Prolog: Nathan
Gerade herrschte Regenzeit auf den Hawaiianischen Inseln und die wenigsten Touristen, die mittlerweile in immer schneller anwachsenden Zahlen meine Heimat besuchten, kannten diese andere Seite des Archipels. Jemand, der Hawaii zum ersten Mal betrat und nur die klassischen, oft sehr kitschigen Landschaftsaufnahmen von Postkarten kannte, welche zu allem Überfluss dann auch noch mit buntem Glitter überzogen waren, konnte durchaus sehr enttäuscht und irritiert sein. Aber was kümmerte mich das schon? Wer ausgerechnet während dieser Zeit auf die Inseln kam, war schließlich selbst schuld. Gut, ich konnte den Zauber und die Faszination, die immer mehr Menschen für diesen Bundesstaat empfanden, verstehen. Als ich nach Big Island gekommen war, hatte ich auch noch so empfunden. Ich dachte tatsächlich, ich sei im Paradies angekommen, doch ich hätte mich nicht stärker irren können. Damals wusste ich noch nicht, was mich auf diesen Inseln alles erwarten und mit was ich im Laufe der Zeit konfrontiert werden würde. Die Faszination und Begeisterung verflogen rasch und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als niemals auf diese gottverfluchten Inseln gekommen zu sein, doch ich hatte sowieso keine Wahl gehabt. Es war meine Bestimmung, mein Schicksal. Ich hatte gelernt, mich damit abzufinden und diese Inseln als meine persönliche Hölle auf Erden zu akzeptieren. Irgendwann gab ich den ohnehin zwecklosen Widerstand auf. Verschwendete Energie. Ich schottete mich ab, ließ es zu und wurde also zu dem, was ich mir fest geschworen hatte, nie zu werden. Zu dem, was man von mir eigentlich schon viel früher erwartet hatte. Ein Werkzeug, ein Mittel zum Zweck. Ohne Seele, ohne Herz und ohne Reue. Das war nun mein Leben oder zumindest der bedauerliche Rest, der davon noch übrig geblieben war.
Damals, vor gefühlt einer halben Ewigkeit, hätte mich dieser rasante Landschaftswechsel noch sehr beeindruckt, aber das tat er nun schon lange nicht mehr. Von meinem Heimatort Kailua-Kona, welcher größtenteils von großflächigen Lavafeldern umgeben war, bis hierher auf die andere Seite der Insel, musste man zunächst ein ziemlich großes Stück zurücklegen. Eben diese Strecke unterschätzten die meisten Touristen bei ihren strikt durchgeplanten Tagesausflügen. Man könnte zudem geradezu meinen, dass man auf dem Weg in Richtung Hilo durch verschiedene Länder gefahren war, wenn man erst einmal am Fuße des großen Vulkan ankam. Der mächtige Kilauea war ein wirklich beeindruckender Ort, welcher ein großes Machtsymbol für Pele, die Feuer- und Vulkangöttin darstellte. Lavafelder, dichte Wolken auf den Straßen, die einem lediglich eine kurze Sicht durch den dünnen Dunst erlaubten und urwaldähnlicher Regenwald. Dieser Weg konnte schon beeindruckend sein, für mich jedoch nicht. Nicht mehr.
Hier oben, mitten im Regenwald und fernab des nächsten Ortes, lag mein Ziel. Ich bremste meinen schwarzen Pick-Up leicht ab und verließ abrupt die ausgestorbene, kerzengerade Landstraße und setzte meinen Weg auf dem schmalen und von strömendem Regen in eine große Schlammlache verwandelten Dschungelpfad fort. Die Scheibenwischer kamen selbst auf höchster Stufe nicht mehr gegen den immer stärker werdenden Regen an. Leise fluchte ich etwas für Außenstehende Unverständliches, da sich meine Sicht immer weiter verschlechterte, während ich mit solch einer Geschwindigkeit über die Schlammpiste raste, dass mein Pick-Up bei manchen etwas stärkeren Unebenheiten bereits etwas abhob. Bestimmt war mein Fahrzeug bereits völlig verdreckt, doch das kümmerte mich wenig.
Seltsame Geräusche von der Ladefläche drangen trotz dem stark prasselnden Regen an meine Ohren, woraufhin ich genervt gegen die Rückwand schlug, welche unmittelbar an die Ladefläche angrenzte. Mit solch einer Wucht, dass meine Knöchel rot anliefen und zu pochen begannen, doch ich nahm den Schmerz gar nicht mehr wahr. Das war schon lange so. Meine Miene verhärtete sich und ich biss meine Zähne so fest zusammen, dass sich mein Kiefer schon ganz taub anfühlte, dabei war das Geräusch längst wieder verstummt.
Schließlich kam endlich die mit einem einfachen Welldach gedeckte Hütte zum Vorschein. Davor brannte nur ein schwach flackerndes Licht. Als ich die kleine Lichtung erreichte und den Motor abstellte, öffnete sich sogleich die schmale Tür und ein Mann, der ein gutes Stück kleiner war als ich, kam auf meinen Pick-Up zu und schenkte diesem düsteren Regenwaldabschnitt mit dem Lichtschein aus der Hütte etwas mehr Helligkeit. Grüßend nickte er mir zu, während ich ausstieg und nach hinten zu meiner Ladefläche ging. Wir beide ignorierten den warmen Regen, der einen blumigen und zugleich leicht modrigen Geruch über das Land legte und uns bis auf die Haut durchnässte. Ein ganzer Strom von Regentropfen suchte sich seinen Weg von meinem rabenschwarzen Haar bis zur Stirn und lief mir schließlich das Kinn hinab.
"Nauks Auftrag?", fragte mich Damien, als ich die Klappe zur Ladefläche öffnete und der große längliche Jutesack ruckartig zu zappeln und stöhnen begann.
"Ja", antwortete ich schlicht, zog den Sack unsanft nach vorne und ließ ihn schlussendlich achtlos in den Dreck fallen, was ein widerliches Geräusch verursachte. Damien und ich beachteten den erstickten Schrei nicht.
"Denkst du es ist klug das hier zu erledigen?", wollte Damien mit ausdrucksloser und gleichgültiger Stimme wissen und half mir, den Sack zu öffnen.
Zum Vorschein kam ein lockiger Blondschopf, die Augen mit einem dreckigen Stofffetzen verbunden und seine Handgelenke mit Kabelbindern aneinander fixiert.
"Spielt doch keine Rolle", erwiderte ich genauso unbeeindruckt und zuckte nur mit den Schultern. "Er ist sowieso keiner der rebellierenden Sorte."
"Das stimmt, lass ihn dann einfach hier, ich kümmere mich um den Rest", meinte Damien, während er bereits zurück zu der Hütte schlurfte.
Erst jetzt fiel mir auf, wie verschlissen und dreckig seine Kleidung war. Verglichen mit mir war er völlig ungepflegt. Damien hatte sich stark verändert in den letzten Monaten, obwohl er schon um einiges länger dabei war als ich und ihm all das eigentlich längst nicht mehr so viel ausmachen sollte. Vielleicht war es auch einfach nur seine Art, sich seinem Schicksal zu fügen. Eines stand jedoch fest: Ein langer Bart stand ihm definitiv nicht.
Ich wendete meinen Blick wieder ab und beugte mich hinab zu dem jungen Mann, der vor meinen Füßen kauerte. Er rührte sich nicht, doch das Totstellen würde ihm nichts nutzen. Mit einem Ruck entfernte ich die Augenbinde, der Knebel blieb jedoch wo er war. Sofort blickte sich ein Paar ozeanblauer Augen panisch um, bis es schließlich an mir hängenblieb. Wie auf ein stummes Kommando hin kam Leben in mein Opfer. Natürlich konnte ich sein undeutliches Gestammel nicht verstehen, doch auch ohne Worte kannte ich den Ausdruck in seinen Augen nur allzu gut. Besser, als mir lieb war. Als all das begonnen hatte, hätte es mich niemals kalt gelassen, doch heute spürte ich überhaupt nichts mehr, wenn mir solch eine Angst und flehende Blicke entgegenblickten. Mit unveränderter Miene griff ich in die Innentasche meiner Lederjacke und zog meine Pistole aus dem Holster.
„Keine Sorge, ich bin ein guter Schütze. Wird nicht lange dauern", murmelte ich abwesend, jedoch war mir nicht ganz klar, weshalb ich das überhaupt gesagt hatte. Es kümmerte mich nicht, was dieser Kerl empfand oder ob er sich vor mir fürchtete.
Schließlich holte ich einen Schalldämpfer zum Vorschein. Auch wenn weit und breit niemand sonst sein konnte, schraubte ich diesen unbeirrt auf meine Waffe. Mittlerweile war das für mich das Normalste auf der Welt. So wie andere ihre Unterlagen für ihre Aktentasche richteten, vervollständigte ich meine Pistole. Bereit zu töten. Abschließend lud und entsicherte ich sie und richtete sie genau auf den Kopf des Mannes zu meinen Füßen.
Als ich den Abzug betätigte, spürte ich nichts. Rein gar nichts. Eigentlich hatte ich mich zuvor noch nie so leer gefühlt. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde und dann entspannte sich der Körper vor mir und wurde still.
Ich verschwendete keinen weiteren Blick, löste den Schalldämpfer von meiner Waffe und verstaute alles wieder ordentlich. Dann ging ich zurück zur Fahrerseite, stieg ein und startete den Motor. Mein Sitz durchnässte dank meiner mittlerweile triefenden Kleidung, doch das kümmerte mich nicht.
Ich sah nicht einmal zurück, verspürte keine Reue, keine Schuld. Es war das Normalste auf der Welt und mir völlig gleichgültig.
Als ich wieder an der Landstraße ankam, hatte ich den jungen Mann, der noch den Großteil seines Lebens vor sich gehabt hätte, bereits vergessen. Dabei hatte ich nicht einmal seinen Namen, geschweige denn den Grund für seine Auserwählung gekannt... Doch selbst das hätte rein gar nichts geändert.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro