16 | Das, in dem ich Prinzessin bin
Dafür, dass mich bis vor kurzem fast niemand in der Schule namentlich gekannt hatte, wurde ich in letzter Zeit ziemlich oft auf den Schulfluren begrüßt. Von Leuten, von denen ich gedacht hatte, dass sie auf ewig über mich hinwegsehen würden. Meine Existenz vielleicht überhaupt nicht bemerkten. Ich konnte nicht verhindern, dass sich dabei ein kleines und manchmal auch großes Lächeln auf meinem Gesicht abzeichnete.
Das Gefühl gesehen zu werden, war mir immer noch fremd, aber die Wärme in meinem Inneren, jedes Mal, wenn jemand das Wort bewusst an mich richtete, breitete sich immer weiter aus.
Die schöne Helena, die zwar für jeden ein nettes Wort auf den Lippen hatte, blieb sogar des Öfteren neben mir stehen, um ein oder zwei Worte mit mir zu wechseln. Es gab Gerüchte, dass sie heimlich – oder auch unheimlich – in Aiden verliebt war. Es lag also nahe, dass sie mich genauer im Auge behalten wollte.
Dieses Gerücht machte jedenfalls zurzeit die Runde. Vollkommener Quatsch. Ich konnte mir denken, wer das Gerücht in die Welt gesetzt hatte. Die Mädchen aus der siebten Klasse waren nicht besonders gut auf mich zu sprechen, auch wenn sie versuchten sich mit mir anzufreunden und freundlich zu sein. Mit dem Hintergedanken, ich würde ein gutes Wort für sie bei Aiden einlegen. Es war schließlich kein Geheimnis, dass mindestens die Hälfte der Schülerschaft für den Jungen schwärmte. Helena war von einem anderen Schlag. Sie war aufrichtig. Einer der wenigen Menschen, denen ich vertrauen würde, auch wenn ich sie kaum kannte.
Das erste Mal, war ich noch mitten in der Bewegung zu einer Eissäule erstarrt, doch mittlerweile waren unsere Gespräche so natürlich wie das Schulklingeln zur Mittagspause. Smalltalk war nicht gerade die Kategorie tiefgründiger Gespräche, aber was nicht war, konnte ja noch werden.
„Wir sehen uns Katara.", verabschiedete sie sich just in dem Augenblick, in dem ich mein Deutschbuch in mein Schließfach verfrachtete und mein Mathebuch unter einem Haufen Papier hervorzog.
„Tschüss, Helena." Ich winkte ihr gut gelaunt hinterher, beflügelt von diesem neuen warmen Gefühl in mir, das mit jedem Gespräch, jedem Lächeln stärker wurde.
Plötzlich stand auch Emma neben mir. Eine dunkle Haarsträhne, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte, strich sie mit einer geschmeidigen Bewegung hinters Ohr. Sie schaute mich schief von der Seite an und legte nachdenklich die Stirn in Falten. Das Aufeinandertreffen von Helena und mir hatte sie aus sicherer Entfernung beobachtet.
„Helena hat mit dir geredet. Schon wieder."
Es war keine Frage, sondern vielmehr eine Feststellung. Ihre Augen waren groß und voller Erstaunen. Ich nickte und ein Hauch von Euphorie huschte über mein Gesicht.
„Wahnsinn, oder? Ich dachte, jeder an der Schule würde nur über mich hinwegsehen."
„Hmm.", machte Emma.
„Außer dir natürlich." Vielleicht klang ich auch ein wenig zu euphorisch.
Ich wusste ja, dass es Aiden zu verdanken war, dass man mit mir redete, doch ich hatte das dumpfe Gefühl, dass meine beste Freundin sich ausgeschlossen fühlte. Das war das letzte, was ich wollte, deswegen legte ich einen Arm um ihre Schultern – was ich sonst nie tat – und dirigierte sie zu unserem Klassenzimmer.
„Es ist schön nicht mehr übersehen zu werden.", gab ich dennoch zu. Es war ein schönes Gefühl gesehen zu werden, auch wenn ich acht Jahre lang versucht hatte, genau das zu verhindern. Aufregend und befremdlich zugleich. Eine neue Welt, in die ich immer weiter hineingezogen wurde. Warum ich immer so bedacht darauf gewesen war ungesehen zu bleiben, war mir mehr und mehr ein Rätsel.
Emma schwieg. Ein kleines Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, aber im Inneren beschäftigte sie etwas. Das spürte ich. Wir verstanden uns auch ohne Worte. Während ich mit jedem verstrichenem Tag weiter aus dem Schatten und ins Licht gezogen wurde, blieb sie lieber im Verborgenen. Am liebsten hätte ich sie an die Hand genommen und mit mir gezogen.
Ich drückte sie ein letztes Mal beschwichtigend an mich, bevor ich den Arm wieder sinken ließ. Das Gespräch versuchte ich auf ein weniger lavabedecktes Gebiet zu führen.
„Wie läuft die Hausarbeit?"
Es war die erste Frage, die mir spontan in den Kopf schoss und ich war wirklich neugierig, welche Bilanz Emma nach einer Woche Partnerarbeit mit Marlene zog. Marlene war bekannt dafür, dass sie gerne und vor allem viel redete. So sehr, dass sie beim Arbeiten öfter mal das eigentliche Arbeiten vergaß. Stattdessen konnte sie Stunden über ein und dasselbe Thema reden, wenn sie wollte. Ohne jegliche Anzeichen von Müdigkeit zu zeigen. Ich würde sagen, die Zusammenarbeit hatte Konfliktpotenzial, auch wenn Emma sich deswegen natürlich niemals beschweren würde. Ich an ihrer Stelle würde das auch nicht.
„Eigentlich läuft es ganz gut. Marlene ist nett und sie redet gar nicht so viel, wie alle immer sagen."
„Oh, echt?"
Ich zog verwundert eine Augenbraue in die Höhe. Emma wiegte den Kopf leicht zur Seite und kniff die Augen zusammen.
„Naja, vielleicht redet sie ein bisschen zu viel. Aber das geht schon. Ich habe nur Angst, dass sie denkt, dass ich sie nicht mag, weil ich nicht so viel rede, aber... So bin ich eben."
„Und das ist auch gut so. Du bist gut so wie du bist. Und ich bin mir sicher, dass sie nicht denkt, dass du sie nicht magst. Das ist bei dir doch gar nicht möglich. Du magst jeden."
„Das stimmt."
Jetzt grinste ich doch. Emma war einfach zu gut für diese Welt. Sie verlor nie ein schlechtes Wort über jemanden, nicht einmal über die Lehrer. Sie wollte niemanden mit ihren Worten verletzen oder riskieren ein übles Gerücht in die Welt zu setzen. Das schätzte ich so sehr an ihr. Sie sah das Gute in den Menschen, auch wenn diese gute Seite versteckt war. Sie hatte sogar Malte verteidigt – natürlich nur unter uns – wenn er wieder einen seiner unzähligen Streiche gespielt hatte.
Damals hatte ich befürchtet, sie hätte sich in ihn verguckt, aber dann hatte sie mir irgendwann flüsternd und sodass selbst ich, die keinen halben Meter von ihr entfernt stand, zugeflüstert, dass sie Tom mochte.
Ausgerechnet den Jungen, der mich, seit Aidens und meinem ersten Zusammentreffen nur mit feurigen Blicken durchlöcherte. Ich konnte verstehen, was sie an ihm fand. Er war groß, sah gut aus und brachte die Menschen um ihn herum zum Lachen. Er selbst hatte ein schönes Lächeln, wenn er seine steinerne Miene einmal ablegte, was selten genug der Fall war.
„Wir müssen uns nur noch ein oder zweimal treffen und dann steht die Hausarbeit. Ich bin froh, wenn der Unterricht wieder normal weitergeht."
Emma redete unbeschwert weiter. In diesem Punkt stimmte ich ihr nicht ganz zu. Einerseits war ich auch glücklich, wenn Frau Lammer den Unterricht wieder übernahm und wir einfach still das tun konnten, was sie von uns verlangte. Andererseits genoss ich die Stunden mit Aiden viel zu sehr. Er saß zwar nun auch im Unterricht neben mir, aber ein zwangloses Gespräch zwischen hellhörigen Mitschülern, wollte ich auch nicht lostreten. Das konnte ganz schnell nach hinten losgehen.
„Und wie läuft es bei dir?", stellte Emma die Gegenfrage.
„Ich habe gedacht, dass es schwierig sein würde mit ihm zu arbeiten, weil er er ist und ich ich... naja Schwamm drüber. Ich dachte Frau Lammers kleines Experiment funktioniert nicht, aber es funktioniert überraschend gut."
Emma kicherte.
„Und wie ist er so?"
Ich verschluckte mich und prustete unbeholfen, bis Emma mir lachend auf den Rücken klopfte. Sie wusste genau, dass ich in der Mittelstufe angefangen hatte für ihn zu schwärmen. Wer, wenn nicht meine beste Freundin, wusste das.
„Du weißt, wie er ist. Er ist nett, lacht viel..." Er gibt den Menschen das Gefühl etwas Besonderes zu sein. Er hat wunderschöne Augen. Wenn er lacht, stechen seine Grübchen so hervor, dass man ihn am liebsten mit den Zeigefinger piksen wollte. Meine Gedanken bereiteten mir Angst. Vor meinem inneren Auge sah ich ihn, wie er den Kugelschreiber in seinen Händen nachdenklich kreisen ließ, bevor er einen Gedanken auf einem Blatt Papier niederschrieb. In fein säuberlicher Schreibschrift, die so auch in einem Textbuch stehen konnte. Ich sah ihn, wie er hibbelig mit dem Fuß auf den Boden trat und wie sein Blick gedankenverloren zur Uhr schweifte, nur um enttäuscht festzustellen, dass die Stunde noch nicht vorüber war. Wenn er die Augen schloss und angestrengt über eine Frage nachdachte, wirkte es so, als würde er schlafen. Sanft legten sich seine Wimpern aufeinander und gaben ein paar blau-braune Augen frei, wenn er sie wieder öffnete. Augen, die ich stundenlang betrachten könnte, ohne mich zu langweilen.
Emma schnipste mit dem Finger vor meinen Augen und ich zuckte zurück.
„Erde an Katara. Bist du wieder hier? Das sah gerade so aus, als wärst du zum Mond und wieder zurückgeflogen."
Genauso fühlte ich mich auch. Einen Augenblick lang musste ich mich orientieren, wo wir uns überhaupt befanden. Wir hatten mittlerweile unser Klassenzimmer erreicht, blieben aber vor der offenen Tür stehen.
„Ist er wirklich so toll?"
„Shh!" Meine Augen blickten hektisch durch die Gegend, auf der Suche nach einer Person, die diesen letzten Teil mitbekommen hatte, eins und eins zusammenzählte und das nächste Gerücht in die Welt setzte.
Sie lachte leise und ich fiel in ihr Lachen ein. Ich benahm mich paranoid. Das war ein guter Grund zum Lachen. Dann wurden ihre Augen jedoch groß.
„Du hast es aber schon gehört, oder?"
„Was gehört?"
„Das Gerede über... du weißt schon."
Ich seufze leise und mein Gesicht ging in Flammen auf.
„Über Aiden und mich. Ja, davon habe ich schon gehört.", raunte ich zurück.
Es war erstaunlich, wie schnell so ein belangloses Gemunkel doch die Runde machen konnte. In der einen Sekunde war alles in Ordnung und in der nächsten - Zack! Weltuntergang. Nur, weil er mich einmal nachhause begleitet hatte und etwas Zeit mit mir verbrachte, um für die Schule zu arbeiten oder weil wir uns zufällig beim Fußballspiel trafen. Manchmal hatten die Schüler und Schülerinnen einfach zu viel Fantasie. Mehr als ihnen guttat.
Ich sagte nichts weiter und Emma fragte auch nicht weiter nach. Es war wahrscheinlich das längste Gespräch, das ich jemals mit ihr geführt hatte. Marlenes Gesprächigkeit und Aidens natürliche Ausstrahlung, die jeden früher oder später zum Reden brachte, hatte ein Stück weit auf uns abgefärbt.
„Verdammt, ich muss nochmal ans Schließfach. Geh schonmal rein, ja?"
So schnell der Moment gekommen war, so schnell war er auch wieder vorbei. Emma verschwand eilig und ich setzte mich ins Klassenzimmer. Mein Magen krampfte sich plötzlich freudig und angespannt zugleich zusammen, als ich daran dachte, was nach der Schule sein würde.
Aiden und ich hatten beschlossen, dass wir heute unsere Hausarbeit fertig schreiben wollten. Bei ihm zuhause.
„Dann hat Frau Lammer auch endlich mal wieder was zu tun.", hatte Aiden mit seinem typischen Grinsen bemerkt, doch die Tatsache, dass er mich förmlich zu sich nachhause eingeladen hatte, konnte ich nicht einfach ignorieren.
Was die Klatschtanten wohl daraus machen würden?
Eigentlich sollte man deswegen keinen großen Aufstand machen, immerhin ging es um die Schule. Andererseits würden wahrscheinlich mehr als die Hälfte der Schüler einen Mord begehen, um das Haus des beliebtesten Jungen einmal von innen zu sehen. Der Hype um ihn kam mir manchmal unwirklich vor.
Solche Schwärmereien kannte ich eigentlich nur aus dem Fernsehen. Diese romantischen Teeniefilme gab es nun wirklich zuhauf. Beliebter Junge trifft auf unbeliebtes oder unscheinbares Mädchen und verliebt sich unsterblich in sie. Das war das Klischee schlechthin! Ich musste es wissen, schließlich war ich diejenige, die solche Filme rauf und runter schaute. Ich fühlte mich, als wäre ich in einer schlechten romantischen Komödie gefangen. Mit mir als das unscheinbare Mädchen, das dem unglaublich attraktiven und atemberaubenden Typen verfallen war.
Ich musste dringend etwas gegen diese Gedanken tun. Nachher würde ich noch glauben, dass diese Geschichte auch für mich ein Happy End bereithielt. Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall und ich wollte es wirklich nicht darauf ankommen lassen. Ich traute dem Braten nicht. So schnell es nach oben ging, so schnell konnte man fallen und auf dem harten Boden der Realität landen. Ich erklomm einen riesigen Berg, dessen Spitze hinter Nebelschwaden verschwand. Ich war nicht abgesichert. Wie weit es hoch ging? Ich wusste es nicht. Ein falscher Schritt, und der Traum würde ein jähes Ende nehmen. Bye bye, arrivederci und sayonara. Auf nimmer Wiedersehen.
Bis zum Schulschluss waren es noch gute zwei Stunden. Leider die unmöglichsten am ganzen Tag. Mathematik bei Herr Fries.
Laut aufatmend ließ ich meinen Kopf in den Nacken fallen und starrte an die Decke. Die Löcher der Akustikdecke sahen beinahe so aus, wie die Sterne am Himmel in einer wolkenlosen Nacht.
Mit geschlossenen Augen seufzte ich tief. Ich wünschte ich wäre wieder zuhause.
-
Er wartete bereits am Schuleingang auf mich. Mit jedem Tag wurde es nun kälter und ich zog die Jacke bis zum Kinn. Zunächst sah er mich nicht, sondern lehnte lässig an der Mauer, tippte auf seinem Handy und blendete seine Umgebung aus. Ich näherte mich vorsichtig, um ihn nicht zu erschrecken. Ich wusste, wie man sich dabei fühlte, immerhin war Aiden nicht selten der Grund dafür gewesen, dass ich mich zu Tode erschreckte.
„Hey."
„Hi." Schnell packte er das Smartphone in seiner Tasche und grinste breit, sodass seine Grübchen hervortraten.
„Komm. Gehen wir. Ich bin heute ausnahmsweise mit dem Auto da. Der Weg wird also nicht so lange dauern, als wenn wir laufen müssten."
Er legte eine Hand auf meinen Rücken und schickte mit seiner Berührung tausende kleine Schauer über meinen Körper. Er interpretierte das Zittern prompt vollkommen falsch.
„Ist dir kalt? Warte." Er zog seinen Schal von seinen Schultern und legte ihn um meine. Auch das war eines der größten Klischees, die ich kannte. Leider eines, das mein Herz unwillkürlich zum Schmelzen brachte. Auf die Idee, dass das Zittern von seiner Anwesenheit herrührte, kam er nicht. Natürlich nicht.
Ich dachte sofort daran, wie dieser Wechsel von Kleidungsstücken wohl auf unsere Mitschüler wirken mochte. Ich hatte das Gefühl, dass solche Situationen demnächst öfter vorkommen würden, und ich nahm mir vor die Meinungen der anderen zu ignorieren. Der Plan würde gnadenlos scheitern, denn ich machte mir grundsätzlich zu viele Sorgen.
Sein Auto parkte in der Nähe der Schule auf dem Parkplatz eines Supermarktes. Die meisten Schüler, die einen eigenen Wagen hatte, stellten ihre Autos dort ab, auch wenn sich der Besitzer bereits bei der Schulleitung deswegen beschwert hatte. Viel Andrang gab es bei dem Laden ohnehin nicht. An unserer Schule jedoch herrschte ein großer Mangel an Stellplätzen. Der Standort war einfach nicht dafür gemacht, große Menschenmengen aufzunehmen und einen anständigen Parkplatz zu garantieren. Die Lehrer hatten selbstverständlich einen eigenen Parkplatz, kaum 10m vom Schuleingang entfernt. Die Schüler mussten also auf solche Alternativen zurückgreifen. Auch, wenn das bedeutete, dass sie mehrmals am Tag in den Pausen zu ihren Autos zurückkehren und die Parkscheibe neu einstellen mussten.
Manchmal wurden wenige Schüler der Mittelstufe dazu auserkoren zu den Autos der Älteren zu flitzen, die Parkscheiben umzustellen und vor dem Klingeln zur nächsten Stunde wieder zurück zu sein. Es wurden regelrechte Rennen veranstaltet. Und der erste, der es erfolgreich zurückschaffte, bekam die Heimfahrt am Ende des Tages spendiert, deswegen war die Teilnahme so begehrt.
Der Parkplatz war etwa 500 Meter entfernt und der kurze Abschnitt enthielt keine Straßenkreuzungen, was so ein Rennen unwillkürlich gefährlich machen würde.
Stattdessen rannten die Auserwählten schnurstracks über den Gehweg bis zum Parkplatz, um ihre Mission zu erfüllen. Um es spannender zu machen, wer das Rennen machte, wurde nie verraten, wo genau das jeweilige Auto parkte.
Zwischen zahlreichen blinkenden Autos das richtige auszumachen, war nicht immer leicht. Erst recht nicht, wenn es sich bei den meisten Exemplaren um einen Mercedes handelte. In der Hinsicht hatten meine Mitschüler, oder besser gesagt ihre Väter, den gleichen Geschmack. Aiden schaute bei diesen Rennen immer nur zu und ich musste mir selbst eingestehen, dass ich keine Ahnung hatte, was für ein Auto er fuhr. Ich ging davon aus, dass auch er einen Mercedes besaß. Ein paar der Exemplare standen auch jetzt noch vor dem Supermarkt, der nicht besonders kundenfreundlich nur spärlich beleuchtet war.
Aiden öffnete sein Fahrzeug bereits aus der Ferne und die Scheinwerfer blinkten kurz auf. An der Stelle wäre ich am liebsten auf dem Absatz umgedreht und davongelaufen. Nicht, weil ich Angst hatte mit ihm mitzufahren, sondern aus ganz anderen Gründen. Meine Schüchternheit ihm gegenüber hatte ich teilweise ablegen können und ich war dankbar dafür, dass ich mich auch einmal normal mit ihm unterhalten konnte. Situationen wie zuvor, in denen er mir seinen Schal gab, damit ich nicht fror, machten es mir wiederum schwierig das Herzklopfen zu unterdrücken.
Der Grund, warum ich so schnell wie möglich umkehren wollte, waren wieder einmal meine eigenen Gedankengänge. Denn das Auto, vor dem wir nun stehen blieben und dessen Kofferraum er aufmachte, damit wir unsere Taschen darin verstauen konnten, war ein Ford Mustang. Ein weißer Oldtimer mit zwei schwarzen Rallye-Streifen auf der Haube.
Ich hätte niemals gedacht, dass ich meiner Vorstellung zusammen mit meinem Traumprinzen auf einem Ross in den Sonnenuntergang reiten würde, so nah kommen würde. Wie eine Prinzessin. Innerlich versuchte ich meine Gedanken zu stoppen, aber es war bereits zu spät. Meine Wangen glühten.
„Ist was?" Aidens Blick wechselte von mir zu seinem Wagen und wieder zurück.
„Ich weiß, es sieht so aus wie eine alte Klapperkiste, aber es ist wirklich sicher. Ich fahre gut und meistens auch nicht schneller als erlaubt, Ehrenwort.", versuchte er mich aufzumuntern und fuhr mit der Hand über das schnittige Dach. Ich legte meine Hand ebenfalls auf das kühle Dach.
„Das ist es nicht." Ich schüttelte den Kopf.
„Und was ist es dann?"
Ich machte eine ausschweifende Geste.
„Das ist ein Ford Mustang."
„Erst bist du Fußballprofi und jetzt auch noch Automobilfachfrau?" Seine Zähne blitzen im Licht der tiefstehenden Sonne und ich fragte mich unweigerlich, was für eine Zahnpasta er benutzte, um so weiße Zähne zu haben.
Er öffnete die Fahrertür und ich sprang schnell auf die andere Seite. Ich glitt auf den Beifahrersitz und der unverkennbare Duft nach Leder umfing mich.
Das feine schwarze Leder fühlte sich weich und warm an unter meinen Fingern und ich setzte mich augenblicklich aufrecht hin. Aiden sagte zwar, dass das Auto eine „alte Klapperkiste" war, aber glauben konnte ich es ihm nicht. Es steckte sehr viel Arbeit in diesem Auto. Sogar ein Duftbaum baumelte vom Rückspiegel. Duftmarke Neuwagen. Wie passend.
„Achtung, jetzt wird es etwas laut.", warnte Aiden und drehte den Schlüssel um. Der Motor röhrte auf und hätte er mich nicht vorgewarnt wäre ich tatsächlich zusammengezuckt. So leuchteten meine Augen vor Aufregung. Ich spürte jede Vibration des Wagens unter mir. Meine Begeisterung ließ sich kaum noch unterdrücken.
Ich bekam nicht einmal mit, wo genau wie herfuhren. Ich hatte einzig und allein Augen für den Wagen, die zahlreichen Knöpfe und Aidens Hand, die in den nächsten Gang schaltete. Der Wagen beschleunigte mit einem Ruck und ich sog scharf die Luft ein.
Aiden lachte schallend.
„Tut mir leid. Tut mir leid. Ich wollte nur sehen, wie du darauf reagierst."
Die Beschleunigung hatte mich in den Sitz gedrückt und meine rechte Hand war automatisch zu dem Handgriff über mir geschossen.
„Paul fährt auch immer zu schnell.", versuchte ich meine Reaktion zu erklären.
„Oh, ich fahre nicht zu schnell. Ich fahre so wie es sich gehört."
„Das hat sich eben aber anders angehört."
„Na gut. Meistens fahre ich so wie es sich gehört. Es gibt Ausnahmen."
„Um mich zu erschrecken?"
„Ja, vielleicht." Das Grinsen wurde breiter. Er warf mir einen kurzen Blick zu und richtete den Blick wieder auf die Straße. Meine Hände hatte ich mittlerweile wieder in meinem Schoß gefaltet.
„Wie verstehst du dich eigentlich so mit Paul?", fragte er plötzlich gespannt.
„Es ist mein Bruder." Ich zuckte mit den Schultern.
„Er redet nicht viel über seine Familie."
„Es gibt nicht viel zu erzählen. Mom, Paul und ich leben allein. Wir haben kaum Kontakt zu unseren Verwandten. Die meisten sind sowieso zu weit entfernt mit uns verwandt, dass ich mir nicht einmal sicher bin, ob sie über uns Bescheid wissen."
„Ich hab eine große Familie. Aber von den meisten kenne ich nicht einmal die Namen. Ich schätze das ist nicht besser."
Ich biss mir verstohlen auf die Lippe. Da wir schon beim Thema Familie waren, konnte ich es wagen ihn nach seiner Schwester zu fragen? Ich schluckte meine Angst herunter und unternahm einen zaghaften Versuch.
„Hast du Geschwister?"
Seiner Reaktion nach zu urteilen, hatte ich ihn mit dieser Frage einen mächtigen Hieb versetzt. Er versuchte es zu verbergen, aber ich sah trotzdem, wie sein Kiefer mahlte.
„Ich habe eine Schwester.", brachte er dennoch hervor. Sein plötzlich kalter Tonfall sagte mir, dass das alles war, was ich je darüber erfahren würde. Das Thema war für ihn beendet. Für mich war das gerade erst der Anfang. Meine Neugier sprach nicht gerade für mich.
„Wir sind da." Aiden war es sicher lieb, wenn ich weitere Fragen über seine Schwester für mich behielt. Unsere Ankunft bei ihm zuhause war der perfekte Ausweg meine Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken. Es funktionierte perfekt.
Ich wandte den Blick ab und warf ihn auf das Haus, dessen Einfahrt wir soeben ansteuerten. Mein Mund klappte auf.
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