Kapitel 6
Als sie die Augen aufschlug, weil die Sonne durch das Fenster direkt in ihr Gesicht schien, spürte Tessa die Nachwirkungen des Abends deutlich.
Sie hatte Kopfschmerzen die sich in ihren Schädel zu bohren schienen und auch der Schwindel war durch den Schlaf nicht deutlich besser geworden.
Nach einigen Momenten des wach werdens, wurde ihr bewusst, dass es nicht normal war an einem Arbeitstag von der Sonne geweckt zu werden.
Dass es nicht normal war dass ihr Wecker sie nicht aufschrecken ließ.
Sie war selten schneller aus dem Bett gesprungen, um sich in die nächst besten Klamotten zu werfen und in Höchstgeschwindigkeit die Zähne zu putzen.
Ein Blick auf die Uhr ließ ihre Übelkeit schlagartig wieder aufkeimen.
Es war ihr zweiter Arbeitstag und es war fast 8 als sie aus der Wohnungstür stürmte.
Ihr war bewusst, dass sie mit Sicherheit eine beachtliche Menge Restalkohol im Blut hatte, als sie ihren Twingo über die Straßen brettern ließ.
So sehr sie sich auch zu erinnern versuchte ihr fiel nicht ein, wann sie das letzte Mal verschlafen hatte.
Sie fühlte sich schuldig, an ihrem zweiten Arbeitstag so verantwortungslos gehandelt zu haben.
In einer Bar versackt zu sein und mit einem Kater der in ihrem Schädel hämmerte einen Straftäter zu therapieren.
Die Sohle ihrer schwarzen Sneaker quietschten, als sie durch den Linoleum Flur zum Fahrstuhl hastete.
Sie hörte die Pfiffe und Kommentare der Männer um sie herum kaum, als sie den Fahrstuhl erreichte.
Sie war außer Atem und ihr war schlecht, sie fühlte sich, wie mit 16 wenn sie nach einer durchsoffenen Nacht mit Mia in den hinteren Reihen der Schule saß und nicht erwarten konnte bis der Tag endlich endete.
Niemals hätte sie erwartet, sich mit 30 noch so fühlen zu können.
Sie brauchte mehr als einen Anlauf, um den passenden Schlüssel zu ihrem Büro zu finden und die Tür erfolgreich zu öffnen.
In ihrem Kopf betete sie, dass niemand sie sah, während sie in schwarzem Kaputzenpulli und Leggins Probleme hatte ihre Tür zu öffnen.
Einige Gläser mit kaltem Wasser und ein schwarzer Kaffee gaben Tessa genügend Energie um den Laptop zu öffnen und zu checken, wer ihre heutigen Patienten waren.
Als sie gerade den Anhang der Mail öffnen wollte, klopfte es an ihrer Tür.
„Frau Olden, es tut mir leid, dass ich mich nicht gestern schon bei Ihnen vorstellen konnte. Es war mehr zutun als erwartet." , Die Scham über ihr Outfit und die Augenringe wurde noch größer, als Tessa realisierte, dass Peter Snow vor ihr stand.
Ein gut gekleideter Mann, Tessa schätzte das er um die 50 Jahre alt sein musste, mit grau melierten Haaren, einem Dreitagebart und Augen denen man auf den ersten Blick ansah, dass er schon viel erlebt haben musste.
„Herr Snow, ich freue mich sehr Sie kennenzulernen." , Tessa setze ihr professionellstes Lächeln auf, als sie ihm die Hand reichte.
Sein Händedruck war sehr kräftig als er lächelnd ihre Hand schüttelte.
„Ich dachte ich hole Sie für eine kleine Tour durch unsere Räumlichkeiten ab bevor Sie ihren ersten Termin heute haben." , während er sprach ging er voraus und Tessa ging ihm ohne etwas zu sagen hinterher. Sie hatte ihre e-Mails noch nicht lesen können und daher hatte sie keine Ahnung wer und wann ihr Termin heute sein wird.
„Das hier ist der Speisesaal der Insassen." , Herr Snow deutete auf einen großen Raum voller Bänke und Tische und einer Essensausgabe die Tessa an eine Mensa in einer Schule erinnerte. Große Wagen in denen sich Plastiktablets stapelten standen neben der Essensausgabe und Tessa konnte sich nur mit Fantasie vorstellen was für eine aggressive Stimmung hier zu Essenszeiten herrschen musste.
„Die Essenszeiten sind um 7 um 12 und um 18 Uhr. Zu den Zeiten werden Sie kaum Sitzungen mit Patienten haben." , Peter Snow schaute mit stahlgrauen Augen zu Tessa hinab, als würde er sich vergewissern wollen, dass sie sich die Zeiten merkte.
„Ich habe ihre Zusammenfassung von Ihrem Gespräch mit Alexander Brandon gelesen. Ich war überrascht, dass er auf Sie wie jemand wirkte, der sich etwas anderes im Leben wünschen würde."
Tessa musste sich Mühe geben mit den schnellen Schritten des Gefängnisdirektors Schritt zuhalten.
„Auf mich hat er im Gespräch teilweise sogar reuevoll gewirkt."
Peter Snow zog seine buschigen dunklen Augenbrauen leicht in die Höhe bevor er überrascht nickte.
„Interessant."
Tessa folgte ihm durch einige Gänge bis sie im Aussenbereich des Gefängnisses Halt machten.
„Hier verbringen die Insassen ihre Freizeit. Für jeden der Häftlinge ist es verpflichtend am Tag mindestens eine Stunde an der frischen Luft zu verbringen."
Tessa ließ ihren Blick über den Innenhof wandern, der aus grauem Kies bestand. Es gab einige Klimmzugstangen aus Metal und einen eingezäunten Basketballplatz.
Sonst nur ein paar Bänke aus Metall neben denen Papierkörbe standen.
Einige Insassen saßen gemeinsam auf einer der Bänke, sie rauchten Zigaretten und schauten gelegentlich zu ihnen herüber.
„Konnten Sie sich gestern schon etwas einleben? Sie können Ihr Büro natürlich noch etwas persönlicher gestalten." , er machte auf dem Absatz kehrt während er sprach um wieder ins Innere des Gefängnisgebäudes zu gehen.
Er sagte wohl nie, bevor er losging dachte Tessa, während sie ihm wieder hinterherstapfte um ihm antworten zu können. „Der erste Tag war sehr angenehm. Ich fühle mich, soweit ich das jetzt beurteilen kann, schon recht wohl." , er nickte als hätte er keine andere Antwort erwartet.
Gemeinsam gingen sie durch die Gänge bis sie schließlich vor Tessas Büro Halt machten.
Auf dem Weg dorthin erzählte Peter noch einiges über den Alltag der Insassen.
Das sie sich beispielsweise jeden Monat für eine andere „Aktivität" eintragen mussten.
Dazu zählte die Hilfe der Herstellung der Mahlzeiten für die Insassen, die Reinigung der Sanitäranlagen oder die Pflege der Aussengelände.
Die Aktivitäten waren dafür gedacht, dass die Häftlinge beschäftigt waren und dadurch weniger Zeit für Konflikte untereinander haben konnten.
Auf ihre Frage, ob es denn oft zu Konflikten untereinander kam lächelte er nur milde „Es wurde immer Zeit gefunden um sich zu streiten." war seine Antwort gewesen.
Tessa verstand seine Antwort. Die Maßnahmen der Gefängnisdirektion reichten nicht aus, um körperliche und physische Konflikte untereinander zu verhindern.
Es gab keine Konfliktbewältigungsstrategien oder angeleitete Gruppentherapien.
Tessa wusste wie wichtig solche Maßnahmen in Gefängnissen sein konnten, allerdings war ihr schon früh bewusst geworden, dass meist die finanziellen Mittel für solche Präventionsmaßnahmen fehlten.
Als sie wieder in ihrem Bürostuhl saß und ihren Blick gerade zur Kaffeemaschine wandern ließ, um sich noch einen frischen Kaffee zu brühen, klopfte es erneut an ihre Tür.
Genau drei Mal.
Drei feste Schläge gegen das Holz.
Als sie die Tür öffnete, war das erste was sie sah Alexander, der einem ihr unbekannten Sicherheitsbeamten bereitwillig die Handgelenke hinhielt.
Es war eine emphatische Geste, dass er das von sich aus tat und Tessa nicht ein weiteres Mal in die Verlegenheit gebracht werden konnte, entscheiden zu müssen.
„Hast du gesoffen gestern?" , fragte Alexander sobald die Tür ins Schloss fiel.
Tessa war so überrumpelt und geschockt von seiner direkten Frage, dass sie ihn für einen kurzen Augenblick erschrocken anguckte ohne sich in der Lage für eine passende Antwort zu sehen.
„Riecht man das?" es war das erste Mal, dass sie Alexander lachen hörte. Ein raues, tiefes Lachen das mit großer Sicherheit nicht oft von ihm zu hören war.
Er schüttelte den Kopf während er sich setzte.
„Nein, aber du siehst fertig aus." , er ließ seinen Blick an ihr herab wandern und Tessa merkte, wie sie errötete.
Es war ihr unangenehm, dass man ihr ansah, dass sie zu viel getrunken hatte.
Es war ihr unangenehm zu realisieren, dass der erste Eindruck den sie bei ihrem neuen Chef gemacht hatte mit großer Wahrscheinlichkeit miserabel war und das Alexander Brandon sie so sah.
„Nicht das du schlecht aussieht. Nur als hättest du gesoffen." , sein Grinsen war schamlos und Tessa öffnete ohne eine Antwort ihre Notizen.
„Genug über mich gesprochen." , sie klang angespannt „wie geht es dir?"
Erst jetzt fiel ihr auf, dass auch der Mann ihr gegenüber ebenfalls müder als am vorherigen Tag wirkte. Unter seinen Augen waren deutliche Schatten und sein Blick war glasig.
„Blendet. Das Essen war mal wieder ein Genuss." , seine Stimme tropfte vor Sarkasmus während seine Augen unstetig über Tessas Gesicht huschten.
Sie konnte sich nicht helfen, aber sie merkte dass sie sich wirklich wünschte ihm einfach eine Pizza servieren zu können.
„und abgesehen vom Essen? Du sagtest gestern bevor du gingst, dass du einiges anders machen würdest wenn du es könntest."
„Ja das würde ich."
Alexander lehnte sich in dem Stuhl ihr gegenüber nach hinten und streckte seine Beine aus.
Sein Knie stieß dabei leicht gegen Tessas Bein und am liebsten hätte Tessa ihr Bein nicht weggezogen.
Am liebsten hätte sie dieses winzige bisschen an Körperkontakt zugelassen und ihr Bein einfach dort gelassen.
Sie räusperte sich ehe sie weiter sprach : „was wäre das erste was du anders gemacht hättest?"
Sein Blick war eindringlich als seine Augen ihre trafen. Er sah ernst aus, fast als würde ihn die Frage quälen.
„Ich hätte meine Schwester aus dieser Scheiße rausgeholt."
Seine Hände ballten sich zu Fäusten ehe er sie wieder lockerte. Er schaute sie nicht an in diesem Moment, sondern heftete seinen Blick auf die Tischplatte vor ihm.
„Wie alt ist deine Schwester?" , sie wusste, dass es riskant war in solch einem Moment weiter zu bohren, aber Tessa hatte das Gefühl, dass sie etwas gefunden hatte das einen Anfang bilden konnte.
Das sie vielleicht tatsächlich etwas aufarbeiten konnte mit dem Mann der sie so unsicher machte, dass sie sich manchmal nicht mehr wie eine Therapeutin fühlte, wenn sie mit ihm sprach.
Sein Fingernagel kratzte über eine Kerbe im Holz als er plötzlich ihren Blick wieder einfing.
Als Tessa Alexanders Blick bemerkte, hatte sie Angst mit ihrer Frage einen Fehler gemacht zu haben.
Er wirkte aufgebracht, obwohl er vollkommen regungslos vor ihr saß.
Er wirkte bedrohlich trotz den Handschellen um seinen Handgelenken.
„Sie war erst 13. Sie hatte in den 13 Jahren so oft gesehen was ich getan hatte. Sie hat immer zu mir aufgeschaut.
Sie hat mich immer wieder angebettelt, dass ich sie mitnehmen soll, wenn ich los bin um mit Freunden Geschäfte zu machen.
Ich hab das nie getan. Weil ich sie raushalten wollte, aber ich hab auch nie mit ihr über alles gesprochen.
Sie war 13 als sie einen Typen kennenlernte der sie für Drogen verkauft hat. Bis sie selber das alles nur noch ausgehalten hat, wenn sie konsumiert hat.
Sie war kaum noch zuhause. Ich hab versucht ihn zu töten, sie irgendwie wieder rauszubekommen, aber da war es schon zu spät. 2 Jahre ging das so. Dann hat ein Kumpel sie gefunden, in einem Graben bei der Autobahn." , während er sprach brach seine Stimme immer wieder ab.
Tessa fühlte sich als könnte sie kaum atmen, während sie ihm gegenüber saß und ihn beobachtete als er erzählte. Sie streckte ihre Hand aus und strich ganz leicht mit einem Finger über seinen Handrücken, der immer noch regungslos auf der Tischplatte verharrte.
„Das tut mir schrecklich leid." , ihre Stimme war nur ein Flüstern und sie konnte ihre Hand nicht von seiner entfernen.
Sie wusste, dass sie nichts tun konnte, damit er leichter mit dem Schmerz und dem Verlust leben konnte.
Sie konnte nichts sagen, als sie ihm gegenüber saß und ihn anschaute, während seine Augen auf ihre Hand geheftet waren, die immer noch über seiner lag.
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