schluss machen. Wirklich. Aber... Es ist nicht so einfach, weißt du?«
Er antwortet wieder nicht.
»Du verurteilst mich.«
Nate öffnet langsam auch das zweite Auge. Einige Sekunden verstreichen, in denen er mich einfach nur anstarrt. Sein Blick hat beinahe schon etwas einschüchterndes. Trotzdem kann ich nicht aufhören, ihn anzusehen. Schließlich wendet er seufzend den Blick ab. »Nein. Ich verurteile dich nicht«, sagt er und steht auf. »Ich bemitleide dich.«
Und mit diesen Worten geht er.
Ich sehe ihm hinterher, als er wieder in der Bibliothek verschwindet. Mein Herz hämmert mir in den Ohren. Als die Tür hinter ihm zufällt, flüstere ich: »Ist das nicht noch schlimmer?«
A/N:
Ich hab' in letzter Zeit wieder richtig Lust Edits zu machen und dachte mir, ich könnte ein Video zu Kickass schneiden. Daher wollte ich mal fragen, ob euch passende ,,Stars'' zu Nate und Eve einfallen? Am liebsten solche, die wie Matthew Daddario und Maia Mitchell aussehen :D
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