I
Ich musste dringend atmen!
Los, Kayleen, du kannst das: ruhig einatmen, langsam ausatmen, einatmen, ausatmen.
In Zeitlupe öffnete ich wieder die Augen und blinzelte die Tränen weg, die sich Bahn brechen wollten.
Ich war extra hierher gekommen, um nicht heulen zu müssen! Deshalb hatte ich mich mit Absicht mitten in die Öffentlichkeit gesetzt. Dass die Spaziergänger, die hier an mir vorbei gingen, mich weinen sehen würden, war das Allerletzte, was ich wollte.
Einatmen, ausatmen. Luft holen. Meeresluft inhalieren.
Ich blickte auf die aufgewühlte See vor mir.
Aufgewühlt. Wie mein Innerstes.
Das Meer war dunkelblau und auf den Wellen tanzten Schaumkrönchen, die vom Wind in alle Richtungen verteilt wurden.
Zerplatzt. Wie meine Träume. Wie mein Leben. Normalerweise liebte ich den Blick von der Steilküste auf die Ostsee. Ich musste mir nur immer wieder klarmachen, dass mein Leben nicht vorbei war. Auch, wenn in mir alles danach schrie!
Es soll aufhören, in mir zu schreien! Ich will nichts mehr fühlen! Ich will tot sein. Nein, nicht tot. Ich will nichts mehr fühlen müssen! Ich will ein Stein sein! Steine müssen nicht fühlen. Gott! Gib mir ein Herz aus Stein!
Eine Träne wagte sich aus meinem linken Auge und ich wischte sie schnell fort. Ich wollte nicht weinen und ich würde es nicht tun. Nicht hier.
Los, lenk dich ab, denke an etwas Anderes. Sieh dich um! Spaziergänger wanderten an der Bank, auf der ich saß, vorbei. Kinder liefen lachend auf dem Sandweg und spielten fangen, als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt.
Wie unbelastet und naiv sie doch sind. Sie haben keine Ahnung davon, was das Leben ihnen noch an Schmerzen bringen wird.
Neidvoll sah ich ihnen hinterher. Sie waren so unbelastet, wie Kinder es eben sind. Dafür konnte man ihnen ganz bestimmt keinen Vorwurf machen. Ihre Eltern marschierten Händchen haltend und miteinander scherzend an mir vorbei und würdigten mich keines Blickes. Die Stiche in meinem Herzen bei dem Anblick eines glücklichen Paares waren unerträglich.
Unsichtbar zu sein wäre völlig okay für mich. Niemand würde mich sehen und niemand könnte mir weh tun. Aber meinen Schmerz müsste ich trotzdem immer noch spüren.
Nein, dann möchte ich doch lieber ein Stein sein.
Eine ältere Dame mit ihrem Pudel schlurfte an mir vorüber. Sie ging gebückt und gebeugt vom Leben, aber in ihren Augen funkelte es fröhlich.
Ich sah ihr hinterher. Ein wenig erschrak ich, als sie sich umdrehte und mir einen Blick schenkte, den ich nicht direkt zuordnen konnte. Was war das gewesen?
Mitleid! Die Erkenntnis traf mich hart. Sie hat Mitleid mit dir und hat dir mit ihrem Blick Mut zugesprochen. So sieht dich nur jemand an, der deinen Schmerz selbst erlebt hat.
Also wird sie erkannt haben, wie es mir geht.
Ich seufzte. Es war mir nicht vorstellbar, dass Menschen trotz Kummer weiterleben konnten.
Ich schloss meine Augen und presste die rechte Faust fester zusammen. Der Gegenstand, den ich umklammert hielt, stach in meine Handfläche.
Es ist doch schon Wochen her. Warum kannst du nicht einfach loslassen? Du hast doch selbst in der Hand, wie du dein Leben weiterleben willst.
Meine Brust hob und senkte sich. Ich öffnete die Augen und sah den Gegenstand an.
Ein Herz aus Stein.
Er hatte es mir geschenkt, als alles noch schön gewesen war. Es war ein so romantisches Geschenk.
Jetzt lag es in zwei Teilen auf meiner Handfläche.
Zerbrochen, weil ich es in der ersten Wut gegen die Wand geworfen hatte. Mit dem Daumen strich ich erst über die glatte Oberfläche und dann über die scharfe Bruchkante des Herzens.
Genau wie meines. Gebrochen. Mit scharfen Kanten, die mein Innerstes aufkratzen.
Ich schloss meine Hand wieder und sah aufs offene Meer hinaus. Mein Blick richtete sich nach links. In der Ferne sah ich ein weißes Segelboot, welches auf das Ufer zusegelte. Der Anblick beruhigte mich ein wenig. Ich suchte das Meer nach Schiffen ab und entdeckte auf der rechten Seite ein weiteres, reinweißes Segelboot, welches ebenfalls auf die Küste zusteuerte.
Gesegelt sind wir nie zusammen. Ihm wurde schlecht auf Schiffen. Dabei wollte ich schon immer mal einen Segeltörn machen.
Ein großer Stich fuhr durch mein Herz und ich presste meine Faust stärker zusammen.
Ohne ihn will ich nicht planen! Ohne ihn will ich gar nichts mehr tun! Er hat für uns organisiert und ich habe mitgemacht. Ich will nicht alleine weitermachen! Gott! Mach endlich, dass ich nichts mehr fühlen muss! Lass mich wie das Herz in meiner Hand sein. Aus Stein. Ohne Gefühle! Zerbrochen bin ich schon.
Die Boote wurden immer größer, je näher sie kamen und ihr Abstand zueinander wurde geringer. Ein beruhigender Anblick. Ich starrte auf das Meer und wartete ab.
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