14 | Das, in dem ich nachdenklich bin
Gespannt wie ein Flitzebogen drückte ich auf den Knopf und das mechanische Klingeln ertönte. Ich hoffte, dass Eva ein besseres Zeitmanagement besaß und sich nicht (so wie ich) erst eine halbe Stunde vor dem Treffen von Jogginghose und Schlabbershirt verabschiedet hatte.
Susan, Aidens Tante, öffnete die Tür und lächelte von einem Ohr zum anderen.
„Katara, wie schön, dich zu sehen. Ich habe mich schon gefragt, wann du wohl das nächste Mal vorbeischaust."
„Hallo. Ich freue mich auch dich zu sehen.", begrüßte ich die Frau und erinnerte mich gerade noch rechtzeitig daran, dass sie mir bei unserem letzten Aufeinandertreffen das ‚Du' angeboten hatte. Ich freute mich wirklich. Sie hatte die gleiche Gabe wie ihr Neffe: jeder musste sich in ihrer Nähe unweigerlich wohl fühlen. Ich streifte mir schon vor der Tür die dicken Winterstiefel von den Füßen. An den Sohlen hing der Matsch vom Streusalz, das heute auf allen Hauptstraßen verteilt worden war und das bei jedem Schritt unangenehm knirschte.
„Komm rein, du frierst sicher. Bist du etwa zu Fuß gekommen? Dieses nasskalte Wetter ist wirklich schrecklich. Ich mag den Sommer lieber.", bemerkte sie und schob mich gleichzeitig energisch in den Flur.
„Es ist ja nicht weit. Ich mag den Winter, aber wenn es wenigstens schneien würde..."
„Oh, ich hab gehört, dass die Chancen für weiße Weihnachten sehr gut stehen sollen. Das sagt zumindest der Wetterbericht."
„Wirklich?" Mein sehnsüchtiger Blick glitt zum wolkenverhangenen Himmel. Wie oft hatte ich mir in den letzten Tagen gewünscht, der ständige Regen würde sanften weißen Flocken weichen? Die Realität sah jedoch anders aus. Die traurige Wahrheit war, dass es seit fünf Jahren nicht mehr richtig geschneit hatte. Von weißen Weihnachten ganz zu schweigen. Der Schnee ließ sich bei uns meistens erst im März blicken und selbst dann blieb er selten liegen. Übrig blieb meist nur der verhasste Schneematsch, der die graue trostlose Landschaft noch grauer und trostloser machte.
„Geh ruhig durch, du kennst dich ja aus. Sie warten im Arbeitszimmer. Möchtest du Tee oder Kaffee?"
„Danke, ich brauche nichts.", sagte ich und versuchte dabei nicht allzu erleichtert zu klingen. Sie hatte gesagt „Sie warten". Das hieß Eva war schon da. Eine Sorge weniger.
„Fühl dich wie zuhause. Wenn du Durst hast oder Hunger, nimm dir, was du findest." Susan ließ noch einmal ihre Zähne aufblitzen und verschwand dann in einem angrenzenden Zimmer. Vielleicht ein zweiter Büroraum.
Ich atmete tief durch, bevor ich endlich einen Fuß ins Wohnzimmer setzte, von wo aus man zum Arbeitszimmer gelangte. Ein merkwürdiges Gefühl machte sich in mir breit. Das letzte Mal, als ich hier gewesen war, hatten Aiden und ich an unserer ersten Hausarbeit gearbeitet. Damals war ich davon ausgegangen, dass das Arbeitszimmer seinem Vater gehörte, nur um später zu erfahren, dass Aidens Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren und er hier mit seiner Tante Susan, seinem Onkel Alex und seiner mir unbekannten Schwester lebte.
Ich fragte mich unwillkürlich, ob sich seine Schwester vielleicht heute blicken lassen würde. Beim letzten Mal hatte ich nur vor verschlossenen Türen gestanden und vereinzelte Gitarrenklänge wahrnehmen können.
Aiden und Eva waren bereits in ihre Arbeit vertieft und ich stellte meine Tasche so leise es ging ab.
„Hey." Aiden sprang, wie von einer Tarantel gestochen, auf die Beine.
„Katara! Hast du geklingelt? Ich hab nicht gehört, dass du gekommen bist."
„Deine Tante hat mir aufgemacht." Kurz kam es mir so vor, als wäre er bei diesen Worten zusammengezuckt. Eva, die bis dahin nichts gesagt hatte, winkte mich zu sich an den PC.
„Hier, schau dir das mal an. Ich hab die Einleitung geschrieben und die Struktur eingefügt. Was hältst du davon?"
Erst zweieinhalb Stunden und vier Seiten später, machten wir eine Pause, die wir uns meiner Meinung nach auch redlich verdient hatten. Aidens Nähe hatte mir überraschend wenig ausgemacht. Außer einmal, als er über meine Schulter auf den grell leuchtenden Bildschirm gestarrt hatte und ich seinen Atem in meinem Nacken spüren konnte, hatte eine Gänsehaut mich sofort zum Frösteln gebracht. Solange er auf Sicherheitsabstand blieb, konnte ich beruhigt weiterarbeiten.
Irgendwann stand Susan in der Tür, in ihren Händen ein Tablett mit drei großen Tassen.
„Arbeitet ihr immer noch? Ihr solltet mal eine Pause einlegen. Euch rauchen ja schon die Köpfe." Zufrieden stellte sie das Tablett vor unsere Nasen und der verführerische Duft kroch zu uns herüber. Heiße Schokolade. Allein beim Geruch lief mir das Wasser im Mund zusammen.
„Dankeschön.", sagte Eva mit leuchtenden Augen und griff nach einer knallorangenen Tasse. Mir reichte sie eine grün-blau gestreifte.
„Gerne." Susan zwinkerte und hob mahnend den Zeigefinger.
„Macht nicht zu lange. Es ist Wochenende. Da solltet ihr euch entspannen und nicht immer in der Bude hocken. Ihr dürft euch auch einmal ausruhen. Warum geben euch eure Lehrer so viele Hausaufgaben auf? Hätten sie euch nicht Zeit geben können, damit ihr die Arbeit in der Schule schreiben könnt?"
Verwirrt glitten meine Augen zu Aiden. Ich hatte das vage Gefühl, dass er seiner Tante verschwiegen hatte, dass die letzten Deutschstunden ausgefallen waren, damit wir an der Hausarbeit arbeiten konnten.
„Das ist eben so in der Oberstufe...", murmelte er und nahm gleich darauf einen großen Schluck aus seiner blauen Tasse. Er verschluckte sich und seine Wangen färbten sich rot.
„In solchen Momenten bin ich froh, dass ich die Schule nach der zehnten Klasse abgebrochen habe. Nicht, dass ich euch dazu ermuntern will! Bekommt das bitte nicht in den falschen Hals.", ruderte Susan schnell zurück. Ich musste schmunzeln.
„Was hast du dann gemacht?" Sie seufzte und ihr Blick glitt in die Ferne, oder besser gesagt in eine andere Zeit. Sie schwelgte in Erinnerungen.
„Nachdem ich aus der Schule raus war, war ich drei Monate lang auf Reisen. Ich war hauptsächlich in Schweden, Norwegen und Finnland. Die Natur, die Fjorde, die Nordlichter... Es war einfach herrlich. Solltest du jemals die Chance haben in den Norden zu fahren, solltest du das unbedingt tun. Ich erinnere mich so gerne daran."
„Du hast die Nordlichter gesehen?"
„Ja, es war unglaublich. Und leider nicht lange genug. An dem Tag war es sehr wolkenverhangen und wir sind mit dem Bus mitten in der Nacht irgendwo an die Grenze von Russland gefahren. Dort sollte man die Nordlichter recht gut sehen, hat man uns gesagt. Und ganz kurz haben wir sie auch gesehen. Ein grüner Schimmer über dem dunklen Nachthimmel, und schon war es wieder weg. Irgendwann werde ich noch einmal dorthin fahren und sie länger als nur ein paar Sekunden sehen. Der Anblick ist einfach atemberaubend."
Das glaubte ich ihr aufs Wort. In den nächsten Minuten erzählte sie von ihren Wandertrips in Schweden, der Fahrt mit einem Husky-Schlitten und dem Moment, in dem sie zum ersten (und letzten) Mal in ihrem Leben Rentierfleisch gegessen hatte. Aidens Kommentar dazu („Du hast Rudolph gekillt.") ignorierte sie geflissentlich. Eva lächelte leicht.
„Eigentlich hat es nicht sehr viel anders als Rindfleisch geschmeckt.", sagte Susan nachdenklich. „Naja, damals habe ich gedacht, dass das die beste Zeit meines Lebens ist, aber es wurde sogar noch besser."
Abwartend zog ich eine Augenbraue in die Höhe. Aidens Tante grinste selig.
„Bei einem Ausflug nach Stockholm habe ich meinen Mann kennengelernt."
Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, stellte ich mir eine Liebesgeschichte vor, wie sie nur im Märchen existieren konnten – den kinderfreundlichen Disney-Versionen natürlich.
Susan fuhr sich verlegen durch die Haare. Eine Geste, die mich an Aiden erinnerte.
„Wir haben jeden Tag zusammen verbracht. Damals hat er in derselben Jugendherberge gelebt. Eigentlich wollte er mit der Fähre zurück nach Helsinki. Da hat er nämlich studiert, aber als wir uns kennenlernten..."
„Tante Susan, nichts für Ungut, aber ich glaube nicht, dass Katara diese Geschichte hören will."
Ist das so?
„Ist das so?", fragte auch Susan. Aiden verdrehte die Augen. Eva kicherte leise.
„Von mir aus. Dann störe ich euch nicht weiter. Aber ich möchte dich daran erinnern, dass du derjenige warst, der mir immer und immer wieder damit in den Ohren lag. Du bist ein Romantiker, willst es dir aber nicht eingestehen." Sie zwinkerte mir kurz zu.
„Er will es nicht zugeben, aber er liebt die Geschichte, wie ich Alex kennengelernt habe. Als Kind war er ein großer Fan solcher Geschichten. Geschichten, in denen der Prinz die Prinzessin rettet. ‚Später, wenn ich groß bin, werde ich auch ein Prinz.' hat er immer gesagt.", plauderte Susan weiter munter aus dem Nähkästchen und ich war kurz davor, sie mehr über Aiden auszufragen. Zur allgemeinen Belustigung versteht sich. Eva hatte anscheinend auch Mühe, das aufkeimende Lachen unter Kontrolle zu halten.
„Susan..." Aidens Hautfarbe war mittlerweile auf dunkelrot umgesprungen.
„Ist ja schon gut." Sie grinste verschmitzt. „Du lässt dich immer so gut ärgern, seit...", bemerkte sie und ließ das Ende des Satzes absichtlich in der Luft hängen. Ich hatte diesen Austausch bislang stumm beobachtet. Nun presste ich die Lippen fest zusammen, damit ich nicht lauthals loslachte.
„Naja. Danach habe ich jedenfalls eine Ausbildung als Erzieherin gemacht. Und ich bin immer noch sehr begeistert. Ich habe immer das Gefühl, euch wird in der Schule eingeredet, man kann nur glücklich sein, wenn man Abitur hat und studiert. Aber dem ist nicht so. Ausbildung, freiwilliges soziales Jahr, Studium, Au-Pair, reisen ... euch stehen alle Türen offen."
Ich nickte nachdenklich. Daran hatte ich tatsächlich noch nie gedacht. Ich war so versessen darauf zu studieren, dass mir die Möglichkeit eine Ausbildung zu machen oder eine Zeit lang als Au-Pair ins Ausland zu gehen, gar nicht in den Sinn gekommen war. An unserer Schule gab es, wie mir schien, nur diesen einen Weg. Abitur und Studium. Am besten beides schnellstmöglich hintereinander, um keine Zeit zu verlieren. Dabei standen uns wirklich alle Türen offen.
„Dann lasse ich euch mal wieder allein. Ich hab auch noch zu tun. Ich muss noch die Steuer fertig machen..." Susan verzog das Gesicht und schloss die Tür hinter sich und einige Sekunden herrschte Stille.
„Ich mag deine Tante.", sagte ich schließlich an Aiden gewandt. Er senkte den Blick.
„Ich mag sie auch.", stimmte mir Eva zu und plötzlich wurde die Stimmung zwischen uns ziemlich gedrückt. Hatte ich etwas Falsches gesagt? Und wenn ja, was? Ich räusperte mich und fuhr gedankenlos über den Rand meiner leeren blau-grün gestreiften Tasse.
„Machen wir weiter?" Meine Stimme klang urplötzlich ziemlich weit entfernt. Die angespannte Atmosphäre verschwand nicht.
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