
27 | Das, in dem ich sprachlos bin
Mitte März in Spanien an einem Pool zu sitzen und dabei zuzusehen, wie sich Emma, Eva, Aiden und ein paar andere Verrückte, die sich bei diesen Temperaturen in den Pool getraut hatten, einen Ball zuwarfen, war schon surreal - doch Frau Lammer, leicht schwankend, mit einem Aperol in der Hand schoss nun wirklich den Vogel ab. Herr Kastor ging dicht hinter ihr und hatte die Arme so ausgebreitet, dass er sie im Notfall auffangen könnte. Er lotste sie diskret vom Rand des Beckens weg.
»Abschlussklasse, bitte zuhören! Hey! Alle mal herkommen!«
Emma und Eva stiegen aus dem Wasser und hüllten sich in ihre Handtücher. Sie schlotterten und ich war froh auf meine innere Stimme gehört zu haben. Stattdessen hatte ich die Aufgabe des Schiedsrichters übernommen. Bis sie unvorhergesehen von Frau Lammer unterbrochen wurden, hatte es gerade 14 zu zwölf für die Mädchen gestanden. Unsere Aufsichtspersonen – ich fragte mich, wer hier wohl auf wen aufpasste - warteten, bis Ruhe eingekehrt war.
Es folgte der Plan für die nächsten Tage, Tagesausflüge und andere Informationen wie zum Beispiel die Frühstück- und Abendessenzeiten. Dass wir bereits um 7:00 Uhr beim Frühstück erscheinen sollten, stieß allgemein auf Unverständnis.
»Was ist das denn für eine Klassenfahrt? Da will man ausschlafen!«
»Es handelt sich hier um eine Studienfahrt. Sie sollen etwas lernen und sich nicht auf die faule Haut legen«, belehrte Herr Kastor, weil Frau Lammer mit jeder Sekunde grüner im Gesicht wurde. Aperol schwappte aus dem Weinglas.
»Frau Lammer sieht gar nicht gut aus«, flüsterte Emma.
»Hoffentlich muss sie sich nicht übergeben«, flüsterte ich zurück, denn genau danach sah es aus.
»Abendessen gibt es ab sechs. Das heißt um zehn Uhr werdet ihr auf euren Zimmern sein und euch ruhig verhalten. Schon wegen den anderen Gäste. Es gab schon Beschwerden, weil ihr zu laut seid«, riss Frau Lammer, nachdem sie eine gesündere Farbe angenommen hatte, das Wort ungerührt an sich. In diesem Moment wurde sie von weiteren Protestschreien unterbrochen.
»Zehn Uhr ist einfach lächerlich. Wir sind doch keine Babys mehr!«, rief Malte.
»Eben. Was soll die Scheiße?«
»Seh ich auch so. Das ist total gemein.«
Frau Lammer fixierte uns mit einem scharfen Blick, der keine Widerrede duldete. »Um zehn Uhr seid ihr alle auf euren Zimmern«, wiederholte sie, »Dann möchte ich niemanden mehr auf den Fluren sehen, es sei denn er hat einen wirklich guten Grund. Und damit wir uns verstehen. Ein Engpass an Süßigkeiten gilt in meiner Welt nicht als guter Grund.«
»Aber wahrscheinlich ein Engpass an Alkohol. Wie viel hat die Frau bitte intus?«, fragte Sebastian laut und diejenigen, die ihn gehört hatten, schnappten kollektiv nach Luft. Frau Lammer war seine Bemerkung glücklicherweise entgangen.
Helena seufzte leise.
»Herr Kastor wird Kontrollgänge machen.« Herr Kastor baute sich neben Frau Lammer gewichtig auf und streckte die Brust vor, als hätte sie ihm gerade einen unsichtbaren Orden verliehen.
Die Neuigkeiten bereiteten der vielversprechenden Ankunft einen kleinen Dämpfer. Aiden legte einen Arm um meine Schultern. Eiskaltes Wasser rann meinen Rücken herunter und ich wand mich aus seiner Umarmung.
»Genau deswegen bin ich nicht schwimmen gegangen.« Aiden grinste und unternahm einen weiteren Versuch seine Arme um mich zu schlingen, aber ich tauchte unter seinem Arm hinweg. Ergeben schnalzte er mit der Zunge.
»Ich schätze, dann machen wir uns fertig und gehen was essen, oder? Danach können wir ja noch etwas durch die Stadt laufen«, schlug er vor. Ich nickte zustimmend.
»Ich muss vorher auch noch meine Mutter anrufen. Ich habe ihr versprochen mich zu melden, wenn wir angekommen sind. Ich hab ihr nur eine kurze Nachricht geschrieben.«
»Sie freut sich sicher«, sagte er und ich stellte erstaunt fest, dass er es nicht sarkastisch, sondern wirklich ernst damit meinte.
»Sie tut so, als wäre ich nicht nur eine Woche, sondern gleich ein ganzes Jahr weg.« Augenrollend trat ich neben ihn in den Aufzug. Eva zitterte immer stärker.
»D-d-das w-w-war eine d-d-dumme Idee.« Ihre Zähne klapperten aufeinander.
»Du bist ein Idiot«, sagte Aiden, rieb ihr aber über den Arm, um sie aufzuwärmen.
»D-d-du b-b-bist ein Idiot«, warf sie zurück, »W-w-warum ist dir b-bitte nicht k-kalt?«
»Ich hab die bessere Durchblutung.« Eva knuffte ihren Bruder in die Seite. Empört schlug er ihre Hand weg.
»Wo ist eigentlich Helena?«, fragte ich und sah dem Strom an Schülern hinterher. Emma zuckte mit den Schultern.
»Bestimmt ist sie schon vorgegangen. Draußen war sie nicht mehr.« Eva runzelte verwundert die Stirn.
»Ich d-d-dachte, ich hätte s-s-sie eben noch am P-P-Pool bei T-T-Tom gesehen«, meinte sie.
»Sie wird schon wieder auftauchen«, entgegnete Aiden. Der Aufzug brauchte länger, um uns auf unser Stockwerk zu bringen.
»Vielleicht denkt deine Mutter ja, dass du das machst.«
»Was? Ein Jahr weggehen?« Aiden nickte.
»Warum nicht? Viele machen das nach der Schule, um mal zu reisen. Ich hab auch schon darüber nachgedacht«, gestand er dann.
»E-e-echt?«, warf Eva dazwischen.
»Also diese Sorge ist unbegründet. Ich wüsste ja gar nicht wohin mit mir. Geschweige denn, was ich mit der ganzen freien Zeit anfangen soll.«
»Ich wollte Verwandtschaft in Norwegen besuchen. Unser Onkel ist vor ein paar Jahren mit seiner Familie dahin ausgewandert. Wir haben ihn lange nicht mehr gesehen und ich dachte mir, man könnte in einem nach Lappland reisen, um die Nordlichter zu sehen.« So wie er plauderte, hörte es sich an, als hätte er wirklich oft über diesen Einfall nachgedacht.
»Das hört sich gar nicht mal so schlecht an«, sagte ich langsam und mein Herz schlug plötzlich schneller. Als wäre der Funken der Begeisterung von Aiden auf mich übergesprungen. »Ich weiß schließlich immer noch nicht, was ich machen will, vielleicht würde mir so eine Pause auch helfen. Um zu entscheiden, was ich mit meinem Leben anfange. Studieren oder was ganz anderes.«
»Und selbst, wenn du es wüsstest. Wann haben wir jemals noch die Chance zu reisen, wann wir wollen?«, steuerte Emma bei. »Im Studium wird man die ganze Zeit lernen und die Semesterferien dürften auch nicht wirklich lang sein. Und später im Beruf ist man auch eingeschränkt. Jetzt ist die beste Zeit, die Welt mit eigenen Augen zu sehen.«
Inspiriert durch ihre Worte, formte sich in meinem Inneren ein Ball aus Glück. Seit Emma die Nachricht erhalten hatte, dass sie in die engere Auswahl für ein Stipendium kam, war sie wie ausgewechselt, hoffnungsvoll und energiegeladen.
»Vielleicht habt ihr Recht. Ich lass mir das mal durch den Kopf gehen«, schloss ich.
Gut gelaunt verabredeten wir uns fürs Essen mit Aiden und tapsten durch den Gang zu unserem Zimmer.
»Das ist doch nicht euer Ernst!« Der empörte Aufschrei hallte von den Wänden wider. Wir drehten uns gleichzeitig um. Frau Lammer richtete ihren Blick auf die Pfütze zu unseren Füßen, die sich langsam vergrößerte. Der Aperol war verschwunden.
»U-u-upps«, murmelte Eva. Sie und Emma trieften. Selbst die Handtücher um ihre Schultern waren klatschnass.
»Ja! Upps! Hier sind auch noch andere Gäste, die es sicherlich nicht berauschend finden, wenn sich vor ihrem Zimmer plötzlich ein Pool befindet.« Wir verfolgten das Wasser mit den Augen. Je länger meine Freundinnen von einem Bein aufs andere traten, desto größer wurde die Pfütze.
»Tut uns leid, wir haben nicht nachgedacht.«
»Wir machen das weg«, sagte ich schnell, »Ich kümmere mich darum. Es gibt doch sicherlich irgendwo eine Putzkammer«, versicherte ich. Normalerweise stand doch immer irgendwo ein Putzwagen im Gang, an dem man sich mit Proben eindecken konnte.
Frau Lammer wirkte, als wäre sie mit ihren Nerven am Ende. Trotz Aperol und obwohl seit unserer Ankunft erst wenige Stunden vergangen waren. Mit einer hastigen Handbewegung scheuchte sie Emma und Eva auf unser Zimmer und mich auf die Suche nach einem Wischmopp oder alternativ nach einem »Achtung! Nass!«-Schild. Ich fand eine Mitarbeiterin und kommunizierte schließlich mit Händen und Füßen und schlechtem Schulenglisch, was ich brauchte. Sie sagte mir – ebenfalls mit Händen und Füßen – dass ich den Wischmopp nach getaner Arbeit einfach in das öffentliche Badezimmer auf meiner Etage stellen sollte.
Emma und Eva hatten ganze Arbeit geleistet. Man konnte ihre Spur bis zu unserem Zimmer zurückverfolgen. Drinnen hörte ich sie kichern. So gern ich jedoch wissen wollte, worüber sie sich so amüsierten, ich musste zuerst den Mopp wegbringen.
Gerade als ich die Tür zum geteilten Badezimmer öffnen wollte, sprang die Tür von selbst auf. Ich machte einen erschrockenen Schritt nach hinten. Als Tom mich sah, blieb er wie angewurzelt stehen. Ich verdrehte bereits die Augen, in dem Glauben, das gleich die nächste Gemeinheit seinen Mund verließ, aber er sagte nichts. Ich glaubte sogar so etwas wie Verlegenheit in seinen Augen aufblitzen zu sehen. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte.
»Was machst du denn hier?«, rutschte es mir heraus und ich wurde prompt knallrot. Das war selbst für mich ein Rekord auf der Peinlichkeitsskala. Warum suchten Menschen wohl ein Badezimmer auf?
»Äh ...« Sein Blick glitt hinter sich und er umklammerte den Türgriff, als ginge es um Leben und Tod.
»Sorry, ich wollte eigentlich nur den hier zurückbringen«, sagte ich schnell, ehe meinem Gehirn eine noch peinlichere Anmerkung einfiel. Ich wollte mich an ihm vorbeiquetschen, aber er versperrte mir resolut den Weg. Seine Augen wurden groß. Irritiert zog ich die Augenbrauen zusammen.
»Du kannst da nicht rein.«
»Warum nicht?«
»Abfluss verstopft.«
Diese Antwort kam mir für meinen Geschmack etwas zu schnell. Ich glaubte ihm kein Wort.
»Ich will sowieso nur den Mopp reinstellen. Keine große Sache«, sagte ich achselzuckend und griff erneut nach dem Türgriff.
»Und es stinkt.« Tom baute sich vor mir auf wie ein Türsteher, der den Eingang eines angesagten Clubs bewachte und niemanden durchließ, auch wenn er noch so sehr bettelte. Oder Gollum aus Der Herr der Ringe, der den Ring der Macht hütete wie seinen Augapfel. Sowas wie »Der Herr der Kloschüssel« oder so.
»Es stinkt?« Ich lachte ungläubig auf.
Tom kratzte sich verlegen am Hinterkopf.
»Ja«, sagte er gedehnt » ... übelst ... Ich wusste nicht, dass der Abfluss verstopft war und ... na ja. Das willst du dir sicher nicht antun. Aber gleich hier runter gibt es eine zweites Badezimmer. Das ist ohnehin viel geräumiger als das hier«, lenkte er weiter ab. Um noch eins draufzusetzen, legte er den Arm um meine Schultern und lotste mich in die entgegengesetzte Richtung. Ich schüttelte seinen Arm ab. Prompt stand er wieder vor mir. Meine Schultern sanken müde in die Tiefe. Ich ahnte langsam, welches Spiel er spielte.
»Ich muss wirklich nur kurz rein und dann bin ich auch schon wieder weg. Und ich hab nichts gesehen oder gerochen, einverstanden? Ich wird dich nicht verpfeifen.«
Wenn er unbedingt rauchen wollte, war das schließlich seine Sache. Er konnte tun und lassen, was er wollte. Aber ich wollte nur diesen blöden miefigen Wischmopp loswerden, denn langsam setzte sich der Geruch in meinen Haaren fest.
»Wenn es dich glücklich macht: Ich halte mir einfach die Nase zu. Dann muss ich nicht einmal lügen. Weiß Aiden eigentlich davon?«, fiel mir abrupt ein. Ich hatte ihn nie rauchen sehen, vielleicht war es ein Geheimnis, vielleicht war er auch nur Gelegenheitsraucher, so wie Lucy, die manchmal auf Partys eine Zigarette rauchte und sich dann beschwerte, dass der Geruch nicht aus ihren Klamotten ging.
»Wovon?«, fragte er krächzend.
Ich warf einen vielsagenden Blick in Richtung Bad. Tom wurde leichenblass.
»Dass du heimlich rauchst.«
Er blinzelte ungläubig und obwohl ich ihn quasi auf frischer Tat ertappt hatte, wirkte er merkwürdig erleichtert. Vielleicht waren es doch keine Zigaretten gewesen, sondern etwas viel Schlimmeres? Meine Gedanken bewegten sich in einer Abwärtsspirale, ein Gedanke war schlimmer als der andere. Alkohol? Drogen? Sah ich irgendwo Einstichstellen? Er als Fußballspieler musste doch wissen, dass man von solchen Dingen die Finger ließ. Wir waren zwar nicht befreundet im herkömmlichen Sinne, aber er bedeutete Aiden etwas und das bedeutete, dass er auch mir etwas bedeutete.
Ich wollte gerade zu erneuten Beteuerungen ansetzen, dass ich ihn zwar nicht auffliegen lassen würde, er aber mit mir reden könnte, wenn er wollte, als sich der Türgriff behutsam regte und das helle Holz nach innen aufschwang.
Ein Kopf mit langen blonden Haaren lugte vorsichtig zwischen Tür und Angel hervor. Tom seufzte geschlagen. Mein Mund sprang auf.
»Katara ...«
»Helena?«
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