
17 | Das mit den verschlossenen Türen
Mein Mund klappte auf, nur um gleich darauf wieder zuzuklappen. Ich wusste selbst nicht, was ich erwartet hatte vorzufinden. Das Gerede über Aiden, als wäre er der verschollene Prinz eines großen Königreichs, hatte bei mir wohl dazu geführt, dass ich mir sein Zuhause in etwa genau so vorgestellt hatte.
Eine große Villa, die man schon aus der Ferne sah und gegen die die anderen Häuser wie Spielzeughäuschen wirkten, ein paar Autos, die auf einem großzügigen Parkplatz standen, alle frisch gewaschen und poliert, sodass sie in der Sonne glänzten. Immer darauf bedacht den bestmöglichen Eindruck zu machen. Und abschließend eine grün blühende Hecke, die das ganze umrandete. Vielleicht würde es sogar ein Tor geben, dass uns den Weg versperrte und dann von einem hilfsbereiten Angestellten per Knopfdruck aufgeschoben wurde.
Zumindest die Hecke gab es wirklich, zwar in kleinerer Ausführung, in der ich sie mir ausgemalt hatte, aber sie war größer als ich, sodass ich nicht darüber schauen konnte. Aiden schaffte das locker. Jemand - vielleicht Aidens Vater, oder sogar Aiden selbst - musste die Hecke erst kürzlich geschnitten haben. Ein paar Stellen waren so kahl, dass ich zwischen den Ästen hindurchblicken und einen ersten Blick auf das Gebäude dahinter werfen konnte.
Bei näherer Betrachtung war sein Zuhause eigentlich nichts Besonderes. Es war merkwürdig normal. Es gab eine Haustür, einen Schornstein und ein paar Fenster, die sowohl zur Straße als auch zu einem kleinen Gartenbereich hinten ausgerichtet war. Eine blau gestrichene Garage grenzte an das weiß verputzte Gebäude und wir kamen vor dem Tor zum Stehen. Auf den unteren Abschnitten der Garage hatten Kinder – Aiden und seine Schwester? – Figuren gemalt, die mit der Zeit jedoch an Farbe verloren hatten. Vage erkannte ich eine gelbe Sonne, die mit einem breiten Grinsen und weit aufgerissenen Augen auf die Szenerie schaute, die offenbar Aiden und seine Freunde beim Fußballspiel zeigen sollte. Aiden hielt einen Ball in den Händen und verhinderte so ein Tor der gegnerischen Mannschaft. Ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen reckte triumphierend die Strichmännchenarme in die Höhe.
Ich musste grinsen. Paul und ich hatten früher immer mit Kreide auf der Straße gemalt und jedes Mal, wenn es regnete, war ich tottraurig darüber gewesen, dass unsere bunten Bilder mit einem Schlag davongewischt worden waren. Irgendwann war Paul dann auf die Idee gekommen, unser Auto zu verschönern. Eine halbe Stunde blieb unser Tun unbemerkt, dann aber stürmte Mom schreiend aus der Haustür und warf die Hände über dem Kopf zusammen, als sie unser Werk betrachtete. Eine Ansammlung bunter Strickmännchen, Blumenwiesen und schlecht gemalten Tieren, verteilt auf dem weißen Lack ihres Autos.
Es stellte sich heraus, dass Kreide auch nach mehrmaligem Waschen nicht so leicht von der Karosserie zu befreien war, aber immerhin sah man unser Auto in der Zeit schon aus der Ferne. Es war ehrlich gesagt auch kaum zu übersehen gewesen, denn gerade auf der Haube hatten wir unser künstlerisches Talent voll ausgelebt. Mom war davon alles andere als begeistert. Verständlich, denn sie war schließlich diejenige, die mit dem Auto fahren musste und in der ganzen Stadt von lachenden Gesichtern verfolgt wurde.
Seit diesem Vorfall hatte sie uns keine fünf Minuten aus den Augen gelassen, wenn wir draußen spielten und mit Kreide hantierten. Die Zeichnungen waren erst nach ein paar Monaten vollständig wieder herausgegangen, auch wenn kleine Kratzer stets an diesen grandiosen Einfall meines Bruders erinnerten. Mit unserem neuen Auto ein paar Jahre später hatte unsere Mutter sich dann keine Sorgen mehr darüber machen müssen, dass wir unsere künstlerische Energie auf die Verschönerung unseres neuen fahrbaren Untersatzes setzen würden. Wir waren älter und ein Stück schlauer geworden. Eine Idee wie diese würden wir nicht noch einmal haben.
Die Erinnerung verblasste und meine Aufmerksamkeit richtete sich auf das Hier und Jetzt. Die Blumenbeete und die Steckfiguren, die zwischen den Pflanzen zu uns herüberwinkten, vermittelten mir sofort den Eindruck eines wahren Zuhauses. Einem warmen Kamin, zu dem man abends nach einem langen anstrengenden Tag zurückkehrte. Eine weiche Decke, in die man sich kuschelte, während man ganz gemütlich eine heiße Schokolade schlürfte. Wände, in denen man sich durch und durch geborgen fühlen konnte. In denen man so sein kann, wie man war, ohne dafür verurteilt zu werden.
„Es ist nur ein Haus.", sagte Aiden, der meine bewundernden Blicke bemerkt hatte. Er zog einen Schlüsselbund aus seiner Tasche und trat zum Eingang, einer dunkelblau gestrichenen Tür. Ich folgte mit unsicheren Schritten. Meine Tasche hielt ich fest umklammert vor meinen Körper, wie einen Schutzschild, der mich gegen all das beschützen sollte, was nun auf mich zukommen würde.
Auch im Inneren kam ich aus dem Staunen nicht mehr heraus. Es war aufgeräumt und stilvoll eingerichtet. Die Wände waren grau gestrichen, bis auf wenige bunte Akzente, die individuell für die Räume herausgesucht worden sein mussten. Den Flur durchzogen blaue Zeichnungen an den Wänden, die an das Meer erinnerten. Ich wusste nicht, ob ich es mir einbildete, aber ich hätte schwören können, dass es in diesem Moment sogar nach Strand und Meer roch. Nach Meersalz und warmer Luft und nach Pommes, die am Strand alle paar Meter verkauft wurden. Aiden stellte seine Schuhe fein säuberlich neben die Tür und ich tat es ihm nach.
„Du kannst mir deine Jacke geben.", bot er hilfsbereit an.
Während er in einer kleinen Nebenkammer verschwand, schaute ich mich weiter neugierig um. Das war also Aidens Zuhause. Der Ort, an den nach jedem Schultag zurückkehrte.
Anders als bei mir zuhause, war es ungewöhnlich still. Bei Mom, Paul und mir war es eigentlich immer laut. Das Radio lief normalerweise von morgens bis abends, selbst wenn niemand da war, und falls nicht, lief bestimmt irgendein Fernseher oder eine Musikanlage oder Mom stritt sich schon wieder mit Paul und mir, wer die Wäsche aus der Wäscherei abholen oder wer den nächsten Einkauf machen sollte. Wirklich still war es dabei nie. Es war paradox, das wusste ich. Kannte man mich sonst nur als die graue Maus und das ruhige Mädchen, wenn man denn nicht über mich hinwegsah.
Außer Aiden und mir war wohl niemand zuhause. Die Einfahrt war leer gewesen und auch sonst regte sich nichts. Ich hatte beinahe Angst über das Parkett zu laufen und wohlmöglich auf eine Diele zu treten, die ein unangenehmes Quietschen von sich geben würde.
Aiden führte mich unbeirrt in den Wohn- und Essbereich. Eine breite Fensterfront machte den Blick auf den Garten frei. Im Sommer musste der Garten vor Farben erstrahlen. Im Herbst waren die meisten Blumen und Sträucher bereits verblüht. Der Boden war von schillernden Blättern in rot und orange bedeckt und alle paar Sekunden segelten neue Blätter dazu und legten sich sanft auf den Teppich. Das Rascheln der übrig gebliebenen Blätter konnte ich durch die geschlossenen Fenster nur entfernt hören, doch ich sah, wie der Wind die schmalen Äste zum Schwingen brachte.
„Wäre es schöner, hätten wir uns auch nach draußen setzen können, aber so. Naja."
Die Terrasse war in etwa so breit wie das Haus. Ein großer Holztisch mit dazu passenden Stühlen lud geradezu dazu ein sich bei gutem Wetter nach draußen zu setzen und die Sonne zu genießen. Unter einem Apfelbaum etwas weiter entfernt stand sogar eine Hollywoodschaukel. Leider war der Himmel wolkenverhangen und kündigte bereits den nächsten Regenschauer an.
Aiden lief schnurstracks durch den Raum und öffnete eine weitere Tür. Das Fenster dort war leider nicht auf den Garten, sondern auf die Einfahrt gerichtet.
„Wir können hier arbeiten. Das ist eigentlich das Arbeitszimmer meines Vaters, aber wenn er bei der Arbeit ist, kann ich den PC auch benutzen."
Ein Anflug von Enttäuschung zeichnete sich auf meinem Gesicht ab. Eine Enttäuschung, die Aiden zum Glück verborgen blieb. Insgeheim hatte ich mich schon darauf gefreut mehr von seinem Zuhause zu sehen als bloß den Wohnbereich. Ich fühlte mich ein wenig hintergangen, da er mein Zimmer betreten hatte, ich seines aber nie zu Gesicht bekommen würde. Mir war klar, dass ich ihm das nicht vorwerfen konnte, immerhin hatte er nicht darum gebeten mein Zimmer zu sehen. Wir hatten kein Arbeitszimmer, wo wir den PC hätten anschließen können, deswegen hatte ich zunächst nicht darüber nachgedacht.
Das eigene Zimmer war etwas sehr Privates. Es zeigte Dinge, die man vielleicht auf den ersten Blick nicht erahnen konnte. Dinge, die man vielleicht lieber geheim halten wollte. Dinge, wie ein peinliches Familienbild oder Poster an den Wänden, die man nie abgenommen hatte, auch wenn man schon lange nicht mehr für die Stars darauf schwärmte. Auf diese Weise wollte ich mehr über ihn erfahren und ihn besser kennenlernen. In meinem Kopf herrschte ein heilloses Chaos und das Fragezeichen war mittlerweile so groß, dass es mit meinen Gedanken Samba tanzen konnte und mich damit nur noch mehr verwirrte.
Außerdem beschlich mich eine wage Ahnung, dass sich auch in seinem Zimmer ein ansehnliches Bücherregal befinden würde. Ich wollte unbedingt Mäuschen spielen und erfahren, welche Bücher sich unter seinen Schätzen befanden.
Krampfhaft versuchte ich mir die Enttäuschung nicht ansehen zu lassen und packte stattdessen meine Unterlagen aus, während Aiden den PC startete.
Nach einer Stunde konzentriertem Arbeiten und ungefähr einem Liter Pfirsich-Eistee intus, meldete sich meine Blase nervtötend zu Wort.
„Wo ist denn das Badezimmer?", fragte ich sachte. Aiden blickte nicht einmal von dem hell erleuchteten Bildschirm auf. Das Word-Dokument wies mittlerweile ein ordentliches Inhalts- und Quellenverzeichnis auf und im Text suchten wir lediglich nach Rechtschreibfehlern und weiteren Kleinigkeiten, an denen wir uns wahrscheinlich noch Stunden aufhalten würden, bevor wir die Arbeit für beendet erklären würden. Wir waren beide Perfektionisten, es hätte also problemlos bis heute Abend weitergehen können.
„Die Treppe hoch und geradeaus. Du kannst es gar nicht verfehlen."
Auf Zehenspitzen lief ich die Treppe hoch. Ich hatte es eilig, daher konnte ich mir die Bilder, die an den Wänden hingen, nicht genau betrachten. Der Boden war hier mit einem blauen Teppich verlegt und fühlte sich weich unter meinen Füßen an. Die Treppe hoch und geradeaus. Gesagt, getan. An den Seiten befanden sich weitere Türen, die sicher zu den Schlafzimmern führten. Am Ende des Flurs gab es zwei Türen. Du kannst es gar nicht verfehlen.
Das hatte man nun davon, wenn man auf solche vagen Wegebeschreibungen hörte. Ein Schild wäre praktisch gewesen, doch die Türen sahen eins zu eins gleich aus.
Links oder rechts?
Probehalber drückte ich die Türklinke der linken Tür herunter, doch sie war verschlossen. Ich runzelte die Stirn. Doch die verschlossene Tür, die mich erstens nichts anging, und die mich zweitens gar nicht zu interessieren hatte, war momentan mein kleinstes Problem. Also scheuchte ich die Überlegungen darüber, was sich dahinter verbergen mochte in den Hintergrund.
Bei der rechten Tür hatte ich mehr Erfolg. Auch hier war die Einrichtung äußerst stilvoll und der Raum war so groß, dass neben Badewanne, Dusche, Toilette und einem breiten Waschbecken immer noch genug Platz war für eine große Ablage mit Waschprodukten. Die Wände strahlten in Weiß, während die schwarzen Kacheln einen perfekten Kontrast setzten. Nicht ein dreckiges Handtuch oder Staubkorn war zu sehen. Wer auch immer für die Einrichtung zuständig war, wusste was er tat.
Ich hätte mich noch länger staunend umsehen können, aber meine Blase hatte andere Pläne.
Nachdem ich meine Hände mit der sündhaft teuer aussehenden Seife gewaschen hatte, trat ich wieder auf den Flur. Ich warf der verschlossenen Tür verstohlene Blicke zu. Was sich wohl dahinter befand?
Die geschlossene Tür kurbelte meine Fantasie unnötig an. Es gab fünf Türen, die vom Flur abführten. Eine Tür zum Bad, eine, die sicher zum Schlafzimmer seiner Eltern führte und ein Zimmer gehörte jeweils Aiden und seiner Schwester. War die fünfte Tür nur eine Abstellkammer? Oder vielleicht war diese verschlossene Tür gerade die Tür, die zu seiner Schwester führte? Wenn ich mich anstrengte, hörte ich ein paar sanfte Gitarrenklänge unter dem Türschlitz hervordringen, aber das bildete ich mir vielleicht auch nur ein. Ich wollte nicht neugierig sein, doch das Mysterium um Aiden und seine Familie wurde immer größer.
Bevor ich noch länger dumm herumstand und die Wand anstarrte, machte ich mich lieber wieder auf den Weg zurück. Aiden fragte sich bestimmt schon, warum ich so lange brauchte.
An den Bildern bei der Treppe kam ich jedoch nicht so schnell vorbei. Es war eine Ansammlung an Familienfotos. Urlaube am Strand und in den Bergen. Fotos vom Grillen und beim Fußballspielen im Garten. Auf allen Bildern stach Aiden mit seinem unverwechselbaren Grinsen hervor.
Es gab sogar eine Aufnahme von Aiden und seiner Schwester auf der Hollywoodschaukel, die heute immer noch an derselben Stelle stand wie damals. Auf dem Foto war etwa zwölf Jahre alt und seine dunklen Haare waren ein Stück länger als jetzt. Sie standen ihm wild vom Kopf und seine Wangen glühten, so als wäre er vor kurzem einen Marathon gelaufen. Das Adrenalin stand ihm bis zum Kopf und seine Augen funkelten vielversprechend, während die Schatten der Blätter über ihm Muster auf sein Gesicht malten.
Sein Arm war um ein nicht viel jüngeres Mädchen mit blonden Zöpfen gelegt. Ihr Gesicht strahlte ebenso wie das ihres Bruders. Auch wenn ihnen die Erschöpfung durchaus anzusehen war, sah man ihnen an, wie glücklich sie waren, einfach nebeneinander zu sitzen und Zeit miteinander zu verbringen.
Auf den anderen Bildern waren die Geschwister noch jünger. Leider fand ich kein Foto, das erst vor kurzem aufgenommen wurde. Es interessierte mich ungemein, wie Aidens Schwester heute aussah. Bis auf die Augen und das Lächeln erkannte man Aiden heute kaum als den Jungen auf dem Foto wieder.
Ich schüttelte den Kopf. Ich war nicht hier, um mir alte Aufnahmen anzusehen und darüber nachzudenken, wie seine Schwester heute aussah, was an den Gerüchten dran war und was hinter der verschlossenen Tür im Obergeschoss verborgen war. Es ging mich alles nichts an und ich sollte meine Nase schleunigst aus fremden Angelegenheiten nehmen.
Aiden bemerkte nicht einmal, dass ich wieder in das Arbeitszimmer schlüpfte und mich auf dem Stuhl neben ihm niederließ. Wie zuvor fielen wir zurück in eine gewisse Arbeitsroutine. Wir scannten den Text förmlich mit unseren Augen, verbesserten, schrieben um und löschten Teile, die wir für unwichtig hielten, heraus. Er fragte nicht, weshalb ich so lange gebraucht hatte, sondern arbeitete kommentarlos weiter.
So ging es vielleicht noch eine halbe Stunde. Dann war draußen das Geräusch eines Automotors zu hören und ein weißer Wagen fuhr hinter den Ford Mustang in die Einfahrt. Der Motor erstarb und einen Augenblick hielt ich die Luft an. Eine Frau stieg aus. Sie war etwa Mitte 40 und hatte kurze braune Haare, die mit ein paar blonden Strähnen durchzogen waren. Sie trug ein Kostüm aus Bluse und eleganter Hose, das man nur anziehen würde, wenn man im Büro arbeitete und eine besonders hohe Position innehielt. Man erkannte sofort, dass es sich bei der Frau um seine Mutter handelte. Die gleichen Grübchen umspielten ihren Mund, wenn sie lächelte. Kurze Zeit später war das Klingeln von Schlüsseln zu hören, die gegeneinanderschlugen und die Eingangstür fiel ins Schloss. Mit einem Schlag war das Haus mit Leben gefüllt.
„Bin wieder da!", rief eine helle honigsüße Stimme. Ich hatte sie zwar noch nicht kennengelernt, aber ich ahnte, dass ein Großteil von Aidens herzlichem Charakter auf sie zurückging. Spätestens bei dem nächsten Satz, der ihr von den Lippen ging, musste man sie einfach gernhaben.
„Wer hat Lust auf Eiscreme?"
Wie aufs Kommando klatschte Aiden in die Hände.
„Das war unser Stichwort.". Er grinste verschmitzt. In der nächsten Sekunde steckte die Frau einen Kopf durch die Tür.
„Habt ihr mich nicht gehört, oder warum sitzt ihr noch hier? Es gibt Eis. Dalli, dalli, sonst schmilzt es noch."
Dann fiel ihr Blick auf mich und ihr Lächeln wurde noch breiter.
„Und du musst Katara sein. Es freut mich, dass ich dich endlich kennenlerne."
Sie machte ein paar Schritte auf mich zu und streckte mir ihre Hand entgegen, die ich perplex entgegennahm und kurz schüttelte. Ich war mittlerweile aufgestanden und musste ein wenig zu ihr aufsehen. Sie trug zwar flache Schuhe, überragte mich trotzdem um einige Zentimeter, die mich augenblicklich einschüchterten. Genau wie Aiden, schoss es mir durch den Kopf.
„Es freut mich auch Sie kennenzulernen, Frau-"
„Oh bitte, bitte. Susan. Nenn mich einfach Susan, Kommt Kinder, das Eis schmilzt. Wäre doch schade drum."
Sie schenkte mir noch einmal ein strahlendes Lächeln und ging dann in die Küche, um besagtes Eis auszupacken. Ihr Sohn folgte ihr ohne Umschweife und ich tapste schnell hinterher.
Ich hatte die Küche nur kurz unter Augenschein nehmen können, als Aiden mich durch den Wohnbereich zum Arbeitszimmer gelotst hatte. Sie ähnelte dem Badezimmer. Weiße Wände und schwarze Fliesen, auf denen man den Dreck wahrscheinlich nicht sofort sah.
„- und Erdbeereis, weil du das schon als Kind immer so gerne mochtest. Meinst du, da ist etwas für dich dabei, Katara?"
Ich hatte nicht bemerkt, dass Susan gerade aufgezählt hatte, was für Eissorten sie mitgebracht hatte, also nickte ich einfach.
„Das ist perfekt. Zu Eis kann man nie nein sagen."
„Genau das sag ich auch immer und dann sagt hier jemand", ihr Blick blieb an Aiden hängen, der Schälchen und kleine Löffel aus Schränken und Schubladen hervorzog, „dass Eis viel zu viele Kalorien hat und man unbedingt darauf achten müsste, wie viel man davon isst. Und so etwas habe ich erzogen."
Sie winkte ab und Aiden rollte theatralisch mit den Augen.
„Es kann nicht jeder zwei Liter Eis in sich hineinstopfen, ohne auch nur einen Gramm zuzunehmen. Mal abgesehen davon, dass es normalen Menschen danach ziemlich schlecht gehen würde."
„Papperlapapp. Das rutscht im Magen doch alles in die Zwischenräume. Du gehst doch schon jede Woche Fußballspielen. Da kannst du dir ruhig das ein oder andere Eis gönnen."
Susan bereitete drei Schalen vor mit jeweils einer Kugel Vanille, Erdbeere und Schokolade. Dann schob sie die Schalen eine nach der anderen zu Aiden herüber, der eine große Menge an Schokosoße darauf verteilte, ein Sahnehäubchen dekorativ in die Mitte der drei Kugeln platzierte und das Ganze dann mit bunten Streuseln verschönerte.
„Wo war diese Einstellung als ich klein war?"
„Das ist etwas anderes. Damals hast du nur Eis essen wollen und nichts anderes. Es ist ungesund für einen kleinen Jungen, so viel Eis in sich hineinzuschaufeln. Oma hat dir viel zu viel durchgehen lassen."
Aiden grinste breit und schein einen Moment in Erinnerungen zu schwelgen.
„Das waren gute Zeiten."
„Solange bis du weinend zu mir kamst, weil du Bauchschmerzen hattest. Kein Wunder. Wer einen Liter Eiscreme in einer halben Stunde verdrückt, muss sich nicht wundern."
„Du warst mein Vorbild. Du hast zwei Liter verdrückt wie ein Weltmeister."
„Nur, weil Oma gesagt hat, ich würde es nicht schaffen."
Ich beobachtete diesen Schlagabtausch und diese eingespielte Verteilung der Aufgaben fasziniert. Keine Minute später saßen wir bei geöffneter Fensterfront im Esszimmer und löffelten unser Eis. Gelegentlich wehte der Wind herein und brachte die Pflanzen drinnen und draußen leise zum Rascheln.
In dieser vertraut unvertrauten Umgebung, wurde mir klar, woher Aiden seine Art hatte, die jeden Menschen in seiner Nähe entspannte. Er musste sie von seiner Mutter haben.
Ich fühlte mich pudelwohl in ihrer Gegenwart. Susan erzählte viel von Aiden und wie er als Kind gewesen war und Aiden stritt alles ab. Seine Mutter ließ sich von seinen Einwänden jedoch nicht ablenken und plauderte unbeschwert weiter. Ein Lachanfall folgte dem nächsten.
„Er hatte schon immer ein Faible dafür, sich in Schwierigkeiten zu bringen. Das war schon immer so."
„Das ist doch gar nicht wahr!"
„Früher waren wir öfter im Urlaub an der Ostsee. Ein kleiner Ort, der noch nicht von den Touristenmassen entdeckt worden ist. Mein Mann hatte Bekannte dort, wegen seiner Arbeit und sie gaben uns immer einen Rabatt für die Ferienwohnung. Aiden liebte das Wasser und den Strand. Wenn er morgens wach wurde, wollte er am liebsten sofort losrennen und sich in die Wellen schmeißen."
Ich stützte meinen Kopf unwillkürlich auf die Hände und rückte ein Stück näher, als würde ich der Geschichte dadurch besser folgen können. Aiden lehnte sich zurück und verschränkte die Arme, wissend, welche Geschichte seine Mutter nun auspacken würde.
„In der Nähe von dem Strand, wo wir immer unseren Strandkorb hatten, gab es eine Art Spieleparadies für Kinder. Klettergerüste, Bällebad, so etwas eben. Es war relativ neu, aber mit einem siebenjährigen Jungen im Schlepptau gehörte der Besuch fest zum Programm. Versuch du mal gegen so einen Sturkopf wie Aiden anzureden. Das ist ein unmögliches Unterfangen."
Ich kicherte leise und Aiden seufzte. Susan hob die Hand.
„Warte, warte, es wird noch besser. Wir waren also ein paar Tage dort und Aiden lag uns ständig in den Ohren, dass er nun endlich in das Spieleparadies wollte. Wir gaben nach und kauften die Tickets. Nun hatten wir jedoch ein anderes Problem. Aiden war für die meisten Geräte schon zu groß. Das ließ er natürlich nicht auf sich sitzen."
Susan legte eine Kunstpause ein, die mich nur noch neugieriger machte, was von ihr wahrscheinlich auch so beabsichtigt war.
„Was hat er gemacht?"
„Das ist doch alles Quatsch. Ich war noch nie an der Ostsee.", unternahm Aiden einen letzten Versuch von der Geschichte abzulenken.
„Ich habe Beweisfotos, mein Lieber. Du warst dort und du hattest nur Unsinn im Kopf. Alex hat schon darüber nachgedacht einen Schuppen zu bauen und dich wie Michel aus Lönneberga darin einzusperren, wenn du wieder etwas angestellt hattest. Darin hättest du dann Holzfiguren schnitzen können bis zum Nimmerleinstag."
Sie schüttelte den Kopf und ich musste bei dem Gedanken eines schmollenden kleinen Jungen im Schuppen, der eine Holzfigur nach der anderen schnitzte, schmunzeln.
„Aiden wollte partout nicht akzeptieren, dass er für die Spielsachen schon zu groß war und ist auf eines der Klettergeräte gegangen. Es hat nicht lange gedauert, da hat er auch schon festgesteckt. Geschrien wie am Spieß hat er, als er sich keinen Zentimeter vor und zurück bewegen konnte. Die ganze Bevölkerung muss es gehört haben. Ich kann mir bis heute nicht vorstellen, wie er es überhaupt geschafft hat Kopf und Arme durch diese kleine Öffnung zu quetschen."
Meine Augen wurden so groß wie Teller, musste aber dennoch lachen.
„Wie habt ihr ihn da wieder rausbekommen?"
„Das ist der Teil, der mir persönlich am besten gefallen hat. Sie mussten die Hälfte des Klettergerüsts wieder abmontieren, um ihn zu befreien. Das hat gut eine Stunde gedauert. Man hatte natürlich die Feuerwehr alarmiert, aber die Männer waren alle sehr freundlich. Sie hatten solch ein Mitleid mit dem Jungen, dass sie ihm sogar haufenweise Eis kauften. Das hat er dann gegessen, solange sie um ihn herumhantierten, um ihn zu befreien. Selbst im Unglück hat er immer noch Glück."
Sie holte tief Luft und lächelte Aiden liebevoll an.
„Unser kleiner Halunke.", lachte sie und ich fiel in ihr Lachen mit ein. Aiden schnalzte mit der Zunge.
„Schluss jetzt. Für heute gab es genug Geschichten über meine nicht immer sehr prickelnden Erlebnisse als Kind."
Ich verstand, dass ihm die Geschichten über ihn ein wenig peinlich waren, aber ich konnte nicht genug davon bekommen. Hätte ich nicht irgendwann gehen müssen, hätte ich Susan stundenlang lauschen können, während Aiden vor Scham hinter seinen Händen versank.
Doch die Zeit musste uns schließlich irgendwann einholen.
„Ist sie oben?", fragte Susan plötzlich bedrückt und Aiden hielt mitten in der Bewegung inne. Er senkte den Kopf und wich meinem verwirrten Blick aus. War mit ‚sie' seine Schwester gemeint?
„Ja.", sagte er knapp und mit einer Schärfe in der Stimme, die ich von ihm nicht gewohnt war. Er gab seiner Mutter damit zu verstehen, dass kein weiteres Wort zu diesem Thema seinen Mund verlassen würde. Jedenfalls nicht in meiner Anwesenheit.
Bevor die Stimmung ganz kippte, wandte Susan sich wieder lächelnd an mich, als wäre nichts geschehen. Das Lächeln erreichte ihre Augen nicht.
„Katara, ich habe gehört, du liest gerne?"
Selten fühlte ich mich so schnell so wohl bei jemandem mir vollkommen fremden. Dieses Gefühl war Teil des Rätsels, welches sich um Aiden und seine Familie aufbaute, wie ein Labyrinth, dessen Ausweg man einfach nicht fand. Statt sich zu lichten, wurden die Wände immer höher und die Wege immer schmaler. Neue Fragen kamen hinzu, während die alten Fragen um Aidens Familie nicht einmal ansatzweise beantwortet waren. Es war ein wahrer Teufelskreis. Ich mochte Susan. Umso merkwürdiger fand ich es, dass ich sie bei keinem Fußballspiel ihres Sohnes je zu Gesicht bekommen hatte. Sie war offen und unterstütze Aiden offensichtlich mit Leib und Seele. Wie kam es also, dass sie sonntags keine Zeit fand, um ihn auch beim Fußballspiel anzufeuern?
Susan verabschiedete sich mit einer herzlichen Umarmung.
„Du bist hier jederzeit willkommen, Katara.", versicherte sie mir aufrichtig. Ich bedankte mich für alles und Susan stoppte mich mitten im Satz.
„Dafür musst du dich nicht bedanken. Nächstes Mal erzählst du mir einfach, was Aiden immer so in der Schule anstellt." Sie zwinkerte verschwörerisch und mir wurde mit einem Mal ganz heiß.
Ich war mir nicht sicher, ob es dieses ‚nächste Mal' überhaupt geben würde. Sobald wir die Hausarbeit fertig geschrieben hatten, gab es für Aiden und mich keinen weiteren Grund Zeit miteinander zu verbringen. Oder doch?
Langsam fing ich an, ihn als Freund zu betrachteten, aber ich konnte mir nicht ausmalen, was er darüber dachte. Hoffentlich waren wir uns bei diesem Thema einig. Ich wollte ihn nicht mehr aus meinem Leben streichen. Gerüchteküche hin oder her.
Aiden begleitete mich bis zur Bushaltestelle. Er hatte angeboten mich nachhause zu fahren, was ich jedoch entschieden ablehnte. Außerdem versicherte er mir, dass er mir die Hausarbeit per Email senden und dass er sie am nächsten Tag ausgedruckt für Frau Lammer mitnehmen würde. Unter diesen Umständen wollte ich mich ihm nicht noch aufdrängen. Schließlich besaß ich auch eine Monatsfahrkarte für Bus und Bahn.
„Tut mir leid, dass sie dich so vollgeredet hat. Ich sage ihr ständig, dass sie die Leute nicht so überfordern soll. Sie kann ziemlich anstrengend sein."
„Ich fand es schön so. Wie eine richtige Familie."
Er schwieg auf den letzten Metern.
„Danke, dass du mich noch hierhin gebracht hast. Das wäre wirklich nicht nötig gewesen."
„Doch es war nötig. Es ist schon dunkel. So spät abends sollte man nicht allein herumlaufen."
„Aber du bist jetzt auch allein, wenn ich im Bus bin und du nachhause gehst."
„Ich meine Mädchen sollten so spät abends nicht allein draußen herumlaufen."
Ich biss die Lippen zusammen. Er hatte leider recht. Die dunklen Gassen und Straßen waren mir so schon unheimlich. Der Gedanke bei einem abendlichen Nachhauseweg beobachtet, verfolgt oder was auch immer zu werden, ließ kleine Schauer über meinen Rücken und meine Arme laufen. Ich wollte mir nicht vorstellen, was alles geschehen konnte. Die Chance, dass einem Jungen bei seinem Nachhauseweg das gleiche passieren würde, war ziemlich gering.
„Danke.", sagte ich und versuchte so viel Dankbarkeit in meiner Stimme mitschwingen zu lassen, wie ich nur konnte.
„Immer wieder gern."
Ein verschmitztes Grinsen huschte über sein Gesicht.
„Und falls ich morgen nicht zur Schule kommen sollte, wurde ich auf dem Weg abgestochen."
„Nein, sag sowas nicht."
Die Stimmung wurde plötzlich wieder ernster zwischen uns. Aidens Mundwinkel sanken in die Tiefe und machten einem besorgt nachdenklichen Ausdruck Platz.
„Tut mir leid, ich- tut mir leid. Manchmal weiß ich einfach nicht, wie ich mich in deiner Gegenwart verhalten soll. Du bist für mich ein Buch mit sieben Siegeln."
Hatte ich mich da gerade verhört? Er wusste nicht, wie er sich in meiner Gegenwart verhalten sollte? Das Geständnis kam so unerwartet wie Schnee im Juli. Offenbar hatten wir beide so unsere Probleme in der Anwesenheit des jeweils anderen sinnvolle Sätze von uns zu geben. Vielleicht waren wir doch nicht so unterschiedlich wie wir glaubten.
„Da kommt dein Bus.", sagte er schnell. Wahrscheinlich um wieder von sich abzulenken. Die Scheinwerfer kamen immer näher. Das orangefarbene Licht spiegelte sich in den Pfützen und die leichten Nebelschwaden, zwischen denen der Bus in diesem Augenblick hindurchfuhr, verliehen dem Ganzen etwas Magisches. Als befänden wir uns an der Schwelle zu einem fernen Land oder einer anderen Dimension.
Der Bus hielt an, schnaufte laut auf, wie ein Drache, der sich nach einem langen Flug kurz ausruhen musste und öffnete zischend die Türen.
„Bis morgen." Einen Fuß hatte ich bereits auf das Podest gesetzt, als Aiden sanft meinen Arm packte, mich mit einem Ruck zu sich zog und in eine Umarmung schloss. Mein Kopf lag auf seiner Schulter und ich konnte den Duft seines Aftershaves riechen. Der Stoff seiner Jacke legte sich weich an meine Wange.
Obwohl der Wind schneidend kalt war, fror ich kein Stück. Seine Arme legten sich wie eine Decke um meine Schultern und in meinem Bauch flatterten tausende Schmetterlinge aufgeregt mit ihren Flügeln. In seiner Umarmung fühlte ich mich so sicher wie nie zuvor und in diesen wenigen Sekunden, die unsere Umarmung andauerte, war ich mir sicher, dass nichts und niemand mir je Schaden zufügen würde. Solange Aiden nur in meiner Nähe war.
„Bis morgen.", flüsterte er gegen meine Haare. Sein warmer Atem streifte mein Ohr und eine Gänsehaut lief über meine Arme.
So gerne ich geblieben wäre, so gerne wollte auch der genervte Busfahrer seine Fahrt fortsetzen. Ich löste mich widerwillig von Aiden, warf einen letzten Blick auf sein ebenfalls gerötetes Gesicht und lächelte.
Die Türen schlossen sich wieder und Aiden verschmolz mit der Dunkelheit.
Ich stieß die Luft langsam aus und sank in dem weichem Polster des Sitzes zusammen, während draußen leise der Regen gegen die Scheibe trommelte, so wie mein Herz gegen meinen Brustkorb hämmerte. Die Landschaft verschwamm vor meinen Augen zu einem undurchdringlichen Aquarellgemälde und ich schloss erschöpft die Augen.
In was war ich da bloß hineingeraten?
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