21 | Das, in dem Schluss ist
Eva umarmte mich am Montagmorgen energischer als üblich. Ich erwiderte die Umarmung lachend. Dann fiel mein Lächeln jedoch abrupt in sich zusammen. Das strahlende sorglose Grinsen, das sonst ihr Gesicht zierte, war verschwunden. Mein Magen verknotete sich. Ich wusste sofort, dass etwas ganz und gar falsch war.
„Was ist los? Was ist passiert?"
„Du hast es noch nicht gehört.", stellte sie fast schon ein bisschen hysterisch fest. Ihre Augen weiteten sich, als ihr dämmerte, dass sie nun diejenige sein würde, die mir erzählen würde, was geschehen war. Man sah ihr an, dass es ihr bereits schwerfiel, die Worte in ihrem Kopf zu ordnen und das machte mir Angst. Was konnte so schlimm sein, dass sie nicht die richtigen Worte fand? Zögern gehörte normalerweise nicht zu ihrem Metier. In ihren blauen Augen spiegelte sich der unbändige Sturm wider, der in ihrem Inneren tobte.
„Katara... vielleicht stimmt es auch gar nicht.", sagte sie gedehnt und ihr Blick huschte unmissverständlich zu ihrer Uhr.
Ich schüttelte den Kopf. Sie wollte auf Zeit spielen. Die erste Stunde würde gleich beginnen. . Unsere Stundenpläne hatten sich geändert. Dadurch begann der Montag nicht wie üblich mit einer Doppelstunde Deutsch, sondern mit einem naturwissenschaftlichen Fach. In meinem Fall war es Biologie bei Herr Kowalski. Eva hatte ebenfalls Biologie, allerdings in einem anderen Kurs. Ich würde auf heißen Kohlen sitzen und sie hätte noch bis zur Pause Zeit, sich zu überlegen, wie sie mir beibringen wollte, was da in ihrem Kopf herumschwirrte. Möglicherweise hätte ich es bis dahin auch schon von jemand anderem gehört. Die Geschwindigkeit unseres Flurfunks, gerade, wenn es Klatsch und Tratsch anging, war nicht zu unterschätzen. Großmutter Adelaide hätte diese Schule geliebt.
„Nein.", sagte ich entschieden.
„Du sagst mir jetzt, was los ist. Nicht später."
Sie trat nervös von einem Fuß auf den anderen und umklammerte das Biologiebuch in ihren Händen, als wäre es ein Rettungsring. Die Wahrheit sprudelte aus ihr hervor wie das Wasser bei einem Geysir und traf mich genauso hart ins Gesicht.
„Emma will aufhören. Es geht das Gerücht um, dass sie das Abi hinschmeißen will."
Sie legte eine Hand auf meinen Arm, aber ich spürte die Berührung nicht einmal. Ich spürte gar nichts. Der Geysir hatte alle meine Empfindungen davongeschwemmt.
„Es tut mir so leid, Katara. Aber es sind schließlich nur Gerüchte, oder? Ich weiß, sie ist deine beste Freundin und sie hätte sicher mit dir gesprochen, wenn..."
Ich hörte nicht, was sie als nächstes sagte, denn ich war bereits in die andere Richtung losgelaufen. Mein kurzes Dasein als Salzsäule hatte ein jähes Ende genommen und einer eisernen Entschlossenheit Platz gemacht. Ich wusste, mit wem ich über diese Sache sprechen konnte und musste. Ich lief so schnell ich konnte durch die Flure. Ich ignorierte die Rufe der Lehrer, die verlangten, dass ich gefälligst gehen und nicht laufen sollte, und ich beachtete meine Mitschüler nicht, die ich in all der Hast harsch anrempelte. Das Adrenalin pumpte durch meine Venen und ließ mir keine andere Wahl. Denn ich hatte nur ein Ziel und daran konnte mich auch das Schulklingeln, das in diesem Moment durch die Gänge schallte, nicht aufhalten.
Meine Faust schlug gegen das kalte Holz und einen Moment herrschte Stille. Dann öffnete sich die Tür und ein verschlafen wirkender Lehrer, den ich nicht kannte, steckte den Kopf hervor. Überrascht schaute er erst auf mich, dann auf seine Uhr.
„Solltest du nicht im Unterri-"
„Ist Frau Lammer da?", platzte es atemlos aus mir heraus und der Lehrer wirkte kurz überrascht. So wie ich. Er warf einen Blick hinter sich, wo sich, wie ich vermutete, ein ganzer Haufen anderer Lehrer befand, die sich an diesem frühen Morgen literweise Kaffee in den Rachen schütteten, um hyperaktiven Kindern, die nichts anderes als Ärger im Sinn hatten, Einhalt gebieten zu können.
„Sandra. Du hast Kundschaft.", rief er in den Raum hinein und gähnte ausgiebig. Während ich vor Energie nur so sprühte, kam es mir so vor, als hätte ihm etwas oder jemand, seinen letzten Tropfen Lebenskraft ausgesogen. Er wandte sich wieder zu mir und lächelte aufmunternd.
„Sie kommt gleich."
Die Tür schloss sich hinter ihm, ehe ich ein immerhin halb ernst gemeintes „Danke" hervorpressen konnte. Es dauerte nicht lange, bis Frau Lammer in einem roten Strick-Cardigan vor die Tür trat.
Ihr Blick war sanft und verständnisvoll. Von ihr würde ich keinen Ärger bekommen, dass ich nicht im Unterricht saß, zumal es sich nicht um ihren heiligen Deutschunterricht handelte. Sie wusste bereits, worum es bei meinem Besuch ging, was darauf schließen ließ, dass es sich nicht bloß um Gerüchte handelte. Sie lotste mich geschickt zu einem Sofa in der Nähe vor einer großen Glasfront. Hier fanden normalerweise immer die Gespräche zwischen Lehrern und Eltern statt, wenn die Kinder Probleme bereiteten. Mir war nie aufgefallen, wie schön der Ausblick war. Links lag der Fußballplatz und der Sportbereich mit Sandkasten und Laufbahn, der im Winter natürlich vollkommen leer war. Rechts lag der Wald mit seinen grünen Tannen, verborgen hinter weißen Nebelschleiern und am Himmel schimmerte ein sanftes orange durch die Wolken.
Frau Lammer setzte sich neben mich und schwieg. Schweigend betrachteten wir die sanften Bewegungen der Bäume im Wind. Alles wirkte so harmonisch. So ruhig. Das komplette Gegenteil zu dem, wie ich mich wirklich fühlte.
„Emma darf die Schule nicht verlassen. Sie darf nicht." Frau Lammer nickte und ich schöpfte Hoffnung, dass sie alles Menschenmögliche daransetzen würde, um meiner besten Freundin zu helfen. Doch dann.
„Sie ist 18. Da können wir leider nicht sehr viel ausrichten. Die Schulpflicht gilt nur bis zur zehnten Klasse. Uns sind da leider die Hände gebunden."
Mein kurzer Hoffnungsfunke wurde in seine Bestandteile zerschlagen und ließ nichts weiter übrig als einen kleinen mickrigen Scherbenhaufen, den ich nicht einmal mit Kehrblech und Besen zusammenfegen konnte. Stattdessen fühlte ich mich so wie Aschenbrödel, die Linsen und Mais voneinander trennen sollte. Doch anstatt Linsen und Mais hatte mir die böse Stiefmutter Scherben auf den Boden geschüttet. Jedes Mal, wenn ich nach einer der Scherben griff und sie auf einen kleinen Stapel legte, schnitt der scharfe Rand in mein Fleisch und hinterließ mal feine, kleine, mal breite, tiefe rote Striemen, aus denen das Blut mal mehr, mal weniger stark hinausfloss. Je mehr Scherben ich aufsammelte, desto leerer fühlte ich mich.
„Sie ist die beste Schülerin unseres Jahrgangs, praktisch seit der fünften Klasse. Wir können sie doch nicht einfach im Stich lassen."
„Das weiß ich."
„Dann tun sie etwas!" Meine Stimme wurde immer lauter und ich wusste, dass ich mich langsam, aber sicher im Ton vergriff. Frau Lammer legte mir beruhigend eine Hand auf meinen Arm. Ich zuckte zurück.
„Sie tut das alles nur für ihre Mutter. Ich war bei ihr zuhause und ihre Mutter... Sie..." Beinahe hätte ich gesagt, dass ihre Mutter Alkoholikerin war, obwohl ich es nur mutmaßen konnte. Ich wusste nicht, wie viel ich von ihrem Leben preisgeben konnte, deswegen fing ich an um den heißen Brei zu reden. Die Wahrheit, nur eben nicht die ganze Wahrheit „Sie haben Geldprobleme und Emma arbeitet sich tagelang die Nächte um die Ohren, um genug Geld zu verdienen. Gleichzeitig geht sie normal in die Schule und lernt. Ihre Mutter will nicht, dass sie zur Schule geht oder studiert. Sie soll arbeiten..."
„So leid es mir tut. Wir können uns da nicht einmischen, Katara. Wenn sie minderjährig wäre, hätten wir vielleicht eine Möglichkeit, aber sie ist volljährig und hat die zehnte Klasse erfolgreich abgeschlossen. Wir können niemanden dazu zwingen, das Abitur zu machen, wenn sie es nicht will."
„Aber sie will das Abitur machen. Sie will studieren.", bemerkte ich verzweifelt. „Und was ist, wenn wir das Jugendamt informieren? Wir können nicht einfach zuschauen. Sie ist meine beste Freundin."
„Das Jugendamt kann genauso wenig unternehmen wie wir. Allein aus Datenschutzgründen-"
Zum Teufel mit dem Datenschutz.
„Zum Teufel mit dem Datenschutz! Emmas Zukunft steht auf dem Spiel."
Meine Atmung ging nur stoßweise und das Stechen in meiner Brust nahm zu. Ich bemerkte erst jetzt, dass mir dicke heiße Tränen über die Wangen liefen und auf meinen Pullover klatschten. Ich verbarg mein Gesicht in den Händen. Ich konnte meine beste Freundin nicht einfach so verlieren.
Frau Lammer sagte nichts. Alles schien mit einem Mal so ausweglos zu sein. Gab es denn überhaupt keinen anderen Weg? Wenn ich Geld verdienen und ihr leihen könnte... Doch sie würde es niemals annehmen.
„Ich weiß, wie dir zumute ist, aber unsere Hände sind gebunden. Wenn du mit jemandem darüber reden möchtest, kannst du immer zu mir kommen. So sehr ich Emma auch helfen möchte..." Sie seufzte tief, als wäre das tatsächlich das Ende. Ich fühlte mich niedergeschlagen. Wie jemand, der nach einem langen, erbitterten Kampf doch noch in die Knie gezwungen wurde.
Wenn sie Emma so gerne helfen würde, würde sie nicht einfach tatenlos herumsitzen. Sie würde etwas unternehmen. Emmas Mutter anrufen und mit ihr reden und Emma wissen lassen, dass sie auf dieser gottverdammten Welt nicht allein war und es Menschen gab, die sich für sie einsetzten und ihr helfen wollten.
Ich konnte nicht einfach dabei zusehen, wie Emma ihr Leben wegschmiss, nur weil sie glaubte, ihrer Mutter alles recht machen zu müssen.
Wohlmöglich lag es daran, dass Frau Lammer mir gegenübersaß und wir die Lektüre in ihrem Unterricht durchgenommen hatten, aber ich dachte an den Hauptmann von Köpenick. Er hatte immer allein dagestanden und fast keine Hilfe von seinen sogenannten Freunden oder seiner Familie bekommen. Hätte ihm damals jemand geholfen, wäre es vielleicht niemals zu dem Überfall auf das Rathaus gekommen. Er wäre ein respektabler Mann geworden. Alles, was er gebraucht hatte, war eine helfende Hand. Jemand der zu ihm hielt und ihn ermunterte das Leben anzupacken und das Beste herauszuholen. Nicht das Emma von heute auf morgen zu dem Entschluss kommen würde, einen Überfall zu planen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie sie sich fühlen musste. Und wenn ich ehrlich war, wollte ich es auch gar nicht wissen.
Emma hatte es allein versucht. Sie hatte versucht das Beste daraus zu machen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und gleichzeitig ihre Mutter zu versorgen. Aber sie war praktisch noch ein Kind. Sie konnte nicht alles allein durchstehen. Sie brauchte Freunde, Familie. Und jetzt ging ihr Leben den Bach herunter, nur weil ihre Mutter ihr einredete, sie würde es in ihrem Leben zu nichts Größerem bringen als einer Kellnerin.
Frau Lammer vertröstete mich mit mitleidsvoller Miene auf die nächsten Tage.
„Ich werde schauen, was sich machen lässt, in Ordnung?" Ich erhoffte mir nichts daraus. Sie hatte bereits durchblicken lassen, dass es im Endeffekt nichts gab, was wir in dieser Situation unternehmen konnten. Aus Datenschutzgründen. Ich versuchte erst gar nicht pünktlich zum Unterricht zu gelangen. Der Biologieunterricht lief ohnehin bereits seit zwanzig Minuten und Herr Kowalski mochte keine Zuspätkommer. Dann ging ich besser überhaupt nicht. Frau Lammer würde es ihm später erklären können.
Ich war so aufgelöst, dass ich nicht einmal bemerkte, dass ich ihm geradewegs in die Arme lief.
„Hey, wie geht... Warte mal. Katara, was ist los?"
Er hielt mich an den Schultern fest und gab mir Halt. Ohne ihn hätten meine Beine irgendwann vollends aufgegeben und mich knallhart auf dem Boden aufkommen gelassen. Ich wusste nicht, wohin ich gelaufen war, alles was ich wusste war, dass ich so weit weg wie möglich wollte. Einfach weg. Ziemlich ironisch, dass mich meine Flucht, genau in seine Arme getrieben hatte.
„Es ist nichts.", sagte ich und bemerkte selbst, wie lächerlich ich klang. Mein Schniefen, die Tränenspuren auf meinem Pullover und die feuchten Augen bezeugten das genaue Gegenteil.
„Hey, warte." Seine Augen bohrten sich in meine. Mit diesem fürsorglichen Blick hatte er mich schon oft angesehen. Er wirkte ehrlich bestürzt. „Was ist los?"
Ich schüttelte vehement den Kopf.
„Geh wieder zurück in den Unterricht."
„Und wer passt in der Zeit auf dich auf?"
„Ich kann prima allein auf mich aufpassen, danke der Nachfrage.", sagte ich schnippisch und er zuckte bei meinen Worten kurz zusammen. Anstalten zu gehen, machte er trotzdem nicht.
„Ich lasse dich nicht allein."
Wenn er nicht ein genauso großer Sturkopf wäre wie ich, hätte ich protestiert. So ließ ich ihn gewähren, dass er mich zu einem Stuhl führte, sanft an den Schultern darauf drückte und eine Hand dabei auf meinen Arm ablegte. Ich wusste nicht, wie sehr ich mich nach seiner Berührung gesehnt hatte, aber anscheinend wusste es mein Körper umso deutlicher. Seine Hand auf meinem Arm jagte kleine Elektroschocks durch meinen Körper. Ich war froh, dass Aiden mich gefunden hatte.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro