2 | Das, in dem ich schreien will
Ich wusste ich würde mein altes Ich dafür verfluchen die Batterien aus dem Wecker genommen zu haben. Mom weckte mich, als es eigentlich schon zu spät war. So hatte ich auf meinem Schulweg weder anständig gefrühstückt noch meine Haare ordentlich gekämmt. Ich war kurz vorm Zusammenbruch. Und dabei war gerade einmal der erste Schultag nach den Ferien. Die Lehrer würden genauso wenig Lust haben auf den Unterricht wie wir Schüler.
Mom hatte meine Hektik stumm belächelt.
„Ich hab mich schon gefragt, wann du das erste Mal verschlafen wirst. Sei froh, dass es nur der erste Schultag nach den Ferien ist und nicht ein Tag an dem du eine Klausur schreibst."
Sie gab mir einen Abschiedskuss auf die Wange und ich eilte los. Meine Laune war jetzt schon im Keller. Dabei begann der Tag eigentlich ziemlich schön. Natürlich nur, wenn man davon absah, dass ich viel zu spät dran war. Der Himmel war noch dunkel und durch die Straßen waberte ein undurchdringlicher Nebelschleier. Noch erreichte das Thermometer keine Minusgrade, aber das war nur noch eine Frage der Zeit. Spätestens wenn Weihnachten endlich vor der Tür stand.
Im November wurde es langsam, aber sicher Zeit an Weihnachten zu denken. Wann würden die ersten Weihnachtsmärkte öffnen? Welche Geschenke sollte ich Paul und Mom dieses Jahr kaufen? Wann würden wir die ersten Weihnachtskekse backen? Wie oft würde Drei Haselnüsse für Aschenbrödel wohl dieses Jahr im Fernsehen laufen? Und wie viele Male würde ich es letztendlich schauen? Ich lächelte stumm vor mich hin.
Wenn der Sommer vorbei war, begann für mich für gewöhnlich die Vorfreude auf Weihnachten. Alles bekam plötzlich einen magischen Touch. Wenn dann die Weihnachtslichter in Form von Sternschnuppen an der Hauptstraße aufgehangen wurden, wusste ich, dass uns die schönste Zeit des Jahres bevorstand. Selbst die kahlen Bäume (die Stimme meiner Mutter, die mich fragte, wie ich etwas Sterbendes schön finden konnte, hallte in meinem Kopf wider) bekamen durch die blinkenden Lichterketten einen neuen Glanz. Momentan deutete leider noch nichts darauf hin, dass in ein paar Wochen Weihnachten sein würde. Ich vergrub meine Hände in den Jackentaschen. So kalt war es schon lange nicht mehr gewesen. Meine Nase fühlte sich bereits an wie ein einziger Eisklumpen, obwohl ich sie in den Stoff meines Schals steckte.
Das letzte Stück meines Schulweges führte durch den Wald, der an diesem Morgen etwas besonders Mysteriöses ausstrahlte. Die Nebelschwaden waren auch hier so dicht, dass man kaum weiter als zehn Meter sehen konnte. Gelegentlich trat ich auf einen Ast, der unter den schillernd bunten Herbstblättern verborgen lag. Das leise Knacken schallte in die Stille. Früh morgens hatte ich zwischen den Bäumen öfter Rehe entdeckt und auch an diesem Morgen hielt ich Ausschau, ob eines sich vielleicht versteckt hielt oder mich insgeheim beobachtete. Meine Schritte waren jedoch so laut, dass die Tiere bestimmt längst das Weite gesucht hatten.
Die Schule sah so aus wie immer, als sie zwischen dem Geäst auftauchte und sich der Nebel endlich etwas lichtete. Die grauen Betonwände sahen sogar noch trostloser aus als normalerweise. Ein Schauer lief über meine Arme und ich zitterte leicht. Der Schulhof lag verlassen da. Die meisten Schüler saßen wohl bereits in ihren Klassenzimmern oder lungerten im Foyer herum. Hauptsache irgendwo, wo es warm war.
Erst als ich wieder im Trockenen stand, lockerte ich den Schal um meinen Hals. Die Heizung arbeitete auf Hochtouren und pustete dicke warme Luft durch die Gegend. Dagegen kam nicht einmal ein geöffnetes Fenster an. Mein Blick huschte zu meinem Smartphone und ich atmete erleichtert aus. Das war noch genug Zeit, um dem Bistro einen kurzen Besuch abzustatten und endlich mein Frühstück nachzuholen. Kurz dachte ich der Tag könnte doch noch entspannt werden. Doch wie hieß es so schön: Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben.
Ich hatte mir fest vorgenommen ihn zu ignorieren. Ihn und seine ganze Bagage. Das hielt mich zwar nicht davon ab an ihn zu denken, war aber allemal besser als im von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen und sich mit dieser Konfrontation auseinandersetzen zu müssen. Ich gab es nur ungern zu, aber in den Herbstferien hatte ich viel zu oft an den Jungen mit den blau-braunen Augen gedacht. Und an unsere erste Begegnung nach den Ferien. So hatte ich sie mir definitiv nicht vorgestellt.
Ich stand gerade an meinem Schließfach, um mein Deutschbuch für den Unterricht zu holen, als ich ihn sah. Oder besser gesagt hörte. Er lachte über eine Geschichte, die die schöne Helena wahrscheinlich just in diesem Augenblick zum Besten gegeben hatte, Toms Lachen erkannte ich auch.
„Bitte seht mich nicht. Bitte seht mich nicht. Bitte geht nicht zu den Schließfächern.", betete ich stumm ins Nichts. Wer auch immer für die Erfüllung dieser Notwünsche zuständig war, hatte einen schrägen Sinn für Humor. Es brachte rein gar nichts. Denn natürlich kamen sie direkt auf mich zu. Ihr Lachen verstummte und wich einer merkwürdigen Mischung aus Verlegenheit, Arroganz und Mitleid. Die Verlegenheit kam von Aiden, die Arroganz von Tom und das Mitleid von Helena.
„Oh.", machte Helena, während Tom wortlos zu seinem Schließfach ging und Aiden auf der Stelle in Schockstarre fiel. Ich biss die Zähne so stark zusammen, dass ich befürchtete sie müssten früher oder später abbrechen. Meine Hände ballten sich wie von selbst zu Fäusten und die Fingernägel gruben sich in meine Handballen.
„Hallo Katara. Wie geht es dir? Hattest du schöne Ferien?"
Ich wusste, sie meinte es nicht böse. So schätzte ich sie einfach nicht ein. Doch ich fragte mich, ob ihr Feingefühl manchmal unter ihren hauptsächlich männlichen Freunden litt. Sonst hätte sie diese Frage nämlich nicht in Aidens Anwesenheit gestellt.
Wie sollte es mir schon gehen? Man hatte mich belogen, betrogen und verraten. Mein Bruder, die einzige Person, die genau wusste, was Sache war, war 400 Kilometer entfernt, um wieder laufen zu können und unsere Mutter ahnte nicht im Entferntesten, was gerade in unseren Leben vor sich ging. Ich war drei Wochen mit meinen Gefühlen auf mich allein gestellt gewesen und musste das alles mit mir selbst ausmachen. Schöne Ferien stellte ich mir anders vor. Natürlich sagte ich das nicht. Ich setzte ein gestelztes Lächeln auf und sagte: „Mir geht es gut und dir? Ich hatte entspannte Ferien. Ich hab gesehen, du warst Ski fahren? Wie war's?"
Ein Hoch auf Social Media. Die Information, dass sie irgendwo in Südtirol Ski fahren war, hatte ich genau im richtigen Augenblick abgerufen. Offenbar erleichtert über meinen unbekümmerten Tonfall, lächelte sie nun auch aufrichtig. Ich log anscheinend besser als ich dachte. Aiden würdigte ich weiterhin keines Blickes.
„Ja, das war spitze. Wir waren in der Nähe von Bozen. Da war ich schon seit zwei Jahren nicht mehr Ski fahren und hab gedacht ich habe es verlernt. Aber am Ende konnte ich sogar die schwarze Piste problemlos herunterfahren. In den Weihnachtsferien fahren wir wieder runter. Mein Bruder will unbedingt Snowboarden lernen."
„Das klingt toll.", sagte ich und meinte es auch so. Es war toll, dass sie Ski fahren war und dass sie sich so freute in knapp sieben Wochen wieder dort zu sein. Ich freute mich für sie. Was mich jedoch weniger freute war, dass Aiden aus seiner Schockstarre erwachte und sich neben Helena platzierte. Meine Mundwinkel sackten in die Tiefe.
„Können wir reden?"
Die gesamten letzten drei Wochen hatte ich seine Nachrichten und Annäherungsversuche ignoriert. Bis auf meinen Wutausbruch auf dem Schulhof hatte ich kein Wort mit ihm gewechselt. Seinen Brief eine Woche später, hatte ich zwar gelesen (und bewahrte ihn sicher in meinem Nachttisch auf), aber reagiert hatte ich auch darauf nicht. Konnte er diesen Wink mit dem Zaunpfahl nicht einfach verstehen? Musste er es unbedingt so kompliziert machen?
„Ich muss zum Unterricht.", entgegnete ich eine Spur zu kühl und wollte an ihm vorbei, doch er versperrte mir den Weg. Seine Hand lag auf meinem Arm und löste selbst durch den dicken Stoff meiner Winterjacke eine Gänsehaut aus. Wie ich dieses Gefühl gleichzeitig hasste und liebte. Dummes Herz. Ich holte tief Luft, was ein schwerwiegender Fehler war, denn gleich darauf hatte sich der Geruch seines Aftershaves in meine Nase eingenistet. Helena wandte sich mit rosa Wangen von uns ab. Tom hantierte immer noch an seinem Schließfach.
„Ich weiß, dass das gelogen ist.", raunte Aiden mir so leise zu, sodass Helena und Tom, selbst wenn sie noch so angestrengt lauschten, nicht hören konnten, was er meinte.
„Was ist gelogen, Aiden?", fragte ich genervt und mit stolperndem Puls.
„Dass es dir gut geht.", sagte er ernsthaft und blickte mich so fest an, als würde er jedes Gefühl und jeden Gedanken durch meine Augen lesen können. In seinen Augen sah ich nichts als Aufrichtigkeit. Davon hatte ich mich schon einmal täuschen lassen. Abrupt riss ich mich frei.
„Und wenn schon. Ich wüsste nicht, was dich das angeht."
Warum war immer ich diejenige, die ein schlechtes Gewissen bekam, wenn er es doch gewesen war, der mich ausgenutzt hatte? An meinem Killerinstinkt musste ich wirklich noch feilen. Ich ließ ihn zum zweiten Mal stehen. Und wieder krampfte sich alles in mir widerwillig zusammen. Die Blicke meiner Mitschüler, die mich bis zum Klassenzimmer verfolgten, bemerkte ich nicht mehr.
Die Lehrer, die aufgrund meiner „besonderen" Situation auf dem neusten Stand der Dinge waren, verhielten sich ziemlich nachsichtig mit mir. Pauls Unfall lag zwar schon drei Wochen zurück, machte mir aber immer noch deutlich zu schaffen. Ich versuchte Autofahrten, so gut es ging, zu vermeiden. In dem Leihwagen, den meine Mutter von ihrer Firma zur Verfügung gestellt bekommen hatte, hatte ich bislang nur einmal gesessen. Danach war mir so schlecht gewesen, wie es nur sehr selten vorkam.
Dauernd musste ich an Paul denken und wie er sich wohl gefühlt hatte. In der einen Sekunde fuhr er noch über die Straße und in der anderen wachte er plötzlich im Krankenhaus auf, starrte auf eine weiße sterile Decke und war umgeben von Menschen, die er nicht kannte und die ihn aufs Schärfste beobachteten.
Frau Lammer stimmte ohne Umschweife zu, dass ich mich in die letzte Reihe setzte. Dorthin, wo nicht ständig die Augen meiner Mitschüler auf mir lagen.
„Vielleicht würde es dir helfen, wenn Aiden mit dir umzieht. Dann bist du auch nicht so allein da hinten.", schlug sie vor.
Dass nicht Pauls Unfall, sondern Aiden der eigentliche Grund für meinen Vorschlag gewesen war, konnte sie nicht wissen. Tapfer lächelte ich sie an und machte ihr weis, dass ich Aiden nur ablenken würde und ich doch lieber für mich allein blieb. Daraufhin holte sie lediglich tief Luft und betrachtete mich mitleidig. Vielleicht erinnerte sie sich noch an Paul. Er war schließlich vor nicht allzu langer Zeit auch einmal Schüler hier gewesen.
Dass Paul nach seinem Unfall sein rechtes Bein nicht richtig bewegen konnte und deswegen nun in Reha war, hatte schneller die Runde gemacht als ich dachte. So war das in einer Kleinstadt. Jeder wusste (beinahe) alles von jedem. Eine Woche seiner Reha war schon vorbei, doch ich vermisste ihn bereits jetzt schmerzlich. Das Haus war merkwürdig ruhig und leer ohne ihn. Und auch wenn ich wusste, dass er mich mit scharfen Augen beobachten würde, hätte ich seine Unterstützung sehr gut gebrauchen können. Allein aus dem Grund, weil ich mit irgendjemandem darüber reden musste. Das heißt persönlich und nicht übers Telefon. In den Herbstferien hatte ich deshalb alles in mich hineingefressen. Mit Paul konnte ich nicht reden, weil Mom ständig dabei war. Emma war im Urlaub und auch Lucy verbrachte (wenn auch nicht sehr begeistert) ihre Ferien bei ihrer Großtante Hannelore im Niemandsland.
„Echt jetzt, hier gibt es nicht einmal einen richtigen Supermarkt. Es gibt drei Häuser und das wars. Hier holen sie sich noch die Frühstückseier aus ihrem Garten und stehen alle mit dem ersten Hahnenschrei auf. Weißt du, wann ein Hahn das erste Mal am Morgen kräht? Zwei Stunden vor Sonnenaufgang. Zwei Stunden! Ich war gestern um fünf Uhr wach, kannst du dir das vorstellen? Ich! Um fünf Uhr wach! Meine Tante erwartet, dass ich mit Wandern gehe und mir die Umgebung anschaue. Welche Umgebung meint sie denn bitte? Die nächste große Stadt ist 30 Kilometer entfernt und der Bus kommt nur jede Stunde. Tara, das ist ein einziger Albtraum."
Die kurze Unterhaltung über Telefon hatte mich ein Stück weit aufgemuntert. Vielleicht auch deswegen, weil Aiden kein einziges Mal zur Sprache kam. Es rauschte und knackte, als würde die Verbindung jede Sekunde plötzlich abreißen und ich stellte mir vor wie Lucy in diesem Moment in ihrem Zimmer („Der einzige Ort, wo ich meine Ruhe hab.") auf und ab tigerte und sich den nächstbesten Fluchtplan ausdachte.
Obwohl die Fußballsaison beendet war, hatten wir uns vorgenommen uns sonntags zu treffen. Die Tradition musste schließlich irgendwie fortgeführt werden. Und wir hatten mächtigen Redebedarf. Obwohl das Video vorrangig zeigte, wie Aiden und Vincent (Lucys Bruder) die Wette schlossen, kam Lucy darin nicht gerade gut weg. Dass der eigene Bruder einen als Schlampe bezeichnete, steckte man nicht einfach so weg. Selbst dann nicht, wenn sie sich auf Teufel komm raus nicht ausstehen konnten.
Es dauerte noch sechs Tage, bis ich endlich mit ihr darüber reden konnte und obwohl der Tag gerade erst begonnen hatte, erwischte ich mich dabei, wie ich in der Doppelstunde Deutsch immer wieder darüber nachdachte. Dass es zur Pause geklingelt hatte, realisierte ich erst, als ein lautes Rascheln um mich herum begann, jeder eifrig seinen Rucksack schulterte und fluchtartig das Zimmer verließ. Alle bis auf einen. Wieder öffnete er den Mund und wieder ignorierte ich seine Bitte mit ihm zu reden. Sollte er doch in der Hölle schmoren.
Man hätte meinen können, dass die Wette bereits anderen Gesprächsthemen des Flurfunks gewichen war. Doch sehr zu meinen Leidwesen schien in den letzten Wochen nichts Interessanteres geschehen zu sein. Überall wo ich hinging, verfolgten mich die neugierigen Blicke und ihre dummen Sprüche.
„Wie konnte sie nur glauben, dass Aiden etwas für sie empfindet?"
„Da kommt sie. Die arme."
„Ich möchte nicht in ihrer Haut stecken... Wie peinlich."
Manchmal kam es mir so vor, als würden sie nicht einmal versuchen, ihre Stimmen zu senken. Ganz im Gegenteil. Sie sprachen so laut, als würden sie geradezu darauf hoffen, ich würde etwas erwidern, nur damit sie wieder etwas zum Tratschen hatten. Den Gefallen würde ich ihnen nicht machen, auch wenn ich nichts lieber tun würde als mir die Seele aus dem Leib zu schreien.
Eisern presste ich die Lippen zusammen und ging stur weiter. Sollten sie doch reden. Ihre Worte konnten mir nichts anhaben. Ab sofort trug ich eine Stahlrüstung, durch die kein Wort schneiden konnte.
Bis zur zweiten großen Pause hangelte ich mich so durch den gewöhnlich wahnsinnigen Schulalltag. Ließ ihre gemeinen Bemerkungen an mir abprallen und hielt den Kopf erhoben. Jedenfalls bis zu dem Moment, in dem ich dem Druck von zu vielen Menschen, die mich am Boden sehen wollten, nicht länger standhalten konnte. Dabei war es ein so vollkommen lächerlicher und banaler Gedanke, der mir den Boden unter den Füßen wegriss.
Es gab nur einen Ort, an dem ich ein solches Gespräch unbemerkt belauschen konnte: die Mädchentoilette, dem Ort der Schule, an dem die Gerüchteküche so richtig brodelte. Ich war mir ziemlich sicher, dass ein Großteil der Gerüchte, die in unserer Schule im Umlauf waren, hier entstanden. Eigentlich war ich gerade fertig, wollte mir die Hände waschen und so schnell es ging Emma ausfindig machen, doch als mein Name fiel, hielt ich mitten in der Bewegung inne.
„... und die arme Katara. Sie kann ja nichts dafür. Aiden ist echt ein Arsch, wenn die Gerüchte stimmen.", sagte Stimme eins. Stimme zwei seufzte theatralisch.
„Ich hätte nie gedacht, dass er sowas macht. Er ist immer so freundlich."
„Jungs. Wenn du mich fragst, hat er nicht wirklich drüber nachgedacht. Eine Wette? Ernsthaft? Das ist sowas von 2010. Das machen nur Kleinkinder."
Die Mädchen kramten in ihren Taschen und begannen allem Anschein nach ihr Make-up und ihre Frisuren zu erneuern. Kurz herrschte Stille. Dann begann Stimme zwei erneut.
„Katara hat Glück. Sie hat wenigstens drei Wochen mit ihm verbracht. Von mir weiß er doch nicht einmal, dass ich existiere."
„Ich habe ehrlich gesagt nie verstanden, was alle an ihm finden. Tom sieht viel besser aus als Aiden. Und wie er Fußball spielt. Einfach traumhaft. Es wundert mich, dass er noch kein Sportstipendium in der Tasche hat. Beim letzten Spiel soll angeblich ein Talentscout da gewesen sein."
„Oh, davon hab ich gehört. Er war das ganze Spiel über da und hat sich Notizen gemacht. Das hat jedenfalls meine Schwester gesagt. Sie saß ganz in der Nähe und hat gesehen, wie er Aidens Namen rot angestrichen hat. Das hat er sonst bei niemandem gemacht." Der Stolz mehr zu wissen als ihre Freundin, schwang in ihrer Stimme mit, wurde jedoch sofort wieder zerschlagen. Stimme eins ließ diese Ankündigung so ziemlich unbeeindruckt, als wäre diese Information absolut Schnee von gestern. Für mich waren das große Neuigkeiten. Ein Talentscout hatte das letzte Spiel gesehen? Und er hatte sich Notizen gemacht? Über Aiden? Was er wohl notiert hatte? Halt, stopp! Darüber sollte ich mir keine Gedanken machen. Ich schüttelte den Kopf so heftig, als würde mir eine Fliege um den Kopf schwirren, die ich nicht mehr loswurde.
„Davon hab ich auch gehört. Und trotzdem. Tom soll weitaus bessere Chancen haben als Aiden. Ich bin mir sicher, dass wir ihn in wenigen Jahren schon im Fernsehen sehen können. Vielleicht wird er unter Vertrag genommen. In Köln oder Bayern oder so. Das Talent hat er jedenfalls."
„Ich kenne mich damit nicht so gut aus.", gestand Stimme zwei zerknirscht.
„Macht nichts. Ich weiß es dafür für uns beide. Und vergiss nicht: Wenn die Frage fällt Aiden oder Tom, dann wird Tom als erster durchs Ziel gehen."
„Ja... Tom ist toll...", meinte Stimme zwei offensichtlich enttäuscht darüber, dass sie und ihre Meisterin nicht den gleichen Männergeschmack hatten.
„Aber im Prinzip findest du Aiden doch auch gut, oder? Er hat so schöne Augen. Wie ein süßer Hund."
„Auch süße Hunde können beißen. Und selbst wenn er nicht bellt oder beißt, man sollte auch auf ihre Krallen achtgeben. Nach dieser Sache mit Katara steht ja wohl fest, dass er es faustdick hinter den Ohren hat."
„Wow. Das ist echt inspirierend."
Ich verdrehte die Augen. Für meinen Geschmack war Stimme zwei etwas zu angetan von der Meinung ihrer Freundin.
Stimme eins schnalzte mit der Zunge.
„...naja... das Geld war ja nicht der einzige Grund, warum er dieser Wette zugestimmt hat. Da war ja noch... ach nein. Das sollte ich gar nicht erzählen. Nicht bevor es nicht ganz offiziell ist." Wenn es eine Methode gab, um ein Gerücht wie ein Lauffeuer in der gesamten Schule zu verbreiten, so war es diese Methode. Die Falle war ausgeworfen und schnappte zu. Stimme zwei sprang sofort auf den Köder an.
„Was ist es? Was ist es denn? Hast du eine Theorie?" Stimme zwei klang so euphorisch, als wäre das andere Mädchen ihr Sensei und kurz davor ihr irgendeine geheime Formel anzuvertrauen. Stimme eins spielte sich währenddessen mächtig auf.
„Hm... na schön, wenn du es unbedingt wissen musst... Wenn du mich fragst, und du weißt, dass ich eigentlich immer recht mit so etwas habe, dann..." Sie machte eine verheißungsvolle Pause.
„...steht Aiden auf Helena und wollte sie mit der Person eifersüchtig machen, von der er wusste, dass sie sie am meisten stören würde. Nichts gegen Katara, aber bis zu der Sache mit Aiden, wusste niemand so wirklich, dass sie überhaupt existiert."
Ich drückte mir die Hand auf den Mund, um das Keuchen zu unterdrücken.
„Aber mag Helena Aiden nicht? Sie sind doch schon seit Ewigkeiten befreundet."
„Schaust du keine Filme oder liest Bücher? Freundschaften zwischen Mann und Frau funktionieren einfach nicht. Einer empfindet immer mehr. Glücklicherweise geht es in dem Fall beiden so. Natürlich steht Helena auch auf Aiden. Aber eben auch auf Tom. Verstehst du jetzt? Aiden hat gesehen, dass sich Helena immer besser mit Tom verstand. Natürlich hat sie sich da auch in ihn verliebt. Sie stand genau zwischen den beiden. Aiden hat nie den ersten Schritt gemacht, aber jetzt da die Sache zwischen Tom und Helena immer ernster wurde, konnte er seine Liebe einfach nicht mehr ignorieren. Deswegen musste er Helena irgendwie zeigen, dass sie eigentlich nichts von Tom will, sondern nur von ihm. Katara war das perfekte Mädchen für diesen Job. Hübsch, aber unscheinbar. Nicht zu vergleichen mit Helena. Und dazu noch leicht verdientes Geld. Besser konnte es also gar nicht laufen. Und jetzt da Helena eingesehen hat, was sie für Aiden empfindet und dass sie viel lieber mit ihm zusammen sein will, als mit Tom, konnte Aiden Katara ganz einfach fallen lassen und das Geld einkassieren. Dieses Eifersuchtsdrama hat es ziemlich in sich, wenn du mich fragst.", schloss Stimme eins zufrieden ab.
„Wow, du bist so schlau. Darauf wäre ich nie gekommen."
„Ich weiß. Aber dafür bin ich schließlich da, oder?"
Die Schulglocke ertönte und ich zuckte so heftig zusammen, dass ich mit einem Knall auf die (glücklicherweise) geschlossene Toilette plumpste. Ich befürchtete meine Anwesenheit damit preisgegeben zu haben.
„Was war das?"
„Ist doch egal. Komm, gehen wir lieber. Oder der Kowalski reißt uns noch die Köpfe ab, wenn wir wieder zu spät sind."
Auch als die beiden Mädchen schon einige Sekunden weg waren, verharrte ich in meiner Position. Meine Hände zitterten unkontrolliert und ich konnte nicht verhindern, dass sich heiße Tränen in meinen Augenwinkeln sammelten und über meine Wangen auf den Boden klatschten. Ob aus Wut oder Trauer konnte ich nicht richtig einordnen.
Meine Rüstung, von der ich dachte, sie sei aus dem härtesten Stahl der Welt gefertigt worden, war leider doch nur aus Papier und hing in jämmerlichen Fetzen an mir herunter. Dieser Tag hatte alles andere als vielversprechend begonnen.
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