6 | Das, in dem ich Fußballfan bin
Es war Sonntag. Kein ruhiger Sonntag, wie man sich das vielleicht vorstellte oder wie ich es mir innerlich immer gewünscht hatte. Entspannt aufwachen, eine Weile liegen bleiben, aufstehen, wenn man wirklich ausgeschlafen war, gemütliches Frühstück im Bett, eine heiße Dusche, die die Lebensgeister weckte. Nein. Dieser Sonntag fing ganz und gar nicht nach meinem Geschmack an, denn Sonntag bedeutete für gewöhnlich Spieltag. Und Spieltag bedeutete Arbeit.
Meine Mutter hantierte bereits seit sieben Uhr in der Küche und bereitete Brote vor, die sie beim Fußballspiel meines Bruders verkaufen würde. Sie verdiente nichts daran. Es war eine ehrenamtliche Arbeit, aber sie tat es gerne. Nicht nur für meinen Bruder, sondern für das ganze Team. Sie kannte die meisten Jungs bereits seit sie klein waren und ihre ersten Schritte mit einem Fußball zu ihren Füßen getan hatten. Ich war zwangsläufig immer mitgeschleppt worden. Ob ich nun wollte oder nicht. Die meisten Mütter beteiligten sich ehrenamtlich im Fußballverein. Es war eine stille Übereinkunft, die sie geschlossen hatten. Bei jedem Spiel wurden die Aufgaben neu verteilt. Vor zwei Wochen hatten wir Muffins backen müssen. Das war praktisch gewesen, denn man konnte sie schon am Vortag abbacken und brauchte sie am nächsten Tag nur noch in den Kofferraum zu verladen. 50 Muffins hatten das Licht der Welt erblickt und es waren kaum genug für alle da gewesen.
Diese Woche hatten wir es schwerer. Mettbrötchen. Meine Mutter schmierte fleißig, als ich die Küche mit schlurfenden Schritten und natürlich immer noch im Schlafanzug betrat. Ohne ein Wort zu sagen, machte ich mich daran, die frischen Brötchen in zwei Hälften zu schneiden.
Sie würde es nie zugeben, aber manchmal wurde ihr die Arbeit einfach zu viel. Sie hatte zwar immer ein Lächeln aufgesetzt, aber mittlerweile war ich mir nicht sicher, wie oft sie hinter dieser Fassade eigentlich hatte weinen oder schreien wollen. Sie tat so, als wäre es nichts Besonderes. Doch mir und sogar meinem Bruder, dessen Sehvermögen oftmals nicht einmal über seine eigene Nase hinwegreichte, war es aufgefallen, wie schwer sie es sich manchmal machte. Wie schwer es für sie war, alles unter einen Hut zu bringen. Einkaufen, Arbeiten, Kochen, Waschen, Putzen, wieder Kochen. Und dann auch noch ehrenamtliche Arbeit an einem gemütlichen Sonntag. Man musste vorsichtig sein, dass man daran nicht zerbrach. Es war ein gefährliches Spiel und ich hatte mir vorgenommen, ihr so viel beizustehen, wie ich nur konnte.
So oft ich es jedenfalls konnte. Meine Geduld war nicht einmal ansatzweise so strapazierfähig wie die meiner Mutter und das zeigte sich leider zu oft. Wenn meine Nerven zum Reißen angespannt waren, musste mein Bruder nur ein Wort sagen und schon war es vorbei mit meiner Beherrschung. Ich musste zugeben, er schaffte das ziemlich gut.
Nachdem meine Mutter und ich eine geschlagene Stunde still mit dem Radio im Hintergrund gearbeitet hatten, kam auch mein Bruder in die Küche geschlappt. Er sah die fertigen Mettbrötchen und grinste verschlafen, so wie er es immer tat, wenn er die halbe Nacht an seiner Playstation gehangen hatte und noch nicht ganz wach war.
„Bin ich im Himmel?", fragte er und meine Mutter strich ihm beim Vorbeigehen liebevoll über die Wange.
„Setzt euch. Ich mache euch gleich Frühstück. Aber erst muss ich die Brötchen wegbringen.", sagte sie. Während Paul sich hinsetzte, wie unsere Mutter es gesagt hatte, war ich diejenige, die sich ebenfalls eine Fuhre Mettbrötchen krallte und zu unserem Auto lief. Der Kofferraum stand bereits offen und meine Mutter stellte eine Tüte hinein. Meine Tüte folgte wenige Sekunden später. Sie lächelte sanft.
„Danke mein Schatz." Dann blickte sie an mir herunter.
„Jetzt ist aber genug! Du gehst sofort wieder rein, sonst holst du dir noch eine Erkältung." Ich lachte, tat aber, was sie verlangt hatte. An einem Tag wie diesem wollte ich nicht mit ihr diskutieren. Das konnte ich später noch.
Nachdem wir zu dritt gemütlich gefrühstückt hatten, machten wir uns für das bevorstehende Fußballspiel fertig. Es war nicht so, dass ich dafür lange gebraucht hätte. Ich machte schließlich nichts Aufwändiges. Kein ausgefallenes Outfit, kein Make-Up. Ich war einfach ich und damit war ich zufrieden. Das Geld, das ich für Make-Up ausgegeben hätte, konnte ich auch ganz gut für Bücher sparen.
Das Bücherregal in meinem Zimmer war das Schmuckstück meines Zimmers, bot aber schon seit geraumer Zeit nicht mehr genügend Platz für meine Schätze. Ein Teil der Bücher hatte ich quergelegt und wenn man das Regal aus der Ferne betrachtete, konnte man deutlich sehen, wie sich die Bretter unter dem Gewicht nach unten bogen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, wann es endgültig zusammenbrechen würde.
„Tara, du bist zu spät.", schallte mich mein Bruder theatralisch und tippte auf seine imaginäre Uhr. Ich zog meine Jacke über und verdrehte die Augen. Wenn, dann war ich nur zu spät, weil er zuvor im Bad eine Stunde verbracht hatte und ich deshalb auf meine Dusche hatte warten müssen.
„Das sagt der Richtige.", murmelte ich und vergrub meine Hände in den Jackentaschen. Paul fuhr mit seiner Hand durch meine Haare und ich schlug ihn verärgert weg. Er wusste genau, dass ich es nicht mochte, wenn man meine Haare berührte. In der Hinsicht war ich ein wenig eigen. Wie gesagt, er wusste sehr gut, wie man mich sehr schnell auf die Palme bringen konnte.
„Seid ihr bereit? Dann ab." Bevor die Kabbelei in einem größeren Streit endete, was durchaus vorkommen konnte, scheuchte uns unsere Mutter bereits zum Auto. Im Kofferraum lagerten die Mettbrötchen und die miefige alte Sporttasche meines Bruders. Für mehr brauchten wir uns an diesem Spieltag nicht zu kümmern.
Es war kurz nach elf, als wir an dem Sportplatz ankamen. Das Spiel begann erst um eins, aber es war üblich, dass sich die Spieler bereits zwei Stunden vorher trafen. Eine Tradition aus der Zeit, in der sich die Mütter angeregt unterhalten hatten und ihre Kinder zum Spielen loszogen. Heute wurde die Zeit zum Aufbau und für die Jungs zum Training genutzt.
Der Trainer war normalerweise ziemlich streng, was das Training anging. Trainiert wurde unter Ausschluss der Öffentlichkeit, weil er befürchtete die gegnerischen Teams würden ihm seine Spielstrategie streitig machen. Das dem selten der Fall sein würde, hatte ihm noch nie jemand gesagt. Ich selbst würde es auch nicht übers Herz bringen. Herbert war ein herzensguter Mensch, der die Sache mit dem Fußball einfach ein wenig zu ernst nahm. Den kleinen pummeligen Mann mit mehr Bart als Haaren auf dem Kopf, sah ich aufgeregt über das Spielfeld laufen und gelbe Pylone verteilen.
Mein Bruder trug einen Teil der Brötchen zu der kleinen Verkaufsstube und verschwand gleich darauf in der Umkleide. Ein paar seiner Freunde hatten sich ebenfalls dort eingefunden und johlten laut, als er die Kabine betrat.
Ich schüttelte lachend den Kopf und machte mich daran das Verkaufshäuschen auf Vordermann zu bringen. Wir würden Platz benötigen, wenn der Verkauf in nicht einmal zwei Stunden losgehen sollte. Ich war mir zu hundert Prozent sicher, dass die Spieler vor dem Spiel auch noch etwas essen wollten, deswegen beeilte ich mich den Rollladen hochzufahren und mit dem Staubtuch über die Theke und die Ablagen zu fahren. Das letzte Spiel war zwar erst zwei Wochen her, aber ich war jedes Mal aufs Neue erstaunt, wie viel Dreck sich innerhalb dieser Tage ansammeln konnte. Das Tuch in meinen Händen war schwarz und ich verzog angeekelt das Gesicht.
Meine Mutter stieß die Tür auf und brachte die letzten Brötchen herein.
„Heute werden alle Brötchen weggehen. Ich hab's im Gefühl.", sagte sie und setzte die Tüte japsend ab. Ich grinste.
„Alles was du machst geht weg wie heiße Semmeln, Mama. Nicht nur die Brötchen."
„Stimmt auch wieder."
Bescheidenheit hatte noch nie zu ihren Stärken gezählt.
Wir bereiteten alles still vor und langsam trudelten auch die anderen Mütter ein. Anja, die Mutter von Pauls bestem Freund Simon, trat mit einem Schnaufen durch die Hintertür. Sie balancierte zwei Bleche Mandarinenkuchen, jeweils auf einer Hand und hatte Schwierigkeiten durch die Tür zu kommen. Ich beeilte mich ihr ein Blech abzunehmen und sie lachte.
„Da bist du gerade noch rechtzeitig gekommen, Katara. Sonst hätten wir Krümelkuchen gehabt.", lachte sie. Sie umarmte meine Mutter zur Begrüßung und machte sich ebenfalls daran das Innere des Verkaufshauses einzurichten. Die anderen Mütter brachten Essen und Getränke vorbei und halfen im Freien weiter. Mit drei Leuten hinter dem Tresen wurde es bereits eng und ich machte schnell einen Schritt nach draußen, als die ersten Spieler Hunger bekamen und auf das Häuschen zuliefen.
Irgendjemand hatte die Überreste des Sturms zusammengefegt. Kleine Äste und Blätter lagen fein säuberlich auf kleinen Haufen am Wegesrand. Also tat ich das Einzige, was mir einfiel. Ich schnappte mir Gartenhandschuhe und einen großen Müllbeutel und packte so viel weg, wie nur möglich.
Ich beschäftigte mich so lange, bis sich die Spieler auf dem Feld versammelt hatten. Die weißen Trikots unsere Mannschaft leuchteten im Gegensatz zu den roten Hemden der Gegner. Mit dem Team, gegen das sie heute antraten, lagen wir schon länger im Clinch. Wir gewannen so gut wie jedes Match, aber jedes Mal gab es Streit. Paul hatte sogar einmal eine rote Karte bekommen, für etwas, was aus unserer Sicht ganz klar eine Schwalbe gewesen war. Der Schiedsrichter sah das anders, und als er von Pauls Team bezichtigt wurde, dass er die Gegner favorisieren würde, ließ er das auch nicht auf sich sitzen und verteilte eine Reihe gelber Karten. Seitdem konnte den Schiedsrichter keiner mehr leiden. Selbst aus der Ferne konnte ich sehen, dass Paul angestrengt den Kiefer aufeinanderpresste, um nichts Falsches zu sagen. Er hatte seine Lektion gelernt und beschwerte sich nur noch bei uns und seinen Teamkollegen über den Mann.
Das Spiel wurde angepfiffen und ab diesem Zeitpunkt erreichten mich lediglich die fernen Pfiffe und das Jubeln oder Seufzen der Zuschauer. Die Sonne schien stark auf uns herab, sodass man Angst bekommen könnte, sich einen Sonnenbrand einzufangen. Mitten im Oktober.
Ich war froh, dass sich die Regen- und Sturmwolken wenigstens für einen Tag verzogen hatte. Die Sonne tat gut auf meinem Gesicht und ich spürte förmlich, wie die Energie durch meine Poren aufgesogen wurde.
Ab und zu wagte ich einen flüchtigen Blick auf das laufende Spiel. Einmal flog der Ball in hohem Bogen gegen den Torpfosten und dieser fing an zu vibrieren. Ich fragte mich nicht zum ersten Mal, wie die Spieler es schafften, das Tor überhaupt zu sehen. Der weiß gestrichene Stahl blendete mich nur. Ich ging näher heran und lehnte mich auf das Gelände. Es war kühl gegen meine Haut, aber das machte mir nichts aus.
Ich sog die kalte Luft in mich ein. Wenn man mich vor die Wahl stellen würde, würde ich mich immer für die kühleren Monate und gegen den Sommer stellen. Im Sommer war die Luft schwül und erdrückend, während sie im Herbst, Winter und Frühling wunderbar frisch und wiederbelebend war. Außerdem klebte die Kleidung nicht so schnell am Körper, es sei denn man machte Sport, aber das war keine Option für mich. Der Sportunterricht und das ständige „Als-letzte-ins-Team-gewählt-werden" hatte mir den Sport endgültig vermiest. Jetzt tat ich es nur noch, wenn ich wirklich Lust dazu hatte, was offengesprochen nicht sehr oft der Fall war.
Das Spiel verlief ruhig. Sie spielten gerade zwanzig Minuten, als ein Spieler der gegnerischen Mannschaft fiel und schmerzerfüllt aufschrie. Kurz hatte ich Angst, der Schiedsrichter könnte wieder einen unserer Fußballer dafür verantwortlich machen, aber offensichtlich war das nicht der Fall. Der Junge war einfach gestolpert. Er konnte nicht mehr richtig auftreten und während seine Teamkollegen ihn bis zum Spielfeldrand stützten, nutzen unsere Jungs die Chance, um etwas zu trinken.
Mein Blick schweifte über das leere Spielfeld. Meine Haare hatte ich zu einem Zopf zusammengebunden, damit sie mir durch den Wind nicht ständig die Sicht versperrten. Vielleicht fiel ich ihm dadurch auf. Weil ich anders aussah. Weil ich die Aura eines unsichtbaren Mädchens für ein paar Sekunden von mir gelegt hatte wie einen Mantel.
"Ich wusste nicht, dass du Fußballfan bist."
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