Eleven ~ She Loved It
"Wann hast du es gelernt?" Ich sah ihn fragend an und wartete auf eine Antwort. Er drehte an seinem Armband rum und hob seinen Blick. "Meine Mutter liebte es. Sie liebte die Musik und lebte für den Klang vom schwarzen Flügel. Sie hat es mir beigebracht."
Ich nickte. Er sagte, liebte. Warum tat sie es jetzt nicht mehr? Ich wollte nicht nachfragen, denn wir kannten uns so ziemlich gar nicht. Peinliche und komische Stille breitete sich aus. Die ersten Töne konnte ich mittlerweile spielen, auch wenn ich mich oftmals verspielte. Mit der Zeit würde es sicherlich besser werden. Mit ihm zu üben war wirklich viel einfacher, als mit Mrs White. Sie folgte den Lehrbüchern und er... er folgte seinem Gefühl und Verstand.
"Was brauchst du?" Verwirrt drehte er sich in meine Richtung. Wir hatten einen Deal. Er würde mir Klavier spielen beibringen und ich kaufte ihm, was er brauchte. Der Dieb griff nach seiner Jacke und zog sie sich über. "Schmerzmittel...", murmelte er unsicher und wich meinen zusammengekniffenen Augen aus. Warum zum Teufel brauchte er immer Schmerzmittel?
"Bist du verletzt? Krank?" Ich suchte nach einer Verletzung, aber das einzige, was schmerzhaft aussah, waren die Hände. Er winkte ab. "Nein, nein alles gut. Es hat einen anderen Zweck." Er klappte den Flügel zu und sortierte die Notenblätter zurück in meine Mappe. "Bist du süchtig?" Er stockte in seiner Bewegung und sah mich abwertend an. "Nein. Ganz bestimmt nicht. Das Zeug ist einfach nicht für mich. Stell nicht so viele Fragen, Zwerg."
Ich bückte mich zu meiner Tasche und legte die Mappe in ein Fach, welches noch frei war. "Sonst noch was?"
Seine versteinerte Miene bröckelte für eine kurze Zeit und verlegen kratzte er seinen Hinterkopf. "Farbstifte und einen Papierblock? Vielleicht noch ein Radiergummi und einen Spitzer."
Mein Mund war offen. Das hatte ich überhaupt nicht erwartet. Warum benötigte er so spezifische Sachen? War er ein heimlicher Künstler oder was?
Ich tat jedoch nichts zur Sache und nickte, um ihm zu zeigen, dass ich einverstanden war. Ich blickte auf mein Handy und es war kurz vor neun. Die Zeit verflog wie meine Motivation in einer Chemiestunde. Mit ihm zu lernen, fiel mir definitiv viel einfacher als mit der Musiklehrerin.
"Die Läden sind teilweise alle schon zu, ich bringe dir die Sachen morgen mit, okay?" Er nickte und zusammen traten wir durch die graue Tür.
Als wir die Treppen herunter schritten, schielte ich vorsichtig rüber, um ihn mir ein letztes Mal anzuschauen, bevor er hinter dem Tor verschwinden würde. Zu meiner Überraschung drehte er sich in meine Richtung und seine Augen funkelten mich amüsiert an. Ich hatte keine Ahnung, ob er das bewusst tat, aber es jagte mir einen Schauer über den Rücken. "Wie bist du eigentlich hier hereingekommen?"
Er zuckte mit den Schultern und lehnte sich gegen das große Tor. "Ich weiß, wie man einen Stromkasten deaktiviert. Da ist so ein Tor das kleinste Problem." Ich konnte es nicht verhindern und ein kleines Grinsen bildete sich auf meinen Lippen. Kurz war es ganz still, bis er wieder das Schweigen brach. "Wir sehen uns morgen, Zwerg."
Mit einem letzten Blick drückte er das große Tor auf und stapfte in die Nacht hinaus. Ich wartete, bis das Tor zufiel und versuchte mich an sein Gesicht zu erinnern. Es war wirklich komisch. Jedes Mal, wenn er verschwand, schienen auch jegliche Erinnerungen an sein Erscheinen zu verblassen. Aber jeder kennt das. Dinge, die man sich merken wollte, vergaß man immer am schnellsten.
Ich zog mein Haargummi fester und drehte mich zum großen Saal. Ich nickte der Dame, welche mich hereinließ, zu und trat ebenfalls in die Nacht hinaus. Es hatte ein wenig abgekühlt und aufgehört zu regnen. Ich stand an der Bushaltestelle und musterte die verregnete Straße. Tropfen glitzerten auf, wenn ein Auto vorbeifuhr und sie mit dem Scheinwerfer beleuchtete. Mein Blick hob sich an und entspannt atmete ich die kühle Luft ein. Es waren nur wenige Sterne am Himmel, aber es sah wirklich schön aus. Als der Bus kam, zog ich an meinem Ärmel und stieg vor all den anderen ein, mit der Hoffnung, einen Sitzplatz zu bekommen. Diesen ergatterte ich und lehnte an der Scheibe an.
Meine Gedanken legten sich um den Dieb und langsam erweckte er echt meine Neugier. Das Schmerzmittel war also nicht für ihn... Dazu brauchte er ein verdammtes Stift-set und Papier. Was hatte er vor?
Was auch immer es war...
Ich würde es herausfinden.
~
"Meinst du?", hoffnungsvoll sah ich meine Schwester an, als sie mir beichtete, dass ich die Nudeln kaum versalzen hatte.
Da ich nun nicht mehr dazu gezwungen war, in die Schule zu gehen, zwang ich jedoch meine Schwester dazu, mir ihre Kochkünste beizubringen. Das fiel mir wesentlich einfacher als Klavier spielen und ich hatte sogar Spaß daran.
Ich musste aber zugeben, dass ich mich ein wenig auf morgen freute. Mit dem Kriminellen Klavier zu üben hatte echt etwas Reizendes an sich. Mein innerliches Unschuldslamm fand es ziemlich aufregend, dass ich mich gegen das Rechte wehrte und einen Vermerkten kannte. Dazu schien er gar nicht so ungeschickt. Klar, er war ein Verbrecher, aber hinter seiner Strafakte befand sich sicherlich viel mehr.
Eine Geschichte. Eine Vergangenheit.
Seine Persönlichkeit schien keineswegs verkorkst und böse. Mir blieb hängen, dass er sehr sarkastisch war und mit Stresssituation relativ gelassen umging. Es konnte aber auch sein, dass die Situationen, in denen ich ihn angetroffen hatte, viel harmloser waren, als welche, die er normalerweise erlebte.
"An was... oder wen denkst du?" Jade sah mich schelmisch an. Ich muss wohl ziemlich stark auf das brodelnde Wasser gestarrt haben. "An Ash...", murmelte ich so schnell wie es ging. Er war der erste Name, welcher mir auf die Zunge sprang und deshalb benutzte ich seine Existenz als meine Lüge. Noch dazu hätte ich ihr gar nicht sagen können, an wen ich wirklich dachte. Ich wusste nicht, wie der Typ hieß. "Der Arme. Zu sehen, wie seine Familie auseinander bricht, bricht mir das Herz." Jade holte 4 Teller aus dem Wandschrank und wartete auf eine Reaktion meinerseits. Ich bewegte mich aber nicht, denn erstens hatte ich ihr gar nicht zugehört. Meine Gedanken galten gerade nur einem Ziel, welches ich mir stur setzte.
Ich würde seinen Namen herausfinden.
"Ilaria?!" Erneut zuckte ich zusammen. "Hmm? Was?" Meine Schwester schüttelte ihren Kopf und nahm die Nudeln vom Herd. "Das mit Ash's Familie ist echt tragisch", sagte sie erneut und ich nickte zustimmend. Er würde das schon schaffen. Nicht allein, aber mit mir an seiner Seite. Meinen besten Freund würde ich für niemanden fallen lassen. Für niemanden!
Mom und Dad saßen bereits im Esszimmer und beide waren mit etwas administrativen beschäftigt. Dad hatte seinen Laptop vor der Nase und Mom ihr Tablett. Jade ließ den Topf auf dem grauen Tisch nieder und die Köpfe unserer Erzeuger hoben sich an. Meine Mom lächelte und schaltete den Display ihres dritten Kindes aus. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit saßen wir alle am Esstisch und kauten auf dem gekochten rum. Meistens verzichtete ich auf das Abendmahl, da ich dazu gezwungen wurde direkt nach der Schule den Stift erneut in die Hand zu nehmen.
Jade würde nächstes Jahr nach London ziehen und dort studieren. Zu Beginn war ich ziemlich sauer. Ihr Auswandern bedeutete, dass ich dazu verdonnert werden würde, außerhalb meiner Freizeit, von der ich im Moment ja genügend hatte, in der Firma auszuhelfen. Dad hatte es zwar noch nicht ausgesprochen, aber ich war mir verdammt sicher, dass er für mich den Platz an der Spitze reservierte. Im Moment sah ich es eher als einen Backup-Plan. Wenn das, was ich mir für meine Zukunft vorstellte, nicht klappen wird, würde ich wohl oder übel die Hütte von ihnen übernehmen.
Im Moment wusste ich noch nicht, was ich werden wollte. Ich hatte mir noch nie Gedanken darüber gemacht. Klar, war das auch schon ein Thema im Unterricht, aber keiner der Berufe oder Studien hatte mein Interesse erweckt.
Gesättigt ließ ich meine Gabel in den Teller gleiten und sah fragend zu meinem Vater. "Darf ich vom Tisch?"
Mein Vater nickte und ich verstaute summend meinen Teller in der Abwaschmaschine. Die Melodie von Lovely hatte sich in mein Gedächtnis gebrannt. Also... eigentlich nur die ersten Töne.
Oben in meinem Zimmer räumte ich ein wenig auf und schrieb Ashton zurück, der ziemlich besorgt war, da ich mich den ganzen Tag kaum bei ihm gemeldet hatte. Ich entschuldigte mich und versprach ihm, dass ich ihn morgen von der Schule abholen würde. Also ich würde mit dem Bus dorthin fahren und dann mit seinem Auto wieder gehen.
Bin totmüde und zwinge mich dazu trainieren zu gehen. Wenn ihr also nichts mehr von mir hört, bin ich auf dem Laufband gestorben oder unter einer Hantel erstickt.
Bye ♡
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