21. Kapitel: Sarah
Mittwoch, 12. August
Ein sanftes Klopfen an der Tür zu meinem Zimmer weckte mich langsam aus dem Schlaf. Träge öffnete ich meine Augen und stellte schnell fest, dass es immer noch absolut dunkel und ruhig um mich herum war. Es war immer noch mitten in der Nacht. Ich fühlte mich gerädert und immer noch so erschöpft wie zu dem Zeitpunkt, als ich mich hierher zurückgezogen hatte. Nach alle dem was Nathan mir erzählt hatte erst recht. Wer wollte denn nun schon wieder etwas von mir?
Als es immer noch nicht aufhörte zu klopfen, wenn auch vorsichtig, stöhnte ich und setzte mich mit einem schwirrenden Kopf etwas auf.
„Was?", fragte ich müde durch die Tür hindurch, woraufhin sie einen kleinen Spalt weit aufging.
„Ich bin es. Darf ich reinkommen?", ertönte Kadens Stimme und meine Stimmung hob sich gleich wieder um ein Vielfaches.
„Natürlich", entgegnete ich und räusperte mich danach erst einmal etwas verlegen.
Kaden betrat umgehend den Raum, woraufhin ein heller Lichtschein vom Gang in mein dunkles Zimmer strömte und mich die Augen zusammenkneifen ließ, doch dann war diese Lichtquelle auch schon wieder verschwunden und neben mir am Fußende saß ein lächelnder Kaden, der mich nun liebevoll ansah.
„Tut mir leid, ich wollte dich nicht wecken. Ich wollte dich nur etwas fragen", erklärte er sich leise und als sich meine Augen wieder mehr der Dunkelheit angepasst hatten, sah ich nun auch seine Züge deutlich besser.
„Ich konnte sowieso nicht sonderlich gut schlafen. Worum geht es?", wollte ich nun neugierig von Kaden wissen und war dankbar für die Ablenkung.
„Es ist zwar noch früh, aber ich muss weg. Ich wollte mir Sams Wagen leihen, mein Bike ist ja noch irgendwo im Dschungel. Ich möchte mehr über das erfahren, was Nate ist", sagte Kaden, griff nach meiner Hand, die auf der Decke lag und drückte sie dann kurz fest.
„Was heißt das du willst weg? Wo willst du denn hin?", wollte ich verunsichert von ihm wissen und war sofort hellwach.
„Es gibt auf dieser Seite der Insel einen Ort, an dem ich glaube mehr erfahren zu können. Ich möchte... verstehen und genau wissen, womit wir es hier zu tun haben", erläuterte der junge Hawaiianer, während er kleine kreisende Bewegungen über meinen Handrücken machte. „Falls du möchtest, kannst du mitkommen."
„Jetzt? Aber...", begann ich verwundert über Kadens plötzliche Entschlossenheit, doch er legte mir kurzerhand seinen Zeigefinger über die Lippen und brachte mich so zum Schweigen.
„Vertraust du mir?", wollte er in diesem Augenblick nun zum wiederholten Male von mir wissen, worüber ich nicht allzu sehr nachdenken musste. Ich nickte, während sein Finger immer noch auf meinen rauen Lippen lag. „Gut und wenn ich dir nun sage, dass ich selbst auch nicht viel über diese Geschichten über die Keeper weiß und dich gerne dabei hätte, wenn wir auf Spurensuche gehen... Würdest du dann mitkommen?"
Seine Augen strahlten selbst in dieser dunklen Umgebung wie Diamanten und obwohl ich kurz gezögert hatte, wusste er ganz genau, dass er mich damit immer überzeugen konnte.
„Okay, ich komme mit, aber wie kommen wir an Sams Autoschlüssel?", gab ich schnell nach und noch ehe ich meine Bedenken richtig zu Ende formulieren konnte, hatte Kaden seine Hand zurückgezogen und hielt jetzt einen Schlüsselbund triumphierend in die Höhe. Ein selbstgefälliges Grinsen im Gesicht, worüber ich nur die Augen rollte.
Nachdem ich mich eilig umgezogen und mit Kaden zusammen wie Mäuschen aus dem stillen Haus geschlichen war, saßen wir nun in Sams Auto und brausten durch die pechschwarze Nacht. Ich hatte das Fenster an der Beifahrerseite leicht geöffnet und ließ mein Haar durch den wilden Fahrtwind leicht zerzausen und meine Haut kühlen, denn es war immer noch unverhältnismäßig Warm um diese Uhrzeit. Während der Fahrt sprachen wir nicht sonderlich viel, denn ich war immer noch ziemlich müde, doch sobald Kaden immer mehr in die einsame Natur fuhr und schließlich auf einen ungeteerten, schmalen Weg abfuhr, war ich hellwach. Der dicht gewachsene Urwald, welcher fast die gesamte Fahrt über die Landschaft geprägt hatte, war nun vollends verschwunden und wurde auf einen Schlag hin durch ein riesiges von Lava überzogenes Feld ersetzte. Soweit die Scheinwerfer von Sams Auto reichten, sah ich nur erstarrte Lava, bis Kaden umschwenkte und wieder auf einen Weg, welcher weiter in die Felder hineinführte, auffuhr.
„Wo sind wir hier?", fragte ich staunend, bis der Hawaiianer an einem alten verrosteten Eisentor zum Stehen kam und mir bedeutete auszusteigen.
„Unter diesen Lavafeldern liegt das älteste Dorf meiner Vorfahren auf dieser Insel. Das letzte Mal war ich mit meinem Großvater hier, als ich noch ein kleiner Junge war. Dieser Ort ist heilig für mein Volk und ich hoffe, dass wir hier mehr erfahren können", erklärte Kaden und steuerte auf das Tor zu, an welchem die hawaiianische Flagge prangte. Die Scheinwerfer des Autos waren immer noch eingeschaltet, darum bemerkte ich sofort, wie sich eine Gestalt hinter dem Gatter aus den Schatten löste und auf uns zu kam. Etwas verunsichert sah ich hoch zu Kaden, doch dieser schien nicht beunruhigt zu sein, also richtete ich meinen Blick wieder nach vorne.
„Wer seid ihr?", durchbrach eine tiefe Stimme die kurzzeitig eingetretene Stille und Kaden räusperte sich, ehe er etwas vor mich trat.
„Ich bin Kaden, Sohn des Akamu vom westlichen Stamm und das ist Sarah, meine Freundin", erklärte Kaden sachlich und dennoch spürte ich, wie mein Herz einen Satz machte, als er mich so vorstellte.
„Was wollt ihr hier?", bohrte der Mann weiter und trat nun endlich so weit vor, dass ich ihn erkennen konnte. Er sah aus wie ein Bodybuilder, war ungefähr so alt wie Nate, wirkte grimmig und sein Gesicht war mit Narben überzogen. Automatisch ging ich einen Schritt zurück.
„Wir sind hier, um zu lernen. Sarahs Onkel ist ein Keeper und wir müssen wissen, womit genau wir es zu tun haben", fuhr Kaden unbeeindruckt durch das harte Auftreten des Wächters fort, doch dieser beäugte uns nur kritisch, ehe er die Arme vor der Brust verschränkte.
„Jeder deines Stammes sollte diese Geschichte kennen, Kaden, Sohn des Akamu. Außerdem ist das hier eine heilige Stätte, die nur Hawaiianer betreten dürfen", beharrte der Kerl vor uns, ohne mich dabei eines Blickes zu würdigen.
„Ich habe Grund zu der Annahme, dass mir nicht alles erzählt wurde", erklärte Kaden, ohne auf den Hinweis des Mannes bezüglich mir einzugehen. „Wir haben eine Frau kennengelernt, von der ebenfalls in uralten Briefen die Rede ist und die exakt so aussieht, wie auf einem Bild aus dieser Zeit. Diese Frau, Samantha Collins, hat eine ganz seltsame Bindung zu Nathan Striker inne. Wir wollen wissen, womit das zusammehängt", fuhr Kaden einfach fort und der Kraftprotz vor uns schien bereits sauer zu werden, bis Kaden jedoch die Namen fallen ließ.
„Samantha Collins sagtest du?", wiederholte der Kerl und beugte sich dabei etwas wieder vor, um Kaden kritisch zu mustern, als dieser nickte. „Und du bist dann also die Nichte von Nathan Striker?", fragte er weiter, wandte sich nun zum ersten Mal bewusst mir zu und beäugte mich nachdenklich und gleichzeitig auch überrascht. Ich nickte wie gelähmt, als mich seine starren Augen durchbohrten.
„Ihr dürft passieren. Kaapo erwartet euch bereits", verkündete der Wächter nach einigen erdrückenden, ruhigen Augenblicken, ehe er das Tor öffnete, uns beide hereinließ und uns schließlich bedeutete, ihm zu folgen.
„Wer ist denn Kaapo?", flüsterte ich Kaden so leise wie möglich ins Ohr, damit uns Kraftprotz nicht hören konnte.
„Das ist der Inselälteste. Er weiß alles. Noch um ein Vielfaches mehr als mein Großvater", berichtete Kaden, blickte dabei aber weiterhin stur geradeaus, während wir uns in dem fahlen Schein einer Taschenlampe einen Weg über das Lavagestein bahnten, welches immer noch so scharf wie Glas war.
Nach einigen Minuten Fußmarsch erreichten wir einen durch brennende Fackeln abgesperrten Bereich, in dessen Mitte eine Art Schrein aufgebaut zu sein schien. Davor stand ein Mann mit dem Rücken uns zugewendet, hinter dem wir schlussendlich zum Stehen kamen.
„Kaden, Sarah. Es schön, euch endlich kennenzulernen", wendete sich der Mann nun an uns, obwohl er sich immer noch nicht umgedreht hatte. „Es war nur eine Frage der Zeit, bis ihr mich aufsucht. Tretet näher, wir haben einiges zu besprechen", sagte der ältere Mann mit einer leicht zerbrechlich wirkenden Stimme, ehe er sich in Bewegung setzte und uns zu sich winkte.
Kaden sah mich vielsagend an, folgte Kaapo aber dann und ich tat es ihm gleich, bis der Hawaiianer mich anstupste und auf den Boden zeigte. Erst jetzt fiel mir auf, dass die Lavafelder mit kunstvoll eingeritzten Zeichnungen übersäht waren.
„Petroglyphen", murmelte mir Kaden ins Ohr, während ich beim Laufen nun wie gebannt auf den Boden starrte und die verschiedenen nachgestellten Jagdszenen begutachtete.
„Kommt, schaut", verkündete der alte Mann in der traditionellen hawaiianischen Robe dann aber und mein Blick wanderte wieder zurück zu ihm. Er wirkte ernst und verschlossen, als er auf den Boden unmittelbar zu seinen Füßen deutete und wir ohne zu zögern beide neben ihn traten. „Auf diese Art und Weise haben damals unsere Vorfahren die, wie sie in eurer Sprache heißen, Keeper dargestellt", erläuterte Kaapo an mich gewandt und zeigte auf einen eingeritzten Menschen, der allerdings ohne Kopf dargestellt wurde, doch ehe ich weiter darüber nachdenken konnte, fuhr er fort. „Und das ist die Darstellung der Wayfarer, die unsere Ahnen wählten", meinte Kaapo und zeigte dann auf die Zeichnung unmittelbar daneben, die wieder eine Person mit Kopf und einem Art Glanz um sie herum darstellte.
„Wayfarer? Davon habe ich noch nie gehört", meldete sich nun Kaden zu Wort, während ich immer noch im Bann der verschiedenen Erzählungen zu meinen Füßen war.
„Das ist auch nicht für viele Ohren des Stammes bestimmt, Kaden, jedoch ist es bei euch von absoluter Dringlichkeit, dass ihr davon erfahrt", erklärte Kaapo und sah dabei wieder abwechselnd zwischen uns hin und her, wobei er dann an mir hängenblieb. „Sarah, dein Onkel ist ein Keeper und Samantha Collins ist seine Wayfarer."
„Was soll das bedeuten?"
„Sie sind verbunden. Keeper sind von der Göttin Nauk eingesetzt, um ihre Definition von Gerechtigkeit und Schicksal durchzusetzen – egal zu welchem Preis. Wayfarer hingegen wurden als Gegenstück zu den Keepern von all unseren anderen Göttern berufen, um diesen Grausamkeiten entgegenzuwirken mit dem Ziel, sie eines Tages wieder von Nauk zu lösen. Zu jedem Keeper gehört ein Wayfarer, der für immer an ihn gebunden bleibt."
„Weiß Samantha das?", fragte Kaden allgegenwärtig, als ich noch gänzlich nicht in der Lage war, mir darüber eine richtige Meinung zu bilden.
„Nein, tut sie nicht. Sowohl die Keeper, als auch die Wayfarer durchlaufen immer zu einen Zyklus, in dessen ersten Stadium sie nicht wissen, wer oder was sie sind."
„Wie sollen wir das nun wieder verstehen?", schaltete ich mich dann doch ein, obwohl mir der Kopf mehr als schwirrte.
„Dein Onkel ist älter, als du glaubst, Sarah. Ebenso wie Samantha Collins", war alles, was er daraufhin sagte und ich spürte, wie mir jegliches Blut aus den Wangen wich.
„Das bedeutet also, dass... Samantha heute immer noch dieselbe Person ist wie die auf diesem uralten Bild, welches ich gefunden habe?", traute ich mich mit wild pochendem Herzen nachzuhaken und Kaapo nickte.
„So ist es."
„Und was ist das was mit Nathan hinter dem Haus passiert ist?"
„Das ist gerade erst der Anfang", entgegnete der Älteste kryptisch und ich wurde das Gefühl nicht los, dass das noch viel größere Ausmaße annehmen würde, als zunächst gedacht.
Als wir wieder zurück an Samanthas Haus angekommen waren und wir während der Fahrt erneut nur geschwiegen hatten, machte sich wieder dieses mulmige Gefühl in meiner Magengrube breit. Nun hatte ich also Gewissheit über diese ganzen Dinge, die Nathan betrafen und dennoch war ich unruhiger als jemals zuvor.
„Sarah, wir sind da", sagte Kaden leise neben mir und legte vorsichtig seine Hand auf meinen auf dem Oberschenkel ruhenden Unterarm, woraufhin ich aufsah. „Wenn du möchtest, kannst du auch erst einmal alleine rein gehen und mit Nathan sprechen. Ich verstehe das", meinte er, während ich wieder nach draußen sah und abwesend beobachtete, wie sich die Sonne langsam aber sicher am Horizont erhob.
„Das wäre gut, danke", bestätigte ich matt und lächelte ihm schwach entgegen. „Ich rufe, wenn ich dich brauche."
Mit zitternden Fingern schloss ich die Tür mit dem Schlüsselbund auf, den Kaden mir eben gegeben hatte. In der ersten Sekunde schien alles ruhig zu sein, doch dann sah ich, wie Nathan den Kopf um die Ecke streckte und dann mit Samantha im Schlepptau stürmisch auf mich zu kam.
„Wo warst du?", fuhr er mich energisch an und ich machte automatisch einen Schritt rückwärts, ehe Samantha ihn an der Schulter zurückhielt.
„Mit Kaden unterwegs", gab ich schlicht zurück und ich sah, wie sich Nathans Augen verengten.
„Vermaledeiter Junge! Wo habt ihr euch rumgetrieben? Wir haben uns Sorgen gemacht!", fuhr Nathan wild gestikulierend fort, allerdings war das eine andere Art der Wut, die ich dieses Mal an ihm sah.
„Nathan", warnte nun auch Sam hinter ihm und Nate schloss für einen kurzen Augenblick seine Augen, ehe er seine zu Fäusten geballten Hände wieder lockerließ.
„Tut mir leid. Ich habe mich nur wirklich erschrocken, als du plötzlich weg warst", erklärte sich Nathan und seufzte.
„Wir waren bei einer heiligen Stätte seines Stammes und haben... mehr über euch erfahren", versuchte ich mich behutsam an das Thema zu wagen und schluckte schwer.
„Über... uns?", wollte Nathan irritiert von mir wissen und legte seine Stirn nun nachdenklich in Falten.
„Ja. Ich glaube dir jetzt, Nate. Ich weiß, dass alles wahr ist. Und ich weiß auch, was es mit den... Briefen und dem Bild auf sich hat", erläuterte ich und wartete darauf, dass die beiden vor mir sich endlich rührten, doch weder Nate noch Sam rührten sich. Nathan blinzelte lediglich mehrfach verunsichert, doch dann löste sich Samantha endlich aus dieser Starre und kam auf mich zu.
„Komm, lass und das lieber drinnen besprechen. Ich wollte sowieso gerade mit Nate darüber...", begann sie und legte währenddessen freundschaftlich eine Hand auf meine Schulter, doch dann verstummte sie schlagartig.
„Sam?", fragte ich verunsichert, als sie keine Anstalten machte um weiterzusprechen und mich wie eingefroren mit weit aufgerissenen Augen ansah.
„Du... ich...", stammelte sie plötzlich und blinzelte mehrfach hintereinander, ehe sie sich zu Nathan umwandte. „Sie hat recht. Deine Nichte ist ein Medium, Nate, und ich bin deine Wayfarer. Die Briefe waren... Ein Vermächtnis von meinem früheren Ich", sagte sie mit blecherner Stimme und krallte sich so kraftvoll in meiner Schulter fest, dass ich beinahe schmerzhaft aufstöhnen musste.
„Sam, was soll...", schaltete ich mich nun gänzlich überrumpelt wieder ein, doch in exakt dieser Sekunde begann mein Handy zu klingeln.
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