5. Kapitel: Sarah
Mittwoch, 29. Juli
Wieso verhielt sich Nathan so? Wieso sagte er mir nicht, was ihm passiert war? Ich war doch kein kleines Kind mehr, dem man die Wahrheit vorenthalten musste. Wieso war er jetzt so ruhig? Vielleicht sollte ich doch meine Mum anrufen und sie fragen, was sie über seine Arbeit hier wusste. Möglicherweise hatte Nathan diese Narben ja auch schon länger und sie kannte die Geschichte dahinter? Irgendwann musste er ihr doch mal zumindest im Ansatz etwas davon erzählt haben oder irgendetwas anderes, womit das zusammenhängen konnte.
"Ich muss noch schnell bezahlen. Willst du mitkommen?", sprach mich plötzlich Nathan neben mir an. Ich zucke unweigerlich zusammen, da ich so in meinen Gedanken versunken gewesen war, dass ich nicht einmal bemerkt hatte, dass er an eine Tankstelle gefahren war, getankt, die Seitentür geöffnet hatte und mich nun fragend ansah. Er war immer noch die Ruhe in Person. Ich gab kein Wort von mir, sondern löste einfach nur meinen Gurt und drückte mich unter seinem Arm, der die Tür festhielt durch und steuerte auf den Tankstellenladen zu. Ich meinte ein genervtes Seufzen hinter mir wahrgenommen zu haben, doch ich war mir nicht sicher. Was ich aber mit absoluter Sicherheit hörte, war das laute Zuschlagen der Beifahrertür und die trottenden Schritte unweit hinter mir. Beim Eintreten hörte ich das leise Läuten einer Glocke, die sanft gegen die Tür schlug.
"Warte hier, ich bin gleich zurück", murmelte Nate hinter mir, bevor er in die Richtung der Kasse lief und ich mich mit nicht wirklich großem Interesse der riesigen Wand mit unzähligen Magazinen, Zeitschriften und ein paar schnulzigen Büchern widmete. Wahllos blätterte ich in einem Starmagazin und las die völlig schockierenden Berichte über Beziehungsprobleme einiger unbekannter Promis. Sehr überraschend und total spannend - solche Probleme hätte ich gerne.
"Hey du, kennst du den Kerl?", sprach mich auf einmal eine tiefe Stimme hinter mir an, die mich so erschreckte, dass ich das Magazin achtlos zu Boden fallen ließ. "Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken. Sag schon, kennst du ihn?"
Mein Herzschlag beruhigte sich wieder etwas und als ich mich umdrehte und diese rostbraunen Augen meines Gegenübers sah, war plötzlich alles in bester Ordnung. Vor mir stand ein von der Haut her auf jeden Fall einheimischer Hawaiianer, der nicht viel älter als ich sein konnte. Sein kurzes braunes Haar war völlig zerzaust, aber irgendwie sah das gleichzeitig auch verdammt gut aus.
"Äh, ja. Das ist mein Onkel", erklärte ich nachdem ich auf einmal festgestellt hatte, dass ich ihn viel zu lange angestarrt hatte. Erst jetzt, nachdem ich meine Gedanken wieder einigermaßen geordnet hatte fiel mir auf, dass der Junge eine Art Uniform trug. Er arbeitete wohl hier.
"Dein Onkel? Pass bloß auf dich auf, der Mann ist gefährlich, hörst du? Du darfst ihm nicht vertrauen", flüsterte er schon fast und der nun noch mehr besorgte Ausdruck in seinen Augen entging mir nicht.
"Ich weiß nicht was...", begann ich, doch in diesem Moment hörte ich erneut Schritte hinter mir und verstummte augenblicklich. Der Junge drehte sich hastig um räumte weiter neue Ware in das Regal zu unserer Linken ein.
"Sarah, alles klar? Komm, wir gehen", verkündete Nathan und ging bereits in Richtung Ausgang, da er wohl der Ansicht war, dass ich ihm unmittelbar folgen würde, doch ich zögerte, bis ich eine Hand auf meiner Schulter spürte.
"Du musst weg von ihm, ich warne dich. Bitte, du musst mir vertrauen. Pass auf dich auf", flüsterte er mir diese Warnung so nah ans Ohr, dass ich bereits seinen warmen Atem auf meiner Haut spürte, was mir eine Gänsehaut über den kompletten Körper laufen ließ.
"Aber ich..."
"Nein, geh. Er darf nichts merken, darf uns nicht zusammen sehen", unterbrach er mich und schob mich kaum merklich in Richtung Ausgang.
Ich folgte seinen Anweisungen und drehte mich nicht noch einmal um. Es fühlte sich so an, als ob ich gelähmt war und ich keinerlei Kontrolle über meinen Körper hatte, doch ich trieb mich immer weiter vorwärts zu Nate und immer weiter weg von dem Jungen.
Pass bloß auf dich auf, der Mann ist gefährlich, hörst du? Du darfst ihm nicht vertrauen.
Immer wieder hallten mir die Worte des Hawaiianers durch den Kopf und ich konnte mir einfach nicht erklären, was er meinte. Wer war dieser Junge?
Du musst weg von ihm, ich warne dich. Bitte, du musst mir vertrauen. Pass auf dich auf.
Ich musste es herausfinden, denn ich konnte das ungute Gefühl nicht loswerden, dass er vielleicht Recht hatte.
Auf der Fahrt nach Hause hatten wir wie bereits Stunden zuvor nur das wirklich unbedingt Nötigste gesprochen. Ein paar Mal versuchte mein Onkel mich in ein Gespräch zu verwickeln, doch ich ignorierte ihn und schenkte ihm keinerlei Beachtung.
Endlich war der Pick-Up in der Garage zum Stehen gekommen und ich sprintete sofort aus dem Wagen, durch die Tür in den Flur und schnell rauf in mein Zimmer. Ich wollte gerade einfach nichts mehr mit ihm zu tun haben. Ich musste mit meiner Mum darüber sprechen.
Ich warf meine Handtasche in die Ecke und holte mein Handy aus der Hosentasche hervor. Keine verpassten Anrufe. Ich musste zugeben, dass es mich doch etwas wunderte, dass meine Mutter nicht schon längst angerufen hatte. Vermutlich hatte sie das tolle Wiedersehen mit Nate durch ihre manchmal doch etwas überzogene Mutterliebe nicht verderben wollen. Tja, wenn sie bloß wüsste.
Noch war ich mir nicht ganz sicher, wie ich all das am Besten ansprechen sollte. Ich wollte sie nicht beunruhigen, aber das war nicht so leicht.
Pass auf dich auf... Du musst weg von ihm, ich warne dich.
Also über diesen Jungen sollte ich ihr gegenüber wohl besser kein Wort verlieren. Ich musste wohl oder übel selbst herausfinden, was es mit ihm auf sich hatte.
„Sarah, Süße! Na, wie geht es dir? Ich habe mir schon fast...", nahm sie nach nur einmal Klingeln das Gespräch sofort entgegen und verschluckte gerade noch rechtzeitig ihre übliche, fast schon alltägliche Sorge. Und wieder einer dieser bescheuerten Namen, die auch Nate nicht verlernt hatte.
„Mum, ich...", begann ich, doch ich merkte schlagartig, dass mir die Stimme ungewollt sofort versagte.
Mit aller Gewalt versuchte ich, meine Gefühle für mich zu behalten und sie nicht nach außen erkennbar zu machen, doch das war nicht so einfach wie gedacht. Um genau zu sein, war es so ziemlich das Fürchterlichste, was ich jemals tun musste und das Verrückte war, dass ich eigentlich kein Mädchen der übermäßig sensiblen Sorte war. Ich wusste einfach nicht, was ich von dieser ganzen Sache halten sollte.
„Was ist denn los? Du klingst etwas heiser."
„Nein, das liegt bloß an der schlechten Verbindung. Geht bestimmt gleich wieder", log ich hastig, was sie bestimmt auch gleich schluckte. „Sag mal, hat Nate nicht doch irgendwann mal Andeutungen über seinen Job gemacht?", fragte ich dann doch frei heraus und starrte während diese Worte meine Lippen verließen ununterbrochen zur Tür, um auf Schritte von Nate zu lauschen.
„Hm, nein nicht wirklich. Nur dass er in dieser Firma einen ziemlich hohen Posten bekleidet und darum in letzter Zeit kaum noch Freizeit hat. Wieso fragst du?"
„Er wirkt auf mich ziemlich gestresst und wird ständig ins Büro zitiert", entgegnete ich möglichst beiläufig und überlegte immer noch, ob und wie ich das mit den Narben auf seinem Rücken ansprechen sollte.
„Auf mich auch. Das scheint ihn wirklich ziemlich mitzunehmen. Vielleicht tut es ihm ganz gut, wenn du mal wieder bei ihm bist. Nimm ihm das nicht übel, Süße. Das wird bestimmt wieder besser", erklärte sie mir mit ihrer gewohnt fröhlichen Klangfarbe, dennoch hörte ich leichte Sorge heraus.
„Mhm", murmelte ich nachdenklich und kaute auf meiner Unterlippe herum, ehe ich doch noch beschloss sie nach seinem Rücken zu fragen. „Hat Nate eigentlich früher irgendwann mal in Schwierigkeiten gesteckt?", formulierte ich es vorsichtig und hoffte, dass ich auf diese indirekte Weise irgendwie an Informationen kam.
„Schwierigkeiten? Wie meinst du das?", fragte Mum nachdenklich und ich hörte förmlich, wie sie gerade ihre Stirn in Falten legte so wie sie es immer tat, wenn sie sich etwas nicht erklären konnte.
„Ach, ist nicht so wichtig. Ich mache mir einfach nur Sorgen", ruderte ich eilig wieder zurück als ich merkte, dass sie wohl offensichtlich nichts von solchen Vorkommnissen wusste. Wieso sie dann also weiter beunruhigen?
„Sarah, was..."
„Alles in Ordnung, ehrlich. Vielleicht braucht Nate einfach nur etwas Aufmunterung."
„Soll ich vielleicht mal mit ihm sprechen?", antwortete meine Mutter nun hellhörig geworden und ich schüttelte sofort den Kopf, bis mir einfiel, dass sie das ja sowieso nicht sehen konnte.
„Brauchst du nicht. Sag Joel einen lieben Gruß von mir, ja? Mach's gut Mum", beendete ich nun zügig das Gespräch und noch bevor sie etwas erwidern konnte, hatte ich bereits aufgelegt.
Jetzt umso aufgebrachter warf ich das blöde Telefon mit voller Wucht auf die Matratze, welches natürlich zurückfederte und krachend auf dem Boden landete, doch es kümmerte mich nicht.
„Sarah, alles okay?", erscholl auf einmal Nates Stimme vor meiner Tür, gefolgt von einem sachten Klopfen. Hatte er mich belauscht? Hatte er das Gespräch mit seiner Schwester mitbekommen? Ich hatte ihn nicht kommen hören, aber trotzdem glaubte ich nicht daran.
„Ja, alles okay", gab ich müde zurück und warf mich bäuchlings auf mein weiches Bett. Zu meiner großen Erleichterung protestierte Nathan nicht und ich hörte nun, wie er sich wieder entfernte und wohl in sein Schlafzimmer ging.
Nein, meine Mutter würde wohl nicht einfach nachgeben und ihn mit Sicherheit in den nächsten Stunden anrufen, schließlich war es hier auf Hawaii erst früher Abend. An die Zeitverschiebung dachte ich jetzt gerade erst, aber geweckt haben konnte ich sie nicht, denn sie war eine extreme Frühaufsteherin.
Sie wusste also augenscheinlich nichts über die Verletzungen von Nate und seinen Lebenswandel. Trotzdem war ich immer noch sehr neugierig und fragte mich, wie es dazu gekommen war. Vielleicht sollte ich mit dem Jungen sprechen, der mich in der Tankstelle angesprochen hatte? Scheinbar kannte er Nathan ja und das was er gesagt hatte, hatte mehr als kryptisch geklungen. So oder so nagte die unstillbare Neugierde an mir, seit mir seine Worte nicht mehr aus dem Kopf gehen wollten. Danach konnte ich immer noch weiter bei Nate bohren. Ich musste heute unbedingt nochmal zu der Tankstelle und herausfinden, was der hawaiianische Junge wusste und mir mit seinen Warnungen deutlich machen wollte.
Nathan hatte ich nichts gesagt, ich war einfach gegangen. Er war gerade duschen gewesen, also hatte ich unbemerkt aus dem Apartment schleichen und mich in den nächsten Linienbus setzen können. Mein Magen knurrte und ich hatte zugegebenermaßen auch einen riesigen Hunger, aber vermutlich war ich ja bald wieder zurück und er würde mein Verschwinden gar nicht erst bemerken.
Die Bushaltestelle lag nur einen kurzen Fußmarsch weit entfernt von dem Apartment meines Onkels. Sogar noch in derselben Straße. Das Ticket hatte nur einen Dollar gekostet, schließlich lag mein Ziel nur wenige Querstraßen weiter in Richtung der Küste. Die Bushaltestelle lag direkt neben der Tankstelle.
Während der kurzen Fahrt in dem nur wenig besetzten Bus starrte ich unentwegt nach draußen, auch wenn ich nichts mehr sehen konnte, bis auf schemenhafte Umrisse. Die Sonne würde in wenigen Minuten komplett hinter dem Horizont verschwinden. Ein wehleidiges Lächeln überzog meine Lippen, als ich daran denken musste, wie wenig ich bisher im Vergleich zu meinen letzten Aufenthalten von Hawaii gesehen hatte. Damals war es etwas völlig anderes gewesen. Meine Mum, mein Onkel und ich hatten von morgens bis abends jeden noch so kleinen Teil der Insel erkundet.
Bisher war ich hier noch nicht oft mit dem Bus gefahren und ich erkannte fast zu spät, dass wir vor der hellerleuchteten Tankstelle angekommen waren. Gedankenverloren bedankte ich mich bei ihm und stieg schließlich aus. Kaum, dass ich den Bus verlassen hatte, hörte ich auch bereits schon, wie der Motor aufheulte und das schwere Gefährt gemächlich seinen Weg fortsetzte.
Als gerade keine Autos die vielbefahrene Straße passierten, beeilte ich mich, um zügig über die Straße zu kommen. Mein Herz pochte wie wild, denn ich hatte zugegebenermaßen doch etwas Sorge, dass dieser Kerl bereits Feierabend hatte und nicht mehr anzutreffen war.
Beim Eintreten in den kleinen Laden, der zu der Tankstelle gehörte, erscholl wieder das leicht aggressiv klingende Leuten der Glocke an der Tür, was mich diesmal sogar zusammenzucken ließ. Suchend sah ich mich um, doch der Laden war jetzt noch ausgestorbener, als noch wenige Stunden zuvor. Wenn ich eins während meiner vielen Aufenthalte hier auf Hawaii gelernt hatte, dann die Tatsache, dass ab einer bestimmten Uhrzeit kaum noch ein Schwein auf den Straßen unterwegs war, alles verdammt früh zumachte und die Leute sehr früh ins Bett gingen, damit sie pünktlich zum sehr frühen Sonnenaufgang sofort wieder surfen gehen konnten. Am besten noch bis kurz vor Arbeitsbeginn.
Außer mir war wirklich kein einziger Kunde mehr zu sehen – weit und breit nicht. Nicht einmal jemand zum Tanken war gerade da. Vermutlich würde sogar die Tankstelle jeden Moment schließen. Ich überlegte bereits, wie ich am nächsten Tag nochmal hierherkommen würde, ohne dass Nate mich aufhielt und ich spürte, wie die Enttäuschung sich in mir breit machte, doch plötzlich sah ich, wie er aus einer Tür zum Mitarbeiterbereich kam. Scheinbar hatte er das Klingeln, was neue Kunden ankündigte, aber gar nicht gehört, denn er trug einen ganzen Stapel an offensichtlich schweren Kisten heraus und steuerte auf die Regale zu, ohne auch nur einmal in die Richtung der Tür und somit zu mir zu sehen.
Erst jetzt achtete ich so richtig darauf, wie er eigentlich aussah. Er trug weiße Sportschuhe, eine bis knapp über die Knie reichende kurze Hose und ein Mitarbeiter T-Shirt mit einem leichten V-Ausschnitt mit der Aufschrift der Tankstelle. Ich konnte kaum sein Gesicht sehen, aber die leichten Schweißperlen, die ihm auf der bronzefarbenen Haut standen. Ganz zu schweigen von den muskulösen Oberarmen, die ich nur mühsam wieder aus meinem Kopf bekam und ich mich nur schwer wieder auf mein eigentliches Ziel konzentrieren konnte.
Der junge Hawaiianer, der schätzungsweise zwei Jahre älter war als ich, stellte die Kisten vorsichtig vor sich ab und begann sie zu öffnen, um den Inhalt in die Regale zu räumen. Noch hatte er mich nicht bemerkt, obwohl ich immer näher auf in zuging und ich schließlich unmittelbar hinter ihm stand.
„Aloha", gab ich mich leise zu erkennen, um ihn nicht zu erschrecken, doch trotzdem hielt er mitten in der Bewegung inne und drehte sich zu mir um. Zunächst wirkte sein Blick verwirrt, doch als er mich wieder erkannte, schlicht und ergreifend einfach nur noch besorgt.
„Was machst du denn hier? Ist er hier?", wollte er umgehend von mir wissen, während er den Inhalt der Kiste zurücklegte, sich aufrichtete und seine Hände an der Hose saubermachte.
„Was? Ähm, nein ist er nicht. Ich will nur... mit dir reden", erklärte ich und vergrub dabei meine Hände meinerseits in den Hosentaschen, da ich sonst einfach nicht so recht wusste, wohin mit ihnen. „Ich hätte da ein paar Fragen, bei denen ich mir sicher bin, dass..."
„Nein, nicht hier. Wir sollten...", unterbrach er mich schnell und schüttelte entschieden Kopf, doch weiter kam er auch nicht.
„Kaden! Ich bezahle dich nicht dafür Mädchen aufzureißen, sondern dafür, dass du die verfluchten Regale einräumst. Mach das gefälligst nach deiner Arbeitszeit oder willst du nicht auch endlich mal nach Hause?", vernahmen wir die kratzige Stimme des Tankstelleninhabers, die uns beide zusammenfahren ließ. Ein kurzer Blick auf den Mann verriet mir, dass er keine Verzögerung dulden würde. Nicht einmal eine minimale. Er war auf jeden Fall kein Hawaiianer, sondern Amerikaner und man sah ihm deutlich an, dass er im Laufe seines Lebens eindeutig zu viele Burger gegessen hatte. Kaden verdrehte nur genervt die Augen.
„Warte draußen auf mich, okay? Ich brauche nicht mehr lange. Mein Bike steht hinter diesem Gebäude. Dann reden wir", bat er mich und legte mir fragend eine Hand auf die Schulter.
„Ja, in Ordnung, Kaden", gab ich vielleicht etwas zu hastig und bereitwillig zurück und nickte eifrig, obwohl ich diesen Kaden ja eigentlich überhaupt nicht kannte.
Meine Mutter und sogar auch mein Onkel würden mich mit großer Wahrscheinlichkeit für verrückt erklären, wenn sie davon wüssten, dass ich mit einem fremden Jungen mitging und mich dann auch noch auf sein Motorrad setzte, aber mir blieb ja sowieso keine andere Wahl und schließlich ging es ja um Nate. Wie ein Serienkiller sah er mit seinen freundlich strahlenden Augen nun wirklich nicht aus, also musste ich mir ja hoffentlich keine Sorgen machen.
In diesem Moment ließ Kaden mich los und dort, wo er mich berührt hatte, glühte meine Haut. So etwas hatte ich noch nie erlebt, aber es fühlte sich... so gut an. Für einen kurzen Augenblick sah er mich an und ich meinte sogar zu sehen, dass er mich leicht anlächelte, doch dann hatte er sich auch schon wieder umgedreht und wieder seiner Arbeit gewidmet.
Als ich endlich vor der Tür stand und wieder frische Luft einatmete, beruhigte sich mein Herzschlag wieder etwas, doch mir ging nicht aus dem Kopf, was der Tankstellenbesitzer gesagt hatte.
Ich bezahle dich nicht dafür Mädchen aufzureißen...
Mir war nicht so ganz bewusst wieso, doch dieser Satz löste ein ganz seltsames Gefühl in mir aus.
Obwohl heute ein ziemlich sternenklarer Abend war, war es hinter der Tankstelle so verdammt dunkel, dass ich kaum etwas erkennen konnte. Nur eine sehr matte Birne, welche provisorisch an der Seitenwand befestigt war, schenkte etwas mehr Helligkeit. Ich hatte ein ungutes Gefühl, mich alleine hierher zu begeben und mich mit einem Kerl zu treffen, den ich nicht kannte, aber selbst wenn ich ernsthafte Zweifel gehabt hätte: Die Neugierde siegte immer. Außerdem hatte ich zu Hause schon viel riskantere Dinge abgezogen.
Schließlich sah ich es. Ein schwarzes Bike mit einem roten Helm am Lenker. Ich kam mir vor wie in einer schmalen Seitenstraße in Köln in einer sehr zwielichtigen Gegend. Als ich aber erst einmal vor dem Gefährt stand, mich gegen die Wand lehnte und wartete, erschien mir die Gegend gar nicht mehr so ungewohnt. Die Grillen zirpten, ein angenehm kühlender Wind erfasste mein Haar und wirbelte es leicht umher und es roch angenehm nach Hibiskus, welche sich rings um die Tankstelle wild verbreitet hatten, wie mir nun auffiel.
Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, jedoch war es mir nicht sonderlich lange vorgekommen, als sich eine Hand vorsichtig aber fest wieder auf meine linke Schulter legte. Vielleicht erschreckte ich mich auch deswegen so, weil ich noch nicht damit gerechnet hatte. Als ich mich ruckartig umdrehte und ich unmittelbar in die dunklen Augen von Kaden sah, beruhigte ich mich aber umgehend wieder etwas und holte erst einmal tief Luft.
„Mann, hast du mich erschreckt", keuchte ich fast noch, woraufhin er mich erst etwas seltsam ansah, dann aber schwach lächelte.
„Tut mir leid, das war nicht meine Absicht", erwiderte er, während er sich seinen Helm schnappte, ihn aufsetzte und unter seinem schmalen Kinn schloss. „Sorry, dass du etwas warten musstest. Mein Chef kann ein ziemlicher Arsch sein, wenn er will."
„Das macht doch nichts", gebe ich etwas abwesend zurück, während ich ihm bei jeder einzelnen Bewegung zusehe, während er sich an dem kleinen Verstauraum seines Motorrads zu schaffen machte.
Ohne sein Arbeitsoutfit sah er noch um einiges besser aus, wenn das überhaupt noch möglich war. Zugegebenermaßen hatte ich aber auch einen echt starken Tick etwas exotischeren Jungs gegenüber. Das war schon so, seit ich überhaupt Interesse an Jungs hatte, doch mit Kaden war das nochmal ein Fall für sich. Sein Tank-Top betonte seine Muskeln und seinen Körper ein ganzes Stück mehr und das brachte mich erstmal zum Schlucken.
„Wohin fahren wir?", fragte ich ihn, als ich sah, dass er einen zweiten blauen Helm hervorgeholt hatte, aber hauptsächlich wollte ich damit einfach nur wieder meine Gedanken ordnen.
„In die Stadt. Hast du Angst vor Motorrädern?", wollte er jetzt wissen, hielt in der Bewegung inne und musterte mich neugierig, aber gleichzeitig auch etwas besorgt wie mir schien.
„Naja, Angst nicht direkt, aber Respekt. Ich bin noch nie mit so etwas gefahren und wenn meine Mum davon wüsste, würde sie mich mit großer Wahrscheinlichkeit steinigen", erkläre ich schulterzuckend und lege dabei wohl einen düstereren Gesichtsausdruck auf, als beabsichtigt, denn Kaden lachte. Er lachte einfach drauf los und die ganze Situation wurde dadurch so obskur und seltsam, dass ich plötzlich den starken Drang verspürte, einfach über mich selbst zu lachen und diesen Impuls konnte ich auch nicht mehr stoppen.
„Das habe ich mir gerade richtig gut im Kopf ausmalen können", gestand er und zuckte nun seinerseits entschuldigend mit den Schultern, dass er lachen musste, obwohl ich mit eingestimmt hatte. „Also komm, hab keine Angst, setz dich einfach hinter mich und dann gut festhalten", erklärte er mir und zwinkerte mir vielsagend zu.
Kaden reichte mir den Helm und während ich mir diesen gewissenhaft aufsetzte und ebenfalls verschloss, setzte er sich bereits hinter das Steuer, machte das Licht an und startete den Motor. Das Rattern des Bikes durchbrach die sonst so ruhige und friedliche Nacht und ließ mich zögern, doch er drehte sich nur zu mir um, um eine einladende Geste hinter sich auf das Motorrad zu machen. Wenige Augenblicke später saß ich dann immer noch mit einem gewissen Abstand hinter ihm.
„Und wo genau fahren wir nun hin?", möchte ich von Kaden wissen, während dieser plötzlich meine Hände packte und sachte an seine eigene Hüfte legte.
„Ich lade dich ein auf einen Burger, was meinst du? Dein Bauchknurren ist mir schon in der Tankstelle aufgefallen", bot er mir an und ich spüre sofort, dass meine Wangen rot wurden. Das lag aber nicht einmal an seiner Bemerkung, sondern viel mehr an der Tatsache, dass die Berührung seiner Taille, die Wärme, die sein Körper ausstrahlte, einen angenehmen Schauer durch meinen laufen ließ und meine Fingerspitzen zum Kribbeln brachte. Wenigstens konnte ich das somit ganz gut überspielen.
„Hm stimmt, ich habe ziemlichen Hunger. Das wäre sehr nett von dir, aber ich...", versuchte ich konzentriert zu widersprechen, um mich nicht doch noch selbst zu verraten, doch er ließ mich diesen Satz gar nicht erst beenden.
„Kein aber, das mache ich gerne. So und jetzt halt dich gut an mir fest, okay? Los geht's."
Noch als er das sagte, gab er Gas und wir verschwanden zunächst in die tiefe Dunkelheit, bis wir auf eine einsame kleine Landstraße auffuhren und in Richtung Kona-Zentrum unterwegs waren.
Kurze Zeit später saßen wir in einem typischen amerikanischen Restaurant mit einem leicht hawaiianischen Touch, nachdem ich Kaden erfolgslos versucht hatte auszureden, dass er mich einladen müsste. Das Restaurant war übersäht mit Sammlerstücken wie zum Beispiel diversen Autoschildern oder Deko mit Ananas. Die Bedienungen, selbst die männlichen, trugen die traditionellen Baströcke. Es war wirklich ein toller Platz für einen Laden wie diesen hier. Er lag direkt an der Strandpromenade und ich war auch mit Nate schon öfter daran vorbeigelaufen, aber ich hatte ihn nie besonders wahrgenommen. Wie ich nun feststellen musste ein großer Fehler, ich hätte diesen Platz schon viel früher finden müssen.
Kaden und ich saßen an einem der Tische, welche direkt an die völlig unverglaste Panoramasicht anschlossen. So konnte ich stetig auf das schwarze mysteriös wirkende Meer blicken, welches vor allem abends sehr hoch über die niedrige dort errichtete Mauer schwappte. Die Laternen dort entlang gaben dem tosenden Wasser eine merkwürdige Beleuchtung. Obwohl es noch nicht so spät war, waren die Straßen bereits jetzt schon wieder wie ausgestorben, was hier aber generell ja keine Seltenheit war. Lediglich unser Restaurant war noch verhältnismäßig voll.
Als ich aufsah und der festen Überzeugung gewesen war, dass Kaden auch weiterhin die Karte studierte, obwohl eigentlich ja sowieso schon längst klar war, was wir wählen würden, musste ich feststellen, dass er mich beobachtete. Jedoch nicht kritisch oder argwöhnisch, sondern einfach nur neugierig und sogar freundlich, indem er mir sein schönes Lächeln schenkte.
„Also, was bestellst du?", fragt er mich, während er die Karte schlosst und weglegte.
„Das fragst du mich auch noch? Habe ich denn überhaupt eine Wahl, nachdem du mir so von den Burgern hier vorgeschwärmt hast?", gab ich spielerisch beleidigt.
„Es freut mich, dass ich so überzeugend sein kann", erwiderte er lachend. „Ich nehme das gleiche. Jetzt erzähl aber doch mal... Du warst also schon öfter hier, hast aber noch nie einen Burger hier gegessen?", fragt er mich und wirkt schrecklich schockiert, was natürlich nur Spaß sein sollte.
Ich musste erneut lächeln. Die ganze Situation hier mit Kaden war auf eine positive Art und Weise so seltsam und anders, als ich es mir vorgestellt hatte, dass ich mich hier bei ihm und in seiner Gesellschaft einfach nur rundum wohl fühlte, obwohl ich ihn erst seit gefühlten fünf Minuten kannte. Das hier fühlte sich ein wie ein ganz normales Treffen mit einem Typ, den man sehr nett fand. Eben das, was man in meinem Alter normalerweise tat.
„Nein, bisher noch nie. Ein folgenschwerer Fehler wie ich dank dir schon gemerkt habe", antwortete ich ehrlich schuldbewusst, woraufhin er nur den Kopf schüttelte.
„Schande über dich, Sarah."
Verwundert zog ich eine Augenbraue hoch und sah ihn irritiert an. Ich konnte mich nicht daran erinnern, ihm meinen Namen gesagt zu haben.
„Woher weißt du meinen Namen?"
Und mit dieser Frage war die sonst so sorglos wirkende Atmosphäre Geschichte. Ich sah Kaden an, dass sich seine Stimmung schlagartig änderte. Von einer Sekunde auf die nächste war seine Fröhlichkeit verschwunden.
„Von deinem... Onkel", sagte er nach einigen verstrichenen Sekunden leise, sah mir dabei aber nicht in die Augen, sondern spielte mit seiner Serviette herum. Selbstverständlich entging mir nicht, wie er das letzte Wort betonte. Unsicher kaute ich mir wieder auf der Unterlippe herum, denn ich war mir absolut nicht sicher, wie ich nun am besten vorgehen sollte, schließlich spürte ich mehr als deutlich, dass das Thema nicht nur mich so beunruhigte.
„Ach so, stimmt. Sag mal... Ich hatte das Gefühl ihr kennt euch. Sogar gar nicht so schlecht", versuchte ich das Thema vorsichtig anzukratzen. In diesem Augenblick sah er mich wieder an.
„Na ihr zwei Turteltauben? Habt ihr gewählt?", platzte die Kellnerin gerade dann dazwischen, als er bereits den Mund geöffnet hatte, um mir zu antworten.
Die Anrede die sie nutzte, hätte in dieser Situation nicht unangebrachter sein können, doch schließlich meinte sie es ja nur gut. Vermutlich wirkten wir eben auch nicht so, als ob wir gerade etwas sehr Wichtiges zu besprechen hatten, sondern so, als ob wir uns etwas schwer mit unserem ersten Date taten. Verständlich, schließlich war das etwas völlig Normales im Vergleich zu der eigentlichen Thematik.
„Zwei Mal euren Burger mit der hausgemachten Soße", bestellte Kaden schnell, damit die Frau uns direkt wieder in Ruhe ließ.
Für einen kurzen Moment sah ich, wie er überlegte und sich erneut die passenden Worte zurecht legte und es verstrichen wieder mehrere Sekunden bis er seufzte und endlich wieder aufsah. Ich hatte bereits angenommen, dass er vergessen hatte, wo wir stehengeblieben waren, doch das wäre höchst unlogisch gewesen.
"Sarah, eigentlich habe ich dich hierher gebracht, weil ich dich zunächst etwas kennenlernen wollte. Um herauszufinden, ob ich dir vertrauen kann, verstehst du? Ich kann mir nur zu gut vorstellen, wie seltsam das alles für dich sein muss, aber du musst dich noch etwas gedulden. Du bist ein schlaues Mädchen. Ich bin mir sicher, dass du schon mehr weißt, als du denkst", sagt er schlussendlich mit einer festen und zugleich ruhigen Stimme, während er mich keine Sekunde aus den Augen ließ und mich aufmerksam beobachtete. "Treffen wir uns morgen im Kahaluu Beach Park, ja? Dann reden wir. Es gibt einiges zu besprechen. Bis dahin... Hier ist meine Handynummer. Du kannst mich jederzeit anrufen", fuhr er fort und nun erkannte ich, was er gerade noch so leserlich auf die Serviette vor sich gekritzelt hatte.
"Ich danke dir für dein Vertrauen und deine Hilfe", sagte ich, während ich die Serviette sorgfältig zusammenfaltete und in meiner Hosentasche verschwinden ließ und das war nicht nur so daher gesagt. Ich meinte es wirklich aufrichtig. Das aller erste Mal seit ich hier auf Hawaii angekommen war, fühlte ich mich jetzt wieder ein Stückchen mehr wohl und in Sicherheit und das alles lag nur an ihm.
Als ich wieder aufsah und ich Kadens Blick streifte, lächelte er nun doch wieder, denn er hatte mir meine Dankbarkeit wohl angesehen. Dennoch war sein Blick leer und irgendwie auch besorgt.
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