18 | Das mit dem Tee
Emma erschien erst am Mittwoch wieder in der Schule. Entgegen meiner Befürchtung, dass sie sich von Eva und mir abgrenzen würde, verhielt sie sich wie immer. Mir fiel damit immerhin ein kleiner Brocken vom Herzen. Mom behielt recht, so wie meistens. Ich musste ihr einfach Zeit geben, darüber nachzudenken, wie sie mit dieser neuen Situation umgehen wollte.
Emma und Eva saßen nun fast in jeder Pause und Freistunde nebeneinander und lasen. Wenn sie wirklich in ihrem Element waren und ganz konzentriert auf die Seiten vor ihnen starrten, konnte nichts und niemand sie aus der Ruhe bringen. Selbst Leonardo DiCaprio samt Paparazzi und kreischenden Fans hätte an ihnen vorbeilaufen können und sie hätten es nicht einmal bemerkt. Davon konnte ich nur träumen. Ich hatte neuerdings ja sogar schon Konzentrationsprobleme, wenn es im Klassenzimmer mucksmäuschenstill war. Zugegeben, das hing auch mit der Anwesenheit einer gewissen Person zusammen. Ich musste dringend meine Prioritäten neu ordnen.
Auch wenn ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, beobachtete ich Emma öfter lange und gründlich. Ich suchte nach einem Zeichen. Einem stummen Hilfeschrei, auf den ich nur allzu gerne geantwortet hätte. Du bist nicht allein. Diese Botschaft versuchte ich in meinen Blicken zu verstecken. Ob die Nachricht ankam, wusste ich nicht. Emma lächelte verlegen und unterzog sich meinen prüfenden Blicken beinahe eine Spur zu gelassen. Sie ließ nicht weiter hinter die Fassade blicken. Dennoch wusste ich, dass es ihr lieber wäre, wenn ich von nichts gewusst hätte. In meinen schwachen Momenten wünschte ich mir selbst, dass ich von den Zuständen bei ihr zuhause nie erfahren hätte. Kaum hatte ich diesen furchtbar egoistischen Gedanken zu Ende gedacht, schämte ich mich bereits dafür. Was war ich nur für eine grauenhafte Freundin?
Würde ich mich an Emmas Stelle befinden, könnte ich zu jeder Zeit auf meine beste Freundin zählen. Niemals würde sie mich im Stich lassen, allein die Vorstellung würde ihr falsch vorkommen.
Nicht einmal die gute Note, die wir für unsere Hausarbeit erhielten, konnte mich aufmuntern. Meine Gruppe hatte sich nur noch einmal in der Bibliothek treffen müssen, um die Arbeit fertig zu schreiben und Aiden hatte sich nichts von diesem merkwürdigen Mensa-Moment anmerken lassen. Gerade als ich mich so weit zusammengerafft hatte, um wieder einen Schritt auf ihn zuzumachen und ihm wenigstens bis zu einem bestimmten Grad zu verzeihen (was hielt uns davon ab, einfach nur Freunde zu sein?), unterband er jeden weiteren Versuch mich auf den Fluren abzufangen und mit mir zu sprechen. Er nickte mir bloß kurz zu oder lächelte sein Grübchen-Lächeln, sodass meine Beine weich wurden. Ohne, dass ich so ganz wusste, warum, war ich wieder wütend auf ihn. Mom hätte (wenn ich mit ihr darüber gesprochen hätte) bestimmt gemutmaßt, dass meine Stimmungsschwankungen an der Pubertät lag, die bei mir schließlich sehr spät eingesetzt hatte. Ich war eine Spätzünderin in so ziemlich allem. Oder es lag, wie meine Mutter weiter überlegt hätte, daran, dass ich meine Tage bekam. Dem war nicht so. Ich wusste es besser. Meine Gefühlsschwankungen lagen einzig und allein an ihm. Und damit vielleicht ein klitzekleines bisschen auch an der Pubertät. Aber doch vor allem an meiner leider immer noch währenden Schwärmerei.
Wir behandelten uns fast so wie früher. Ich, Bestandteil der Schüler, die ständig übersehen wurden, und er, das genaue Gegenteil. Obwohl es - die Rückkehr zu der Zeit, in der ich unsichtbar gewesen war - genau das war, was ich mir immer erhofft hatte, spürte ich einen unangenehmen Stich in der Brust. Nicht in meinem Herz, nur sehr nah daneben.
In Wirklichkeit hatte sich alles verändert und wenn ich ehrlich sein sollte, wollte ich auch nicht mehr in diese Zeit zurückkehren. Ich vermisste unsere Gespräche, unsere vielsagenden Blicke im Deutschunterricht, wenn wir genau wussten, was der andere gerade dachte und wenn er aus dem Nichts nach meiner Hand griff und dann schelmisch grinste, weil er ohne hinzuschauen wusste, dass ich rot anlief. Ich vermisste diese kleinen Augenblicke mit ihm. Unweigerlich erinnerte ich mich auch an sein Geständnis oder was auch immer es gewesen war: „Ich habe mich in dich verliebt." Wahrheit oder Lüge? War es schon so weit gekommen, dass er sich selbst eingeredet hatte, über die Zeit Gefühle für mich entwickelt zu haben, oder (und das war beinahe noch schlimmer, denn es machte alles noch komplizierter), es war die pure Wahrheit.
Ich musste nur daran denken und schon sprangen meine Gefühle unkontrolliert hin und her. Wut, Trauer, Hoffnungslosigkeit, gepaart mit einer explosiven Mischung aus Tatendrang, Zuversicht und Hoffnung. Einmal hielt ich mich nur knapp davon ab, mir meine Jacke zu schnappen, die zwanzig Minuten zu ihm nach Hause zu laufen und ihn mit all meinen Gedanken zu konfrontieren. Langsam wurde mir alles zu viel. Es war zum verrückt werden. Anders konnte man, meiner Meinung nach, mit so viel Stress auch gar nicht umgehen.
Als ich nach einem anstrengenden Tag, durchnässt und erkältet (es hatte seit Tagen nicht mehr aufgehört zu regnen und ich befand mich mit meiner Kleiderwahl immer noch im milden Herbst-Modus) nach Hause kam, hatte ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als einfach in mein Bett zu fallen, die Augen zu schließen und sie erst wieder zu öffnen, wenn der Winter vorbei war. Oder wenn ich wie Dornröschen von meinem Traumprinzen wachgeküsst wurde.
Stattdessen musste ich erfahren, dass wieder nichts aus meinem Traum eines gemütlichen und stressfreien Nachmittages wurde. Ich hörte Stimmen aus dem Wohnzimmer. An die eine Stimme hatte ich mich nach zwei Wochen ihres unangekündigten Besuchs mehr oder weniger gewöhnt, die andere Stimme war mir sogar so vertraut, dass meine erste Lösung der Rückzug gewesen war. Es war fast schon erbärmlich, wie konsequent ich ihm aus dem Weg zu gehen versuchte, während ein anderer Teil von mir das genaue Gegenteil wollte. Als würde mein Inneres Tauziehen spielen. Die meiste Zeit über wusste ich nicht, wer dieser beiden Kontrahenten die Oberhand gewonnen hatte, doch in diesem Moment war es wohl der „Renn-so-schnell-weg-wie-du-kannst"–Teil. Meine Ankunft blieb leider nicht unbemerkt.
„Katara? Bist du das?" Oma – Pardon - Großmutter Adelaide, wie wir sie nennen sollten, hatte Tee aufgesetzt und servierte unserem Gast obendrauf noch ein Stück Kuchen. Ein Stück des saftigsten Schokoladenkuchens, den ich je gebacken hatte und auf den ich ziemlich stolz war – und den ich nur für uns vier gemacht hatte. Eigentlich nur für uns drei (Mom, Paul und mich) denn nach ihrem äußerst charmanten Kommentar („Das sind so viele Kalorien, Katara. Das tut deiner Figur aber nicht besonders gut") hatte ich ihr kein Stück mehr abgeben wollen. Nun schienen ihr die Kalorien jedoch nichts mehr auszumachen. Das große fehlende Stück in der Torte ließ darauf schließen, dass sie den Kuchen nicht erst vor ein paar Minuten hervorgeholt hatte, sondern bereits ordentlich zugelangt hatte.
Mit übereinandergeschlagenen Beinen, dem breiten karierten Rock, der feinen Bluse und einem Rückgrat, bei dem man glauben konnte, sie hatte zum Frühstück einen Spazierstock verschluckt, hatte sie es sich in ihrem Sessel bequem gemacht. Wobei – bequem war relativ, immerhin war sie den Spazierstock noch nicht losgeworden. In der einen Hand hielt sie eine Untertasse, in der anderen ein Teetasse aus feinem englischen Porzellan, die sie nur zu besonderen Ereignissen aus einer riesigen und unhandlichen Holzkiste zu nehmen pflegte, und welche sie nun genüsslich an die Lippen führte. Die Holzkiste mit englischem Porzellan, welche uns auf Gedeih und Verderb verboten war anzurühren, stand seit ihrem übergangsmäßigen Einzug überall im Weg herum. Ich war schon viermal mit dem kleinen Zeh an der schlecht platzierten Kiste angeeckt. Auf der Schmerzskala machte das Ding sogar dem getarnten Lego-Stein im Florteppich ernsthafte Konkurrenz. Meine Stimmungsschwankungen meldeten sich auch wieder zu Wort.
Aiden kaute angestrengt. Ich hoffte, er verschluckte sich an den Krümeln. Dafür, dass er mich so überrumpelte und einfach so bei mir zuhause auftauchte. Mit verschränkten Armen blieb ich im Türrahmen stehen.
„Was machst du hier?", fragte ich ohne Umschweife und bei dem scharfen Klang meiner Stimme zuckte er merklich zusammen. Er legte die Kuchengabel beiseite und sein Mund sprang auf, als wollte er etwas sagen, aber Großmutter kam ihm zuvor.
„Setz dich zu uns. Der Tee in der Küche ist gleich fertig. Du hast ganz schön auf dich warten lassen, junges Fräulein." Sie rümpfte die Nase, sagte allerdings nichts über mein Erscheinungsbild. Wäre sie die letzten 20 Minuten bei Klatschregen und ohne Regenschirm nach Hause gelaufen, so wie ich, sähe sie jetzt mindestens genauso schlimm aus. Ich rümpfte ebenfalls die Nase und stellte mich abrupt aufrecht hin. Wäre doch gelacht, wenn ich mich von ihr unterkriegen lassen würde.
Ich hasste es, wenn sie mich junges Fräulein nannte. Als wollte sie mir damit unter die Nase reiben, dass sie viel mehr Lebenserfahrung besaß und aus diesem Grund die Erlaubnis hatte, zu allem und jedem ihren Senf dazuzugeben. Hatte sie nicht. Jedenfalls nicht in meiner Welt. Mom war immer noch zu nachsichtig mit ihr, ausgenommen ihres kleinen Wutausbruchs bei ihrer Ankunft. In Anwesenheit ihrer Schwiegermutter hatte sie sich, nachdem sie den ersten Schock überwunden hatte, überraschend gut im Griff. Vielleicht lernte man das, wenn man erwachsen war, ich jedenfalls drohte schon bei nur einem ihrer „gut gemeinten Ratschläge" an die Decke zu gehen und zu randalieren, wie ein Feuerwerkskörper, den man aus Versehen drinnen gezündet hatte.
„Sie hat ihr Zuhause verloren. Wir sollten das Beste aus dieser Situation machen.", sagte Mom immer wieder, wobei ich mir sicher war, dass sie damit auch sich selbst gut zusprach.
„Aber muss sie deswegen auch unser zuhause kaputt machen?", hatte ich bissig geantwortet, obwohl meine Mutter der letzte Mensch war, den ich für Großmutter Adelaides Verhalten verantwortlich machen konnte. Sie sah traurig aus.
„Dein Vater hätte es so gewollt.", hatte sie mit gedämpfter Stimme geantwortet und ich hatte mich beinahe automatisch verkrampft. Dieser Kommentar saß und sie erzielte damit genau das, was sie erreichen wollte. Ich knickte ein und sie triumphierte.
„Sie gibt sich wirklich Mühe."
Ja, genau. Und die Erde ist eine Scheibe. Davon sah ich, sehr zu meinem Leidwesen, in diesem Moment herzlich wenig.
„Nun gut, wenn du stehen möchtest, hol doch den Tee aus der Küche."
Bitte und danke schienen ebenfalls Fremdwörter in ihrem Vokabular zu sein. Ich schnaubte und warf Aiden einen Blick zu, der ihm hoffentlich verständlich machte, dass seine Anwesenheit hier nicht länger erwünscht war. Und- um Himmels Willen! Sollte Paul auf die Idee kommen in nächster Zeit nach unten zu kommen, würde die Hölle ausbrechen. Wie würde er wohl reagieren, wenn er Aiden, Staatsfeind Nummer eins und schwarzes Schaf auf Lebzeiten, gemütlich bei einer Tasse Tee und einem Stück Schokoladenkuchen in unserem Wohnzimmer vorfinden würde. Dann würde sich Aiden nicht mehr retten können. Ob es eher gut oder schlecht war, dass Paul immer noch an Krücken lief? Ein gezielter Hieb mit dem Ende seiner Gehhilfe war ohne jeden Zweifel schmerzhaft.
Und dann ohne Vorwarnung: „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Dein Bruder ist momentan bei der Physiotherapie. Ebenso wie deine Mutter. Sie hat ihn erst vor kurzem hingefahren. Es wird wohl noch eine Stunde dauern. Bei dem Wetter kann er schlecht nach draußen und in der Klinik haben sie viel mehr Platz für seine Übungen.", sagte die Kuchendiebin verschwörerisch.
Das nannte sich dann wohl Wink des Schicksals. Aber, Moment. Was wusste Großmutter Adelaide über die Sache zwischen Paul, Aiden und mir? Argwöhnisch kniff ich die Augen zusammen und warf Aiden einen kurzen, aber durchdringenden Blick zu. Was hatte er ihr erzählt? Ausgeschlossen, dass sie etwas von Paul erfahren hatte. Und von mir erst recht nicht. Doch sie wusste etwas. Was dieses „Etwas" war, war die nächste Frage.
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